Der Tod naht I
Auch einige Stunden, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten, hing Nebel über den Wiesen. Keine Seele hatte ihren Weg gekreuzt. Kein Vogel zwitscherte in den Baumkronen, die zunehmend kahler wurden. Nicht einmal der Wind spielte eine Melodie.
Die Idylle vom Vortag wäre Cyn lieber gewesen als das Grau, in das sich die Welt hüllte. Die einzige Farbe ging von blauen und violetten Blumen am Wegesrand aus.
»Die Stadt der Sterne ist in der Nähe«, sagte Nilan.
Ein eisiger Schauer fuhr Cyns Rücken hinab und er schüttelte sich. Die Stadt der Sterne. Ein sehr euphemistischer Name für den Thron des Todes, um den sich verlorenen Seelen scharrten.
Einmal war er Lehu entkommen. Ein zweites Mal würde es ihm nicht gelingen.
Nilan jedoch schien keinerlei Bedenken zu hegen. Seine Mundwinkel waren leicht erhoben, während er die Blumen betrachtete, die wie Efeu an den Bäumen hochkletterten.
»Wir wollen aber nicht direkt in die Stadt, oder?«, fragte Cyn und gab den Blüten nur eine hochgezogene Augenbraue.
»Warum denn nicht?«, hakte Nilan nach.
»Weil ...« Cyn biss die Zähne zusammen, bevor er wie am vorherigen Abend zu viel über seine Vergangenheit ausplaudern konnte.
»Lehu kann uns bestimmt helfen«, meinte Nilan.
»Wobei sollten wir Hilfe brauchen?«, erwiderte Cyn nur. Sie kannten den Weg, hatten bisher die Nächte unter freiem Himmel überlebt und alle Hürden überwunden.
»Bei ihr können wir unsere Vorräte aufstocken«, sagte Nilan.«
»Ihm«, korrigierte Cyn.
»Hm?«
»Bei ihm. Lehu ist ein Mann.«
Nilan legte den Kopf schief. »Wirklich?«
Nun stockte Cyn auch. Eigentlich kannte er genug Göttergeschichten, um zumindest deren Geschlecht bestimmen zu können, aber Nilan müsste doch eine bessere Kenntnis über seine Familie haben.
»Ich denke schon«, meinte Cyn.
»Oh«, machte Nilan. »Ist ja auch nicht so wichtig.«
Cyn runzelte die Stirn und musterte ihn. »So oder so würde ich kein Essen von dem Tod annehmen wollen?«
»Bei ihm kann uns aber auch Darkla nichts anhaben«, meinte Nilan.
»Ich bevorzuge Darkla vor Lehu.«
Nilan presste die Lippen zusammen und erwiderte nichts, sodass nur Stille zwischen ihnen stand. Nicht einmal der Wind wagte es, in den Blättern ein Lied zu flüstern.
»Ich würde Lehu einfach gern wiedersehen«, murmelte Nilan. Ein Satz, der so nur selten fiel, denn wer würde freiwillig dem Tod in die Arme laufen? »Es ist Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Selbst, als ich noch im Himmel war, war er meistens abwesend. Er war oft beschäftigt und deshalb ...« Er knetete seine Hände und wich Cyns Blick aus. »Wir müssen nicht dorthin, wenn du nicht möchtest, aber es würde mir eine Freude machen.«
Cyn seufzte schwer. Er hatte schon fast vergessen, dass er ein Herz besaß, doch nun, da er in die welpenhaften Augen Nilans sah, spürte er einen Stich in seiner Brust.
»In Ordnung«, brummte er. »Wir können in die Stadt der Sterne gehen.« Er wusste, dass er diese Entscheidung bereuen würde. Spätestens, wenn sie Lehu gegenüberstanden.
Aus der gepflasterten Straße wurde ein schmaler verwinkelter Weg. Die Bäume streckten ihre Äste nach dem Pfad aus. Bald hatten sie gänzlich ihre Blätter verloren und stattdessen waren sie von blauen und violetten Blüten bedeckt.
Der Nebel umhüllte sie so dicht, dass Cyn die Stadtmauern erst bemerkte, als er sie passierte. Kein Tor trennte die Welt der Toten von den Lebenden. Nur eine blumenberankte Säule stellte den Grenzstein dar.
In dem Dunst leuchteten weiße Lichter auf, einige schwach, andere strahlend. Sie bewohnten die zertrümmerten Häuser, die Ruinen oder auch nur einen einzelnen Stein, der ihrer Grundmauer geblieben war.
Cyn wischte sich die Handflächen an seinem Umhang ab. Er hatte sich nur Gedanken darum gemacht, dass sie hier Lehu treffen könnten. All die Schatten der Lebenden hatte er ausgeblendet.
»Ich bin nicht tot. Ich kann nicht tot sein.« Eine Seele, die noch nicht mit dem Ende ihres Lebens abgeschlossen hatte. Könnte man sich damit je abfinden?
»Keine Sorge, es wird alles gut werden«, antwortete ihm jemand. »Du wirst ein wenig Zeit brauchen, um dich an alles zu gewöhnen, aber wir sind für dich da. Wenn du reden möchtest, dann findest du hier immer einen Zuhörer.«
Cyn hatte nur selten darüber nachgedacht, was nach dem Tod geschah. Er kannte all die Geschichten der Unterwelt und der Helden, die in das Reich der Toten hinabgestiegen waren, um ihre Liebsten von dort zu befreien. Jeder war gescheitert und daher hatte Cyn selbst es nie versucht.
Als er gestorben war, hatte er nicht das Haus Lehus vor sich gesehen. Nur Dunkelheit. Und eine Hand, die nach ihm ausgestreckt worden war. Er hatte sie ergreifen wollen, war jedoch fortgerissen und in seinen Körper zurückgebracht worden.
»Ist dort ... ein Lebender?« Eines der Lichter im Nebel flackerte auf und bewegte sich zu ihnen.
»Unmöglich«, meinte ein anderes. »Wie kann sich ein Sterblicher hierher verirrt haben?«
Binnen weniger Sekunden sammelten sich tausende von Seelen um Cyn und Nilan herum. Um jede von ihnen schwebte ein Schatten des Lebens, das sie einst geführt hatte.
Cyn sah das Bild eines Mannes inmitten seiner Familie, bevor es von den Nebelschwaden davongerissen wurde. Eine Frau mit Schwert und Schild, die als einfache Soldatin auf dem Schlachtfeld starb.
Und dahinter tauchten die Schatten der Helden auf. Batal, der im Alleingang Heere zerschlagen konnte, doch er war Aruma, der Göttin der Nacht, ein Dorn im Auge gewesen. Sie selbst hatte ihn nicht töten dürfen, aber sie ersann eine List. Sie legte die Nacht finster über die Welt, als Batal von einem zweijährigen Krieg zurückkehrte. Seine Frau erkannte ihn nicht. Sie hielt ihn für einen Eindringling und erstach ihn.
Gelana erschien, die als Klügste ihrer Zeit und der folgenden Jahrhunderte galt. Sie war ihrer Liebsten, Vaela, in den Tod gefolgt. Denn diese hatte Awia, die Sonne selbst, erzürnt, die daraufhin mit ihrem Wagen gen Erde gefahren war, um die Schurkin zu töten.
Viele weitere folgten. Allesamt zeigten verschwommene Bilder ihrer früheren Taten. Helden, die Monster erschlugen. Helden, die Städte und Länder einnahmen. Helden, die sich den Göttern selbst entgegenstellten.
Eines hatten sie alle gemeinsam: Sie waren gestorben. Am Ende eines jeden Heldenepos stand der Tod.
»Mörder!« Ein Schatten tat sich unter den anderen hervor. Ein Mann, fast doppelt so groß und breit wie Cyn. Die stacheligen Kugeln eines Morgensterns schwangen neben ihm. Den Griff hielt er in der Hand. »Du hast mich umgebracht!«
»Ajas«, knurrte Cyn. Er erinnerte sich noch genau an die Worte, die der feindliche Krieger ihm über das Schlachtfeld zugeschleudert hatte: ›Ein Leben für ein Leben. Einen Tod für einen Tod.‹ In seiner einen Hand hielt er die Kehle von Cyns Freund, mit der anderen hob er den Morgenstern an.
Nie in seinem Leben war Cyn so schnell gerannt, doch er war zu spät angekommen.
Er fröstelte, hatte eigentlich gedacht, dass er die Geschehnisse schon verarbeitet hatte. Aber er hatte sie nur verdrängt und nun riss die Mauer ein.
Der Griff des Schwertes in seiner Hand. Ein vertrautes Gewicht, denn er führte es jeden Tag. Noch im Lauf rammte er die Klinge in Ajas Körper. Seine Miene ähnlich der eines Raubtieres, das sich ausgehungert auf ein Reh stürzte. Einer der wenigen Morde, bei denen er mit vollem Bewusstsein zu einem Monster geworden war.
Er ließ erst von seiner Beute ab, als diese bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt war. Die Schreie der Gefallenen hallten laut auf dem Schlachtfeld wider. Fast war ihm, als könnte er sie noch hören, nachdem die Soldaten schon über die Schwelle des Todes getreten waren.
Doch er verschloss die Augen vor den Kämpfenden. Nur eines interessierte ihn, als die Sonne unerbittlich auf seiner Haut brannte und sich Schweiß mit Tränen auf seinen Wangen mischte.
Er fand die Leiche seines Freundes, fiel neben ihm auf die Knie und schloss ihn in seine Arme. Kedras und er hatten sich schon Jahre zuvor kennengelernt, doch nun war all die Zeit in nur einer Sekunde genommen worden.
Tränen fielen auf die bleicher werdenden Wangen. Das Schlachtgetümmel vermischte sich zu einem fernen Tosen. Es kümmerte ihn nicht und niemand schien auf ihn zu achten.
»Cyn?« Eine sanfte Berührung bot das Seil, das ihm aus der reißenden Strömung der Vergangenheit half. Nilan kniete neben ihm, trocknete mit dem Ärmel Cyns Wangen.
Damals hatte Cyn gedacht, sich an Kedras' Gesicht zu erinnern, wäre das Schlimmste, das ihm je widerfahren könnte. Doch nun erkannte er, dass es ihn weit mehr schmerzte, dessen Antlitz vergessen zu haben. Er musste sich konzentrieren, um die dunklen Augen vor sich zu sehen. Die leicht schiefe Nase, da sie einmal gebrochen worden war. Seine Haare hatte er stets kurzgeschoren getragen, da sie – so sagte er – ihm ansonsten zu viel Arbeit gemacht hatten.
Wenn er sich jedoch Kedras ganz vorstellen wollte, verschwamm das Bild wie die Spiegelung im Wasser, sobald es anfing zu regnen.
»Cyn.«
Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er wieder untergegangen war.
»Ich ...« Er wusste, was er sagen wollte. Er wollte all die Bestürzung in Nilans Blick mit ›Mir geht es gut‹ fortwischen, aber die Worte kamen nicht über seine Lippen.
»Ein Mörder?«, fragte eine der anderen Seelen. Immer noch waren tausende von ihnen auf dem Platz versammelt. Matte Augen sahen auf Cyn hinab. Teilweise waren ihre Gesichter unscharf. Keines von ihnen kam ihm bekannt vor.
»Mich tötete er auch«, sagte ein anderer Schatten.
»Mich ebenfalls.«
Hatten sich alle Toten hier versammelt, die durch Cyns Hand gestorben waren?
Eine Schweißperle rann von Cyns Stirn und tropfte von seiner Wange, obwohl der Nebel kühl auf seiner Haut lag. Jahrelang war er gerannt, nur um nun von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Erneut.
»Ich bin bei dir«, flüsterte Nilan. Die Worte waren nur für Cyn und nicht für die umstehenden Schatten bestimmt.
Cyn hatte immer geglaubt, dass er in einem solchen Moment, niemanden in seiner Nähe haben wollte. Niemand sollte seine Schwäche sehen. Doch nun wollte er sich nicht ausmalen, ob er ohne Nilan ertrunken wäre.
Eine Glocke erklang.
Die Seelen tuschelten aufgeregt. Sie flüchteten in die Häuser und Ruinen und diejenigen, die blieben, lösten sich auf, als der Nebel sich lichtete. Der Wind jaulte auf und eine tiefe Stimme verkündete, wer ankam.
»Der Tod naht.«
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