Kapitel 6
Als Lissy aufwachte, hörte sie Stimmen. Aber es war nicht Sophias Stimme, und auch nicht die Stimme eines der anderen Mädchen aus ihrem Zimmer. Lissy fragte sich wer das war, aber aus irgendeinem Grund hatte sie fürchterliche Kopfschmerzen und musste sich sehr konzentrieren, um die Stimmen um sich herum verstehen zu können.
„Ich habe sie hergebracht, das ist das Wichtigste.“ Diese Stimme gehörte wahrscheinlich zu einem Jungen und kam Lissy irgendwie bekannt vor, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, wo sie diese Stimme schon einmal gehört hatte.
Und was meinte er mit hergebracht, wohin gebracht? Wo war sie überhaupt? Sie lag auf etwas weichem, aber es fühlte sich nicht an wie ihr Bett zu Hause im Internat.
Da sprach eine zweite Person, diesmal eine Frau: „Es ist gut, dass sie jetzt hier ist, Nikolai, aber der Schlag auf den Kopf war nun wirklich nicht nötig. Es wäre besser gewesen, du hättest sie dazu gebracht, freiwillig mit dir zu kommen.“
Schlag auf den Kopf? Jetzt erinnerte sie sich. Sie war im Garten gewesen, dann war sie plötzlich von hinten angegriffen worden. Das erklärte die Kopfschmerzen. Daher kannte sie auch diese Stimme. Es war die Stimme des Angreifers. Dieser, anscheinend hieß er Nikolai, redete jetzt wieder: „Sie hätte sonst geschrien. Was hätte ich denn machen sollen? Mir ist schon klar, dass sie uns jetzt wohl kaum vertrauen wird.“ „Immerhin ist sie jetzt hier. Du solltest dich ausruhen, komm wir gehen. Falls sie aufwacht, schicke ich Mia zu ihr.“
Lissy hörte eine Tür zuschlagen. Sie wartete, bis die Schritte verklungen waren, bevor sie ihre Augen öffnete. Sie lag auf einer Art Bett, allerdings bestand die Matratze aus Moos, was reichlich seltsam war. Lissy setzte sich vorsichtig auf, immernoch hatte sie Kopfschmerzen. Sie befand sich in einem kleinen Raum, der ganz aus Holz bestand. Die Decke, die Wände und der Boden. Außerdem hatte der Raum keine Ecken, alles war irgendwie rund. Und das seltsame war, man konnte nirgendwo einzelne Bretter erkennen. Es sah so aus, als wäre alles aus einem einzigen Holzstück gemacht worden.
Was aber sicherlich nicht der Fall war, es musste Magie benutzt worden sein.
Es gab keine Fenster, trotzdem war es hell. Der Raum war von einem bläulichen Licht erfüllt.
Lissy fragte sich wirklich, wo sie war. Sie war entführt worden, aber wieso? Und was war das für ein Ort? Es gab eine Tür, sollte Lissy versuchen hinauszugehen?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als jemand die Tür aufschloss und von außen aufriss. Ein kleines Mädchen kam in den Raum gelaufen. Lissy war verwirrt. Was hatte ein kleines Mädchen hier zu suchen, wo auch immer sie gerade war? Gehörte sie zu Lissys Entführern? Oder war sie auch entführt worden?
„Du bist wach“, sagte die Kleine. Sie konnte nicht älter als zehn sein, aber sie wirkte viel zu ernst für ein so kleines Kind. Ihre braunen Haare reichten bis zu den Schultern und ihr Gesicht war blass. „Geht es dir gut? Willst du etwas trinken?“ Die Kleine deutete auf einen Krug, der auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand. „Ja, gerne“, sagte Lissy nur. Sie hatte wirklich Durst. Wie lange sie wohl bewusstlos gewesen war?
Die Kleine schüttete Wasser aus dem Krug in ein Glas und reichte es Lissy. „Danke.“
Als Lissy trank ließen auch die Kopfschmerzen nach.
Ob das Mädchen ihr wohl Fragen beantworten würde? Lissy beschloss es zu versuchen: „Wie heißt du denn?“
Die Kleine schien überrascht von der Frage zu sein. „Mia“, antwortete sie nach kurzem Zögern.
Lissy beschloss Mia zu fragen wo sie waren, aber bevor Lissy das tun konnte, sagte die Kleine: „Guck mal, ich habe dir neue Klamotten mitgebracht.“ Die Sachen, die sie ihr gab, sahen aus wie die, die Mia trug: Das Oberteil und die Hosen waren schwarz, dazu ein dunkelgrauer Kapuzenumhang und außerdem ein Paar Lederstiefel.
„Danke“, sagte Lissy nur wieder.
„Ich muss Nikolai bescheid sagen, dass du wach bist, warte hier“, erklärte Mia bevor sie davon rannte.
Nikolai bescheid sagen? Das hieß wohl, dass die Kleine zu den Entführern gehörte. Dabei war sie so nett zu Lissy gewesen...
Zum wiederholten Mal fragte Lissy sich warum sie entführt worden war. Sie war niemand, für den irgendwer Lösegeld bezahlen würde. Außer Sophia würde sie wahrscheinlich nicht einmal jemand vermissen und suchen würde sie erstrecht niemand. Selbst wenn Sophia es versuchen würde, finden würde sie sie bestimmt nicht. Lissy wusste ja selbst nicht wo sie war.
Aber Lissy würde schon irgendwie wieder nach Hause kommen. Sie musste einfach selbst fliehen.
Sie tauschte ihre alte Kleidung gegen die ein, die Mia ihr gebracht hatte. Danach ging sie zur Tür. Als Mia gegangen war, hatte sie keinen Schlüssel gehört, also musste die Tür noch offen sein. Bevor sie die Tür öffnete, zog sie sich die Kapuze ihres Umhangs über. Keine sehr gute Tarnung, aber immerhin etwas. Vorsichtig trat sie durch die Tür.
Auf der anderen Seite war niemand zu sehen.
Lissy war in einem Treppenhaus gelandet. Auch hier war alles aus Holz und wieder waren nirgends einzelne Bretter zu erkennen. Alles sah irgendwie sehr alt aus, an den Wänden wuchsen sogar schon Flechten. Eine Wendeltreppe führte sowohl nach oben als auch nach unten. An der Innenseite der Treppe befand sich ein Geländer, hinter dem es in die Tiefe ging. Es ging ziemlich weit nach unten, Lissy konnte gerade noch den Boden erkennen. Auch die Decke schien ziemlich weit entfernt. Und überall herrschte das selbe bläuliche Licht wie in dem Zimmer, das Lissy gerade verlassen hatte.
Sollte Lissy nach oben oder nach unten gehen? Normalerweise musste man in einem Gebäude nach unten gehen um zum Ausgang zu gelangen, aber da es nirgendwo Fenster gab, könnte Lissy sich auch in einem Keller befinden. Aber würde es in einem Keller so weit nach unten gehen? Sicherlich nicht.
Lissy entschied sich dazu nach unten zu gehen.
Entlang der Treppe gab es immer wieder Türen und hinter manchen hörte Lissy Stimmen, aber sie blieb nicht stehen. Keine der Türen sah nach einem Ausgang aus.
Die Treppe erschien ihr endlos lang und sie hatte ständig Angst ein lautes Geräusch zu verursachen und erwischt zu werden. Was würden ihre Entführer dann wohl mit ihr tun? Sie wären sicher nicht gerade erfreut über Lissys Fluchtversuch.
Zum Glück hatte sie die weichen Lederstiefel an, die Mia ihr gegeben hatte. Diese machten kaum ein Geräusch auf den Stufen wenn Lissy vorsichtig war, aber vorsichtig hieß gleichzeitig auch langsam und das erhöhte wiederum das Risiko entdeckt zu werden.
So war Lissy froh, als sie es endlich bis nach ganz unten geschafft hatte.
Sie stand in einer großen, runden Halle. Eine hohe Doppeltür führte hoffentlich nach draußen. Blieb nur zu hoffen, dass die Tür offen war.
Langsam ging sie auf die Tür zu.
Noch fünf Schritte.
Vier Schritte.
Drei Schritte.
Zwei Schritte.
Ein Schritt.
Lissy legte ihre Hand auf die Türklinke. Die Türklinke war genau wie alles andere hier aus Holz und fühlte sich glatt an. Wahrscheinlich war sie schon oft benutzt worden. Lissys Hände zitterten, dabei musste sie doch nur diese Türklinke herunterdrücken. Wenn Lissy erstmal draußen wäre, würde bestimmt alles ganz einfach sein. Sie müsste einfach jemanden finden, der ihr helfen könnte. Vielleicht befand sie sich sogar in der Nähe einer Stadt, dann würde das nicht lange dauern.
Lissy drückte die Türklinke herunter. Die Tür öffnete sich. Sie war nicht abgeschlossen.
Erleichtert trat Lissy nach draußen.
Irritiert sah sie sich um. Sie stand in einem Wald. Das alleine war nicht weiter verwunderlich, immerhin gab es viele Wälder in Sonnlingen. Aber dieser Wald war anders. Es war dunkler als in einem normalen Wald. Die Äste in den Baumkronen waren miteinander verflochten und zusammen mit Efeu und Flechten bildeten sie eine undurchdringliche Schicht. Da Lissy den Himmel nicht sehen konnte, wusste sie nicht ob Nacht oder Tag war. Selbst am helllichten Tag wäre wohl kein Licht durch das Blätterdach gedrungen. Das einzige Licht hier kam von einigen Leuchtpilzen, die zwischen den Bäumen standen und ein türkisblaues Licht verströmten. Die Pilze waren bestimmt doppelt so groß wie Lissy. Und auch die Bäume waren größer als normale Bäume. Sie waren sicherlich höher als das Gebäude des Internats. Einige der Baumstämme waren so breit wie Häuser.
Es roch nach Moos und Blättern.
Zwischen den Bäumen wuchsen Pflanzen deren Namen Lissy nicht kannte.
Lissy machte einige Schritte nach vorne. Durch die dicke Blätterschicht wurden ihre Schritte gedämpft.
Es war als befände Lissy sich in einer anderen Welt. Einer unheimlichen Welt.
Denn zweifellos befand sie sich im Dunkelwald.
Zuvor hatte sie es beängstigend gefunden, nicht zu wissen, wohin sie entführt worden war. Aber zu wissen, dass sie sich im Dunkelwald befand war um einiges beängstigender. Das hieß sie war nicht von Menschen entführt worden. Sondern von den finsteren Kreaturen des Dunkelwalds. Schaudernd dachte sie an die orange-roten Augen ihres Entführers zurück. Zweifellos kein Mensch. Nur das kleine Mädchen passte nicht ganz ins Bild.
Lissy zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Sie fuhr herum. Hoffentlich hatte das niemand gehört!
Ihr stockte der Atem. Sie hatte vorher nur auf die Umgebung vor ihr geachtet. Nachdem sie sich jetzt umgedreht hatte, konnte sie sehen, dass sie gerade kein Gebäude verlassen hatte. Vor ihr stand ein riesiger Baum.
Das erklärte die seltsamen Wände. Und auch die Tür sah aus, als wäre sie aus dem Baum herausgewachsen.
Irgendjemand musste Magie benutzt haben, um das Wachstum des Baums zu beeinflussen, so wie Flora das Wachstum von Rosen beschleunigen konnte. Allerdings müsste man ziemlich viel Magie aufwenden, um so etwas zu vollbringen. Aber sie befand sich ja auch im Dunkelwald, hier lebten keine Menschen.
Was sie zu der Frage zurückbrachte, was sie jetzt tun sollte. Sie musste auf jeden Fall schnell weg von hier, der Knall der Tür hatte bestimmt jemanden alarmiert. Aber in welche Richtung sollte sie laufen? Sie hatte keine Ahnung. Die Aussicht planlos im Dunkelwald herumzuirren war nicht gerade verlockend, immerhin war der Dunkelwald von finsteren Wesen bevölkert.
Doch hatte sie eine Wahl? Nein.
Also lief sie einfach wahllos in eine Richtung.
Hey Leute, ich hoffe ich konnte es jetzt mal etwas spannender machen. Ich würde mich weiterhin über Kommentare freuen, auch über Kritik und Verbesserungsvorschläge.
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