19 - Die Entscheidung des Drachen
Verlorene Hoffnung
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Kapitel 19
Das kleine Stück Papier lag federleicht in Vins Händen, doch sie hatte das Gefühl, eine Last zu tragen, der sie nicht gerecht werden konnte.
In ihrem Kopf malte sie sich hundert Szenarios aus, was sein würde, wenn sie sich auf die Suche begab. Vielleicht befand sich Atlas gar nicht mehr auf dieser Insel, die sie gesehen hatte und deren Verortung sie gerade in der Hand hielt und sie würde ihn nicht finden, nicht auf jener Insel und auch nicht auf einer der umliegenden. Sie würde dann nicht wissen, wo sie weitersuchen müsste. Oder aber sie fand ihn dort, nachdem sie das Meer überquert haben würde. Und es bereitete ihr fast noch mehr Angst, was sie dort erwarten würde, als dass sie ihn gar nicht erst fand. Was, wenn Atlas krank war, verwundet, und den Heimweg nicht antreten konnte? Wenn er sie nicht hatte sehen wollen und wütend wurde, weil sie ihn aufgesucht hatte? Oder was - Vin stand da wie erstarrt, die Bücher und die Luft nach Papier noch um sie herum - wenn sie dort ankäme und es sie innerlich zerbrechen würde, dass Atlas und sie nicht mehr das hatten, was sie einst verband. Vin war sicher, dass es sie innerlich zerbrechen würde und sie wusste nicht, ob sie dann noch die Kraft und den Mut finden würde, sich auf den Rückweg zu begeben.
»Alles in Ordnung bei dir?« Eine Stimme holte sie von ihren Reisen über Wasser und auf Feuergestein zurück. Jerdan war von seinem Schemel aufgestanden und blickte auf sie hinab.
Vin nickte schnell, setzte ein schmales Lächeln auf. Wie konnte alles in Ordnung sein, wenn sie nun gezwungen war, sich dem zu stellen, was ihr wochenlang innerliche Unruhe bereitet hatte?
»Vielleicht reicht es für heute. Gönn dir doch ein wenig Ruhe und wir können morgen überlegen, wie du weiter vorgehen kannst«, schlug Jerdan versöhnlich vor. Vin wusste nicht, wie spät es war. Hier zwischen den Regalreihen und Büchern im schwachen Kerzenschein konnte unendlich viel Zeit vergangen sein oder auch nur wenige Minuten.
»Nein«, erwiderte sie. »Es gibt da noch etwas, was ich jetzt tun muss.«
Mit diesen Worten stand die ehemalige Drachenreiterin auf und stieß dabei gegen den Tisch. Kurz war sie versucht, zu fluchen, doch es war nur Holz, das ihr keinen Schaden wollte. Eines der Bücher kippte dabei um und auch das Gestell mit der Scheibe, die Vin zuvor immer mal wieder aus den Augenwinkeln gemustert hatte. Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber ein kleiner Schauer überkam sie.
Kurzerhand wandte Vin sich um und lief los. Sie hatte einen Plan. Einen Plan, den sie nicht wirklich durchgedacht hatte und der innerhalb von nur wenigen Sekunden gereift war.
»Was hast du vor?«, fragte Jerdan sie, der Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten. Zwar war er größer als sie und besaß längere Beine, doch er war auch älter als sie. Vin hatte es bisher nur gehört und war froh, dass sie noch verschont davon war, doch irgendwann würden auch ihre Muskeln müder werden und ihre Bewegungen langsamer. Dabei war Jerdan noch nicht so alt. Vin schätzte, dass er vielleicht zehn Sommer älter als sie war. Aber sie wusste es natürlich nicht. Die Einsamkeit und den Frust, den er erlebt hatte, ließen seine Augen älter erscheinen.
»Das, was ich schon längst hätte tun sollen. Den Platz einnehmen, der für mich bestimmt ist«, sagte Vin laut, damit ihre Worte über ihre hektischen Schritte hinweg zu verstehen waren.
Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, schon zu viel Zeit verschwendet zu haben. Sie hatte gezögert, bis sie zu Drachenfeste aufgebrochen war, dort hatte sie dann einige Tage damit verbracht, den Drachenseelen zu misstrauen. Sie hätte schon viel früher erkennen können, dass sie auch ohne Atlas zurechtkam und den Entschluss fassen können, ihn trotzdem zu suchen.
Da Vin nicht genau wusste, wo sich die Drachenseelen befanden, entschloss sie sich kurzerhand dazu, einfach im Drachensaal nachzusehen. Dort war die Wahrscheinlichkeit wohl am höchsten. Sollten sie dort nicht sein, konnte Vin immer noch Jerdan um Rat fragen oder versuchen, mithilfe ihrer Magie die ehemaligen Drachenreiter zu orten. Aber da wollte sie sich nicht unbedingt drauf verlassen. Nicht, wenn sie schon so oft verzweifelt war, weil ihre Magie nie das tat, was sie wollte.
»Bist du sicher?«, fragte Jerdan, der zu ihr aufgeschlossen war. »Hast du dir das gut überlegt?«
Er war derjenige, der ihr zu Anfang gesagt hatte, sie musste nichts tun, was sie nicht wollte. Die Drachenseelen könnten sie zu nichts zwingen. Witzigerweise stellte Vin aber fest, dass sie genau das wollte. Anders würde sie nie vorankommen und das Elend, in dem sie sich suhlte, nur noch verschlimmern.
»Nein«, meinte Vin ehrlich. »Aber es ist der einzige Weg.«
»Ich verstehe nicht recht. Die ganze Zeit wolltest du nicht hier sein und nun willst du doch? Und nicht nach deinem Drachen suchen, bevor du so eine Entscheidung triffst?«
»Ich bin auch alleine in der Lage, fundierte Entscheidungen treffen zu können, danke!«, gab Vin lauter zurück, als sie eigentlich geplant hatte. »Nur weil mein Drache sich dazu entschlossen hat, mich im Stich zu lassen, verschließe ich mich doch nicht vor dem, was ich erreichen und tatsächlich haben kann.«
Und mit diesen Worten stürmte sie um die Ecke und konnte neben sich schon die hohen, breiten Arkaden sehen, die genug Platz boten, dass ein kleiner Drache hindurchschlüpfen konnte. Ob Atlas dort hindurchgepasst hätte? Fraglich. Auf jeden Fall aber durch die größte der Arkaden in der Mitte, bei der es Vin so vorkam, als würde sie bis zum Himmel empor reichen. Sie wusste auf jeden Fall, dass diese Halle so hoch waren wie die Türme. Sie hatte auf einem dieser gesessen, konnte aber nicht komplett die Welt um sie herum anblicken, weil der Drachensaal mit seiner hohen Decke im Weg gewesen war. Und Atlas - wenn er nicht um das Doppelte seiner ursprünglichen Größe gewachsen war - reichte nie im Leben so hoch, wie der Turm war. Da war Vin sich sicher, auch wenn sie ihn nun Ewigkeiten nicht gesehen hatte.
Sie fand die Drachenseelen tatsächlich in dem Saal vor, doch sie saßen nicht auf ihren Thronen, sondern hatten sich um einen runden Tisch am anderen Ende der Halle versammelt. Sie beugten sich darüber und schienen sich leise zu unterhalten, doch Vin konnte vom Eingang aus nichts verstehen.
Auch wenn die ehemalige Drachenreiterin vor dem Abendessen noch überlegt hatte, vielleicht das Gewand aus dem Turm anzuziehen, hatte sie sich dagegen entschieden und die Kleidung angelegt, die sie von Leana bekommen hatte. In letzter Zeit hatte sie diese nicht mehr angeguckt, weil sie sie zu sehr an ihre Zeit mit Atlas erinnert hatte und sie war froh gewesen, dass sie ablegen konnte, den dicken Stoff, die Erinnerungen und den Schmerz, der mit ihnen kam. Zumindest für einige wenige, kostbare Augenblicke. Jetzt jedoch freute sie sich über ihre Entscheidung. Die Stiefel, deren Absätze auf den Boden donnerten und die Drachenseelen dazu brachten, auseinanderzufahren, gaben Vin ein Gefühl von Stärke. Stärke, das zu schaffen, was sie sich vor nicht allzu langer Zeit überlegt hatte.
Schnell näherte sie sich ihnen, auch wenn sie sich nicht die Mühe gab, sich sonderlich zu beeilen. Das hätte nur den Eindruck erweckt, als fühle sie sich außen vor gelassen bei dem, was auch immer die Drachenseelen bis eben besprochen hatten.
Vin war nicht mehr auf dem Turm erschienen, seit ihr der Jungdrache genommen worden war und sie fragte sich, ob Callea das wohl verstanden hatte oder ob sie ihr deswegen zürnte.
»Was geht hier vor?«, verlangte sie zu wissen und sie war überrascht, wie fest und kühl ihre Stimme klang. Das kannte sie kaum von sich. In den Zeiten langer Dürre, in denen sie mit ihren Eltern auf dem Feld gearbeitet hatte, war ihr Mund oft trocken gewesen und ihre Stimme brüchig.
Callea trat nach vorne. »Wir hatten etwas zu besprechen.« Ihr Blick flackerte dabei kurz zu dem Jungdrachen, der noch immer auf Vins Schulter hockte, doch Vin entging er nicht. Wahrscheinlich hatten sie überlegt, wie sie nun verfahren würden, da sie wussten, dass es noch einen Drachen gab.
»Was immer es ist, das ihr zu besprechen habt, tut dies in Zukunft in meiner Anwesenheit«, erwiderte Vin und verbot sich selbst, kurz zu Jerdan zu sehen. Er war derjenige, der diesen Plan in ihre Gedanken gepflanzt hatte.
»Ich bin schließlich diejenige, die ab heute die Führung übernimmt.«
Da. Raus waren die Worte, die Vins Plan entfacht hatten. Sie wollte nach Atlas suchen, sie wollte es so sehr, seit sie nun genau wusste, wo er sich befand. Doch sie wusste auch, dass wenn sie Drachenfeste nun verlassen würde und vielleicht nicht nur einige Tage, sondern mehrere Wochen - mindestens - fortbleiben würde, dass die Möglichkeit bestand, dass jemand anderes ihr den Posten streitig machte. Nun, da sie wusste, dass es noch weitere Drachengeborene gab und die anderen wussten, dass es noch einen Drachen gab, war sie nicht länger die einzige Anwärterin. Sie wollte nicht, dass der Platz vergeben wurde an jemand anderen. Sie hatte die Position zwar auch nicht unbedingt gewollt, aber sie hatte realisiert, dass sich an der Meinung der Menschen gegenüber der Drachen und dem Verhalten der Drachenseelen nichts ändern würde, wenn sie die Geschehnisse weiterhin regunglos an sich vorbeiziehen ließ.
Endlich wagte sie einen kurzen Blick zu Jerdan. War das ein Funke Stolz, den sie in seinen Augen erkennen konnte?
»So einfach ist das nicht.«
Die Worte Perilyx' brachten sie dazu, ihren Blick wieder auf die Drachenseelen zu richten. Was? Was konnte denn dagegen sprechen? Dabei waren doch gerade sie diejenigen gewesen, die ihr ebendies vorgeschlagen hatten, ja, sie sogar mehrmals dazu befragt hatten, ehe sie schließlich nachgegeben hatte.
Vin verschränkte nur ihre Arme und es war ihr egal, wie sie so auf die anderen wirken musste. Es fühlte sich an, als wäre ihr etwas genommen worden. Etwas, das nie ihr gehört hatte.
»Du bist nun nicht mehr die einzige Anwärterin. Es wäre doch nur fair, wenn Asten und Hidre auch eine Chance bekommen, sich zu beweisen«, sprach Callea und in Vins Ohren begann es, leise zu rauschen. Schweiß sammelte sich in ihren Armbeugen, an ihrem Nacken. Sie hatte Angst vor den Worten, die folgen würden.
»In Vergangenheit war dies bereits der Fall. Mehrere Anwärter, nur einer, der Anführer werden konnte. Dann wurde immer ein Turnier abgehalten, in dem die Drachenreiter sich in einem Kräftemessen begegneten, ohne ihre Drachen, damit jenen ohne Verbindung kein Nachteil entstand«, führte Callea weiter aus.
Durch Vins Kopf schossen tausende Fragen. Würde sie das Turnier ohne den Drachen bewältigen müssen? Sie wusste nicht, ob sie das konnte. Und warum konnten Drachengeborene Teil des Turniers sein, wenn sie keinen Drachen besaßen? Die Anführer der Drachen der letzten Jahrhunderte waren immer Drachenreiter gewesen, hatten sich auf ihren Drachen durch die Lüfte geschwungen und die Drachenreiter waren ihnen gefolgt.
»Aber ich verstehe nicht recht... eigentlich habe ich den Posten doch schon so gut wie inne?« Vin wusste nicht recht, was sie fragen wollte. Sie wollte nur nicht da stehen, während ihre Kinnlade hinabhing, und nichts sagen. Am Ende würde sie sich nur selbst ärgern, dass sie nichts unternommen hatte.
»Wenn wir eine Sache in den letzten Monaten gelernt haben, dann ist es, dass wir uns anpassen müssen«, sagte Callea. »Nun, da wir wissen, dass auch unsere Drachengeborenen ebenso das Anrecht haben, müssen einige Änderungen vorgenommen werden. Aber das heißt auch, dass wir dir noch eine Chance geben. Du hast uns zwar angelogen, aber gewinnst du beim Turnier, sind wir bereit, dir zu vergeben.«
Nein, wie gnädig, dachte Vin sich, doch sie hielt sich im letzten Moment zurück, Callea diese Worte entgegenzuspeien.
Also nickte sie nur, alle Worte wirkten wie von einer mächtigen Welle weggespült. Vin stand da wie erstarrt und ihr Blick verlor sich auf den Linien in dem Drachensaal, bis sie keine Muster und abgebildeten Drachen mehr erkennen konnte. Sie hatte das Meer geliebt und Atlas hatte es ihr ermöglicht, es zum ersten Mal zu sehen. Doch er war weg und es war, als erhoben sich ihre Erinnerungen gegen sie. Wie sollte sie das Turnier gewinnen, wenn Atlas nicht da war? Das warf ihren ganzen Plan durcheinander! Sie hatte erst gedacht, dass sie das Turnier in baldiger Zukunft, aber nicht allzu bald, ansetzen konnte, sie mit Atlas rechtzeitig zurückkehrte, dieses lächerliche Turnier mit links erledigen würde und dann endlich ihre Ruhe haben würde. Doch sie musste ohne Atlas antreten, auch wenn sie jetzt mehr denn je seine Stärke hätte gebrauchen können.
»Aber nur...«, begann Vin nach einer Ewigkeit dann. Die Drachenseelen sollten auf gar keinen Fall denken, dass sie sie mit dem Turnier unvorbereitet erwischten oder dass sie sich in eine Lage bringen würde, in der sie keine Kontrolle mehr hatte, was entschieden wurde. »...wenn auch Jerdan eine Chance erhält. Auch er ist ein Drachengeborener und hat dasselbe Anrecht wie Asten und Hidre.«
Calleas Einverständnis bekam sie nur am Rande mit, denn es ertönten laute Schritte. Asten - der Drachengeborene, gegen den sie bei dem Turnier antreten sollte - war schnell angelaufen gekommen und verkündete nun, was nach nur wenigen Sekunden sowieso zu hören war.
Fanfaren in der Ferne, die Gesänge vieler Menschen. »Wir bekommen Besuch.«
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Im nächsten Kapitel treffen wir dann jemanden, den ihr schon aus Band 1 kennt - irgendwelche Vermutungen, um wen es sich dabei handeln könnte?
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