Epilog - Ich Bin Wir
[Einige Minuten später]
Langsam stand ich wieder auf. Ein Bein streckte ich aus. Es schwebte über der Tiefe. Jetzt musste ich nur noch mein Gewicht nach vorne verlagern, dann würde ich...
Zwei Arme schlangen sich plötzlich um meinen Körper und ich wurde sanft zurückgezogen. Ich spürte am Rücken seinen Körper, gegen den er mich drückte und wie er seinen Kopf auf meine Schulter legte. ,,Ich bin wir", flüsterte er in mein Ohr.
Sofort füllten Tränen meine Augen und begannen meine Wangen hinunterzulaufen. Sie wollten nicht stoppen. ,,Alan", versuchte ich zu sagen, doch meine Stimme brach.
,,Shh... Ich bin hier. Ich bin hier." Er drückte mich noch enger an sich und machte dann einen Schritt zurück, um mich von der Mauer zu ziehen, auf der ich stand.
Als ich mich zu ihm herumdrehte, war er allein. Niemand außer uns war auf dem Dach. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht sein sollte, dass alle Personen, denen ich wichtig war, bereits auf dem Dach waren, aber dann erinnerte ich mich daran, wer es war.
Ich umarmte ihn fest. Heiße Tränen bahnten sich erneut ihren Weg über meine Wangen.
,,Es tut mir leid", sagte er.
Was? Was sollte ihm leidtun? Er hatte keine Schuld an der Vergangenheit. Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich hoffte einfach, dass meine Augen alles sagten, was ich sagen wollte.
,,Du hattest recht", sagte er dann.
,,Wie hast du mich gefunden?", frage ich, weil es das einzige zu sein schien, was in meinem Kopf war.
,,Ich bin dir gefolgt. Ich wollte mich entschuldigen. Ich hatte ziemliche Probleme unten an der Rezeption vorbeizukommen. Wie hast du das nur geschafft?"
Ich lachte leise. Dann sah ich ihn an. Mein Blick wurde ernst und besorgt.
Plötzlich hörten wir ein lautes Hämmern gegen die wieder verschlossene Tür. ,,Ich kann euch hören!", kam eine Stimme von innen. ,,Ich kriege euch und dann zerstöre ich eure Leben!"
,,Was willst du, Luke?", fragte Alan wütend.
,,Euch", kam zurück. ,,Eure Verstärkung wird nicht rechtzeitig da sein. Ich zeige euch, was Leid bedeutet!"
,,Wenn du es nicht warst, dann werde nicht zu dem, was dir vorgeworfen wurde, Luke!", erwiderte Alan. Ich sah, dass er Angst hatte, aber er ließ es seiner Stimme nicht anmerken.
,,Es ist zu spät dafür! Ihr habt mein Leben zerstört!"
,,Es ist nie zu-"
,,Jetzt halt schon die Klappe!", kam von innen. Ein Gegenstand schien gewaltvoll gegen die Metalltür geschmettert zu werden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der rostige Rahmen nachgeben würde.
,,Wie kann er hier sein?", fragte ich.
,,Er war noch ein Grund, warum ich so lange gebraucht habe", erwiderte Alan. ,,Ich dachte aber, dass ich ihn abgeschüttelt hatte."
Er sah besorgt zur Tür und ich sah, dass er auf sie zugehen wollte.
,,Alan. Alan, sieh mich an", sagte ich und drehte seinen Kopf zu mir. Seine Hände hielten immer noch meine Arme fest und er sah verängstigt aus. ,,Er hat recht. Die Verspätung wird nicht mehr rechtzeitig kommen."
Sein Griff wurde fester.
,,Ja, du hast recht", sagte er dann. ,,Aber wir können versuchen ihn zu überreden."
Seine Worte drangen in meinen Kopf wie Messerstiche. Er hatte meine Positivität übernommen, aber ich hatte sie vollständig abgelegt. Ich musste erneut an die vergangene Zeit denken.
,,Nein, Alan. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr."
Ich sah den Schmerz in seinen Augen. ,,Okay", sagte er dann. ,,Aber nur zusammen."
,,Nein, du hast ein Leben, eine Familie. Du kannst das nicht wegwerfen, Alan", widersprach ich ihm.
,,Luke will dieses Leben zerstören und ich habe gelernt, dass es manchmal nur einen Schritt nach vorn gibt, keinen zurück", erklärte er. ,,Wir gehen zusammen einen Schritt vor, oder bleiben einzeln stehen."
Ich schloss die Augen und nickte.
Wir wussten beide, was jetzt passieren musste.
Er lachte auf einmal und auch ich konnte kein Schmunzeln vermeiden.
,,Oh man, du siehst scheiße aus", sagte ich dann.
,,Ja, ich habe auch schon einige Nächte nicht mehr richtig geschlafen und gegessen habe ich auch kaum", erwiderte er.
Ich umarmte ihn. ,,Danke."
,,Wofür?", fragte er.
,,Für alles."
Wir gingen in Richtung der Mauer, von der er mich gerade noch herunter gezogen hatte. Wir hielten uns an den Händen, als wir hinauf stiegen und bereiteten die Arme aus, als wir uns noch einige Blicke zuwarfen. Er lachte so schön und ich fühlte mich zum ersten Mal im Leben wirklich frei.
Die ersten Sterne kamen heraus und der Mond leuchtete uns den Weg. Die Straße unter uns war menschenleer.
Wir ließen uns einfach fallen. Ich spürte den Wind und wie sich der Griff seiner Hand festigte. Und wie alle Probleme von mir abfielen. Dann verlor ich mein Bewusstsein.
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Grelles Licht blendete mich, als ich langsam meinen Augen öffnete. Erst als ich sie abermals schloss und wieder öffnete erkannte ich, dass sich die Decke über mir bewegte. Ich lag wohl in einem Bett und wurde irgendwo hingeschoben. Ich musste meine Augen wieder schließen und verlor erneut mein Bewusstsein
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Als ich wieder aufwachte, erkannte ich, dass ich in einem Krankenhauszimmer lag. Eine Krankenschwester stand neben meinem Bett und trug etwas in ein Formular ein.
,,Oh, Sie sind wach", sagte sie. ,,Sie hatten Glück. 13 Stunden Notoperation. Sie werden wieder vollständig gesund, nach ein paar Stunden Physio natürlich."
,,Wo-"
,,Oh, mein Lieber, Sie sind im Kreiskrankenhaus."
,,Wo ist er?", fragte ich schwach.
,,Sie meinen den anderen?" Sie schwieg kurz. ,,Es tut mir sehr leid Sir, er hat es nicht geschafft.
Sofort spürte ich einen brennenden Schmerz. ,,Ah", stöhnte ich.
,,Alles ist gut, mein Lieber, beruhigen Sie sich. Ich drehe Ihnen das Morphium etwas hoch", sagte die Krankenschwester.
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Ich muss wohl einige Stunden geschlafen haben, da kam ich langsam wieder zu Bewusstsein. Eine verschwommene Gestalt eines Mannes stand neben meinem Bett und dahinter, mit etwas Abstand, eine Frau.
,,Sie haben uns einen ziemlichen Schreck eingejagt", sagte der Mann. Ich kannte seine Stimme, aber konnte sie noch nicht ganz zuordnen.
Eine Erinnerung schoss mir wieder in den Kopf und ich spürte, wie mir langsam Tränen die Wangen hinunter liefen.
,,Luke?", fragte ich leise.
,,Wir haben uns um ihn gekümmert. Er wird wohl eine Weile keine freie Welt mehr sehen."
Jetzt fiel mir der Name des Mannes wieder ein. Es war Detective Spencer.
Nun meldete sich auch die Frau zu Wort: ,,Ich bin so froh, dass du es geschafft hast. Ich hatte solche Angst um dich."
Madeline.
Ich stöhnte erneut vor Schmerz. Was hatte ich ihr angetan? Was hatte ich allen angetan?
,,Es tut mir so leid, um deinen Freund, Alan. Er schien nett gewesen zu sein."
Chester.
Oh Gott. Er war tot. Chester war tot und ich hatte überlebt. Nein. Nein, nein... Der Schmerz verstärkte sich noch mehr und die Tränen wollten nun nicht mehr stoppen.
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Einige Wochen später stand ich wieder im Departement. Über meiner Bürotür hing eine 'Welcome back'- Girlande und mein Team hatte eine Torte gebacken mit haufenweise Kerzen und bunten Streuseln.
,,Das bedeutet wohl für die nächsten Wochen nur noch Schreibtischarbeit, nicht war, Inspektor?", fragte mich Richard, ein Forensiker und deutete dabei auf meine Krücken.
,,Ich schätze ja", erwiderte ich und lächelte dabei sogar fast für eine halbe Sekunde.
Ich war mental immer noch nicht auf der Höhe, aber ich wollte unbedingt arbeiten, um mich abzulenken.
Von Madeline hatte ich mich getrennt und sie war erstaunlich verständnisvoll gewesen, auch wenn ich ihr angesehen hatte, dass sie verletzt gewesen war.
Ich hatte das Gefühl, dass das ganze Departement wusste, was passiert war, weswegen mich alle nur noch mit Samthandschuhen anfassten. Ich konnte aber auch nicht sagen, dass ich das nicht sogar etwas genoss.
Und ich musste in physiologische und psychologische Behandlung, wobei ich letzterem aber zur Zeit wenig Aufmerksamkeit schenkte, wenn ich ehrlich war.
Ich musste das mit mir selbst klären und konnte niemanden die ganze Geschichte erzählen. Noch nicht.
Als ich Feierabend hatte und das Gebäude verließ, sah ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine dunkle Gestalt. Es war schon Abend und die Sonne war bereits verschwunden, sodass ich nicht viel erkennen konnte. Es war ein Mann, er hatte seine Hände in seinen Hosentaschen vergraben und eine gebückte Haltung eingenommen. Er sah mich an, also ging ich auf ihn zu.
,,Kann ich Ihnen helfen?", fragte ich ihn.
,,Sind Sie Alan Lewis?", wollte er wissen.
,,Der bin ich", bestätigte ich ihm.
,,Ich bin Chesters Vater. Ich habe gehört, was passiert ist."
,,Chester hat mir von Ihnen erzählt", sagte ich.
Er nickte. ,,Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mir etwas mehr über ihn erzählen könnten?"
____
Ich stand vor Chesters Grab. Ein Jahr war vergangen, seit unserem Sprung vom Dach und ich hatte einen Strauß Blumen dabei.
Es hatte sich viel verändert in der vergangenen Zeit und ich war sehr oft an diesen Ort zurückgekehrt.
Manchmal fragte ich mich, ob er nicht vielleicht doch einen Brief für mich hinterlassen hatte und ich ihn nur nicht finden konnte, aber letztendlich wusste ich tief in mir, dass er jetzt glücklich war, wo auch immer er sich befinden mochte.
Ich hatte seinem Vater geholfen die Therapie durchzuziehen. Er hatte einen neuen Job gefunden und eine neue Familie gegründet. Einmal, als ich ihn besuchte, war an einer Wand in seinem Arbeitszimmer ein Bild von Chester. Je öfter ich ihn besuchte, desto mehr Bilder tauchten auf, bis die Wand komplett mit Bildern von Chester zugehangen war. Ich musste ihn wohl sehr an ihn erinnern.
Ich war hierher gekommen, nachdem wir einen neuen Fall abgeschlossen hatten. Es war noch sehr früh am Morgen, aber die Müdigkeit wollte mich nicht einholen.
Ich sah, wie die Sonne langsam aufging und den Himmel in ein tiefes Magenta tauchte.
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