
15 - Die Diebe des Drachen
Verlorene Hoffnung
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Kapitel 15
Weg. Der Drache war verschwunden.
Vin brach nicht zusammen und sie fiel nicht auf die Knie, aber sie merkte, wie sich Panik wie eine eiserne Fessel um ihr Herz klammerte.
Sie stand da, hatte ihren Raum gerade betreten, wusste aber nicht, was sie jetzt tun sollte. So schnell war sie hergeeilt, weil sie gespürt hatte, dass etwas passiert war. Und jetzt, da sie wusste, was passiert war und dass der Jungdrache dort war, fühlte sie nicht mehr die Eile oder Dringlichkeit, zu handeln. Vor allem aber fühlte sie sich mit einem Mal leer und ausgelaugt. Sie hatte den Drachen verloren. Den zweiten nun schon.
Und wie sollte sie nach dem Jungdrachen suchen, wenn sie auch noch nach einem Jahrhunderte alten Drachen suchen musste? Sie konnte es unmöglich stemmen, beide zu suchen, das war ihr klar. War jetzt der Punkt gekommen, da sie sich zwischen den beiden entscheiden musste? Vin wusste nicht, ob sie diese Entscheidung treffen konnte oder wollte.
»Ich hätte es wissen müssen«, zischte Jerdan, der sich nun auch in dem Zimmer umgesehen hatte.
»Was?« Vin fragte abwesend nach, weil sie seine Worte noch gar nicht richtig vernommen hatte. Erst einige Sekunden später, als sie in die Gegenwart zurückkehrte und aus den Worten einen Satz bildete, traf es sie.
»Was?«, fragte sie erneut, lauter diesmal.
Hatte Jerdan gewusst, geahnt, dass dies passieren würde? Falls ja, warum hatte er sie nicht gewarnt? Vin hatte eigentlich das Gefühl gehabt, dass sie in ihm einen Verbündeten gefunden hatte. Sie trat instinktiv einen Schritt von ihm weg.
»Du hast es gewusst!«, sagte sie, als sich die Teile in ihrem Kopf sich langsam zusammenfügten. »Deshalb hast du dich mit den Drachenseelen gestritten.«
Asteria hatte es ihr erzählt. Die Drachenseelen hätten sich versammelt und Jerdan wäre dann dazugekommen und sie hätten miteinander gestritten. Dann wäre Jerdan gegangen und die Drachenseelen wären durch eine verborgene Tür im Drachensaal gegangen. Dort mussten sie sein. Dort musste der Jungdrache sein.
Jerdan öffnete seinen Mund, doch Vin fuhr dazwischen. »Vergiss es. Ich will es nicht hören! Das hier ist alles zum Teil auch deine Schuld«, sagte sie. Zum Schreien fehlte ihr die Kraft. Sie hatte sich auf dem Weg hierher so sehr verausgabt, dass sie sich am liebsten in einem der Betten zusammengerollt hätte.
»Ich habe dir vertraut.«
»Es tut mir leid, Vin.« Jerdan wirkte ehrlich betroffen. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Wirklich.«
»Vinley für dich«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie fühlte sie schlecht, weil sie ihm so schnell vertraut hatte. Zu schnell. Ihr verräterisches Herz hatte sich an den erstbesten geklammert, der nett zu ihr gewesen war, weil es sich noch immer zu einsam fühlte, solange Atlas fortblieb.
»Bitte, Vin-«
Doch Vin wollte nichts davon hören. Sie sammelte ihre letzte Energie zusammen und verließ den Raum. Von sich selbst überrascht, dass sie doch noch so schnell unterwegs war und nicht zusammenbrach, erhöhte sie ihr Tempo mehr und mehr, bis sie schließlich zum Laufen überging. Die Sekunden schienen an ihr vorbeizuziehen wie aufwirbelnder Sand, viel zu viele rieselten in einem fort und machten ihr unaufhörlich klar, dass sie zu spät kommen könnte.
Am Rande bekam das Mädchen mit, dass Jerdan ihr folgte, wandte sich jedoch nicht zu ihm um.
Vin spürte ihre Beine, schmerzend und pochend vor Anstrengung und vom vielen Laufen, und sie stieß einen Laut der Frustation von sich, der schließlich darin resultierte, dass sie zugleich brüllte und schrie. Ihr war egal, was Jerdan von ihr denken mochte. Warum musste alles schiefgehen? In ihrer Heimat war sie unwillkommen, Atlas war fort und auch hier wollte nichts so klappen, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Sie wünschte sich, Atlas hätte seine Sturzlandung nie auf ihrem Acker hingelegt. Er hätte sich ein anderes Haus, eine andere Person suchen können und für sie, Vin, wäre alles einfacher gewesen.
Die Gänge waren nur spärlich beleuchtet, als Vin sie entlanglief und beim Drachensaal ankam. Ohne anzuhalten stürmte sie durch die Arkaden und blieb dann in der Mitte des Raumes stehen, dieses Mal nahm sie sich allerdings nicht die Zeit, um die Zeichnungen der Drachen an Decke und Boden zu bewundern. Ihr Blick schweifte über die Wände und die Steintreppen, an den riesigen, wie Throne anmutenden, Stühlen vorbei und suchte nach der Geheimtür, von der Asteria ihr erzählt hatte. Verärgert ballte sie die Hände zu Fäusten. Warum hatte sie das jüngere Mädchen nicht gebeten, ihr zu zeigen, wo sich diese geheime Tür befand?
Jerdan betrat soeben den Drachensaal, leicht außer Atem. War sie vielleicht doch nicht so langsam gelaufen, wie sie gedacht hatte und war es noch möglich für sie, den Jungdrachen rechtzeitig zu finden und vor Übel zu bewahren?
Vin schloss ihre Augen und versuchte, sich einzig und allein auf ihr Gefühl zu verlassen. Als sie auf dem Turm gewesen war, hatte sie gespürt, dass der Drache fortgetragen worden war. Sie müsste ihn auch jetzt wieder spüren können, doch sie wusste, dafür müsste sie sich konzentrieren. Konzentration und Ruhe waren jedoch zwei Sachen, die sie gerade am allerwenigsten aufbringen konnte.
»Dort«, sprach Jerdan und Vin drehte sich zu ihm herum, folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Finger. Der Stuhl, der vom Eingang aus geradeaus stand und einzeln war, nicht wie alle anderen in Reihe und nebeneinander, berührte fast die Wand hinter ihm, doch als Vin dorthin eilte, erkannte sie, dass es keine Wand war. Zumindest nicht wirklich. Und der Stuhl stand auch nicht fest auf dem Boden, wie sich herausstellte. Vin hätte ihn jedoch nicht einfach so verschieben können.
Jerdan hatte seine Hände erhoben und goldene Stränge aus Licht wanden sich um seine Unterarme. Es sah so einfach bei ihm aus, als er seine Hände zur Seite drehte und der Stuhl sich über den Boden zu bewegen begann. Für Vin jedoch undenkbar. Früher hatte sie das gekonnt. Dann war ihr ihre Magie genommen worden und jetzt war sie zurückgekehrt, doch sie waren nur verblichene Geister dessen, was sie einst gewesen ist.
Hinter dem Stuhl war eine verzierte Wand zum Vorschein gekommen und es bedurfte nur einer kleinen Handbewegung von Jerdan und Stein wurde zu fließendem Stoff, der zur Seite glitt und einen Durchgang freigab.
Vin stürmte hindurch, bemerkte aber noch, wie Jerdan für einen Moment wie zur Salzsäule erstarrt wirkte, ehe er ihr folgte.
»Was geht hier vor?«, rief sie, als sie die versammelten Drachenseelen in dem Raum erblickte. Den Jungdrachen konnte sie im Moment nicht sehen, doch sie ging davon aus, dass er hier in diesem Raum war. Sie konnte seine Präsenz spüren.
Die Drachenseelen fuhren auseinander, als hätten sie wirklich nicht gemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte. Vin glaubte den Ausdrücken auf ihren Gesichtern jedoch nicht mehr.
Wer ein Mal log, der log auch ein zweites und noch ein weiteres Mal, bis man seine Lügen wie eine Maske tragen konnte, die genau aussah wie das eigene Gesicht.
Und dann sah sie ihn, blickte in seine großen, goldenen Augen. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie noch kommen würde. Er dachte, sie hätte ihn nun endgültig aufgegeben. Das konnte sie ihm ansehen. Sie kannte ihn zu gut, als dass er es vor ihr verbergen konnte.
Der Jungdrache war in der Mitte eines Kreises aus Drachenseelen und es schien, als wäre ihm nicht wehgetan worden. Tatsächlich wirkte es eher so, als hätten sie ihn nur von allen Seiten betrachtet. Vin jedoch wusste es besser. Sie spürte die Überreste der Magie und fragte sich, was der kleine Drache hatte durchleben müssen.
Vin stürmte in die Mitte des Kreises und ließ sich auf die Knie fallen. Dann streckte sie ihre Arme nach dem Jungdrachen aus und hoffte, dass er dieses Mal nicht vor ihr zurückzucken würde. Er tat es nicht. Irgendwann würden sie vielleicht noch einmal ein großartiges Team werden, dachte Vin, vielleicht eines Tages, sollte Atlas nicht zurückkehren und sie sich einander verzeihen können.
Sie stand wieder auf und drehte sich zu den Drachenseelen um, die ihren Kreis nun aufgelöst hatten.
Der Jungdrache wand sich um ihren Nacken und ihre Arme und platzierte seine Flügel auf ihrer Brust und ihrem Rücken. Es wirkte ein wenig so, als wollte er sie beschützen statt sie ihn.
Um Vins Hände hatten sich goldene Funken gebildet, die sich langsam über ihre Arme und ihren Körper ausbreiteten. Die Schutzhülle, die wie eine Rüstung auf ihrer Haut lag. Sie hatte nicht gewusst, dass sie das noch konnte. Magie war so viel weiser, als sie es war und funktionierte so instinktiv, dass Vin sich für einen Moment fragte, ob sie überhaupt jemals in der Lage sein würde, sie zu kontrollieren.
Perilyx trat auf sie zu und brachte Vin dazu, zwei Schritte zurückzutreten. Der alte Mann blieb daraufhin stehen. »Es war grausam von dir, ihn uns vorzuenthalten.«
»Er gehört mir. Ich habe ihn gefunden und aufgezogen!«, rief Vin erbost. »Ihr habt kein Anrecht auf ihn. Ihr hattet eure Drachen.«
»Du hast auch deinen Drachen und er ist sogar noch am Leben«, erwiderte Callea ruhig. Es wirkte, als versuchte sie, die Situation ein wenig aufzulockern, doch sie scheiterte kläglich.
»Wir wissen nicht, wer er ist und was er kann und macht. Die Drachen haben Jahrtausende gelebt. Für uns alle ist diese Situation neu. Wir wollten nur ein wenig sehen, wie er so ist. Ob es für ihn wie bei den anderen möglich ist, eine Verbindung mit einem Drachengeborenen einzugehen.«
Diese Stimme gehört einem Mädchen, das aus der Menge hervortrat. Sie musste einige Jahre älter als sie sein, doch nicht allzu viele. Vin hatte sie noch nie zuvor gesehen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie alle Drachenseelen bei ihrer Ankunft in der Festung kennengelernt hatte, doch sie musste sich irren. Unter den ihr Gegenüberstehenden konnte sie viele Gesichter entdecken, die sie bisher noch nicht gesehen hatte. Plötzlich fragte Vin sich, wie dies vor ihr verheimlicht hatte werden können. Sie hatte ihre Sinne ausgestreckt nach allen pulsierenden Wesen in diesen alten Mauern, hatte die Herzschläge so laut gehört, als wären sie direkt neben ihr. Und dennoch war ihr scheinbar nicht alles aufgefallen.
Wie viel ging in dieser Festung noch vor sich, von dem sie nichts wusste?
Es hatte zehn Drachen gegeben. Nie mehr und auch nie weniger. Sieben Drachenseelen waren hier an diesem Ort, an Mirnen und Devran wollte sie lieber nicht denken. Sayra hatte nicht überlebt. War dieses Mädchen dann also eine Drachengeborene, wenn sie nicht zu den Drachenseelen gehörte? Falls ja, warum war es den Drachenseelen so wichtig, dass sie, Vin, jene Drachengeborenen, die es noch gab, aufspürte?
»Ich weiß nicht, ob er jemanden von euch wählen kann. Oder mich. Aber ich wollte warten. Er ist gerade mal einige Monate alt!«, hielt Vin dagegen und sie musste sich ordentlich bemühen, dass ihre Stimme nicht wieder lauter wurde. Sie alle waren gerade darum bemüht, den wankenden Frieden aufrechtzuerhalten, der mit jedem Wort mehr in sich zusammenbrechen zu schien.
»Du wolltest ihn doch nur für dich selbst!« Diese Anschuldigung kam von einem Jungen, der in etwa ihr Alter zu sein schien. Vin fiel auf, dass seine langen, blonden Haare ein wenig versengt wirkten. Ob der Jungdrache das zu verschulden hatte?
»Na schön«, sagte Vin dann. Sie war des Streitgesprächs müde geworden. Ihr fehlten Nächte eines ruhigen Schlafes.
»Wenn ihr das in mir sehen wollt, werde ich euch nicht aufhalten. Ich bin es leid, zu beweisen, dass ich es gut meine. Vielleicht habt ihr Recht«, sprach sie und war beinahe selbst ein wenig erschrocken, wie kalt und leer ihre Stimme klang und so fremd in ihren Ohren. »Vielleicht nehme ich ihn einfach als meinen eigenen Drachen.«
Dunkelheit überkam Vin, nicht diese die sich langsam und wie ein Frösteln ausbreitete, sondern eine jene Art, die wirkte, als wäre endlich der Schleier aus Licht weggerissen worden.
Und dies war der Moment, in dem sie ihrer Magie erlaubt, unkontrolliert durch den Raum zu fluten.
Na, stellen sich euch in diesem Kapitel einige Fragen? Hier gibt es ja schon einige neue Erkennntnisse! ✨
Aktuell fehlt mir leider die Zeit zum Schreiben, aber ich werde mich bemühen, mindestens einmal im Monat ein neues Kapitel hier hochzuladen!
Bis bald
– Danny
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