Der Frevel der Güte I
Früh am nächsten Morgen ließen sie den Schutz des Waldes hinter sich und traten in die Wüsten. Der gelbe Sand formte eine hügelige Landschaft, die in der Sonne glitzerte.
Cyn hob eine Hand über seine Augen und humpelte los. Es hieß, einst soll sich dort ein Wald erstreckt haben, den Kalik, die Göttin der Natur selbst, beschützte. Doch der Krieg hatte sich das Gebiet einverleibt und nun wachten Varjans Haustiere über die Wüste, um sicherzustellen, dass Kalik sie nicht zurückerobern konnte. Und nebenbei hielten sie jeden unglücklichen Reisenden auf, der ihnen über den Weg lief.
Einst hatte Cyn eines dieser Haustiere kennengelernt. Einst, als er ein anderer war und nicht einmal seinen jetzigen Namen getragen hatte.
»Du wirkst angespannt.« Nilans Worte drangen kaum zu ihm durch.
Er antwortete nur mit einem Knurren. Varjans Haustier – ein Wesen, das Cyns als ›den Wächter‹ kennengelernt hatte – hatte sich vermutlich längst angeschlichen. Man sah ihn erst, wenn er schon eine Klaue um sein Opfer geschlossen hatte.
»Was ist das?« Nilan legte den Kopf schief und deutete auf einen Sandhügel in der Ferne.
Cyn kniff die Augen zusammen, um gegen die Sonne ansehen zu können, und blickte gen Horizont.
Nur Sand.
Die Sonne brannte vom Himmel hinab, aber in seinen Nacken legte sich eine eiskalte Hand. »Was siehst du?« Er versuchte, die Kälte abzuschütteln. Und scheiterte.
»Es sieht aus wie ein Mensch«, sagte Nilan. »Aber irgendwie auch nicht.«
Cyn hatte erwartet, dass er das Opfer des Wächters sein würde, wenn es einer von ihnen wäre. Doch es hatte Nilan getroffen.
»Du musst mir genau zuhören –« Weiter kam er nicht. Die Erde erzitterte und tat sich auf. Sand rieselte in den klaffenden Abgrund.
Nilan wich zurück, doch Cyn packte ihn, umklammerte ihn. »Wir müssen zusammenbleiben«, rief er über das Bersten der Erde hinweg, kurz bevor sie in die bodenlose Schwärze fielen.
Cyn blinzelte, bis sich die Dunkelheit um ihn herum aufhellte. Er war weich gelandet, aber das konnte er nicht von der Gestalt unter sich behaupten.
Nilan stöhnte gequält auf.
»Alles gut?« Cyn stützte sich auf die Arme.
»Soll mein Rücken wehtun?«
»Solange du ihn spürst, ist alles in Ordnung.« Er rollte sich von Nilan hinunter, doch nicht, ohne nach seinem Ärmel zu greifen. Er sah in die Leere über sich. Gähnende Schwärze so weit das Auge reichte.
Ein tiefes Grollen hallte in der Finsternis wider. Ihm folgte eine Stimme. »Du hast dich widersetzt.«
Cyn holte tief Luft. Diesmal war es nicht seine Erinnerung.
Nilan jedoch sprang auf die Füße und wirbelte herum. Beinahe riss er Cyn den Ärmel aus der Hand, aber in letzter Sekunde verstärkte Cyn den Griff, sodass er ebenfalls hochgerissen wurde.
Weißer Atem glitzerte in der Luft. Einzig silbernes Licht erhellte den Raum, ausgehend von Schuppen und Kristallen eines riesigen Geschöpfes. Eine Pranke so lang, wie Cyn hoch war.
Gedrehte Hörner entsprangen seinem Kopf und ein stacheliger Kamm zog sich seinen Rücken entlang. Die ledrigen Flügel waren auf den Boden gezurrt und Ketten schlangen sich um den schwanenähnlichen Hals. Der Kopf wurde auf den kalten Stein gezwungen. Verschlossen war sein Maul.
Die einzelnen Glieder der Fesseln schnitten sich tief in die Schuppen ein, sodass diese teilweise aufgeplatzt waren.
Strahlend weiße Augen suchten in der Finsternis nach Hilfe. Und sie fanden keine. Einzig eine Gestalt stand vor ihm, gekleidet in einen dunklen Gehrock. In der Hand hielt er einen rot glühenden Haken.
»Du weißt, was es heißt, wenn du dich widersetzt«, sprach der Mann.
Ein Grollen kam aus der Brust des Drachen, doch diesmal klang es nicht furchterregend, sondern erinnerte an das leise Fiepsen eines Hundes, der versuchte zu beschwichtigen.
Nilan ballte die Hände zu Fäusten. Sein gesamter Körper zitterte.
Der Mann trat näher. Die Augen des Drachen weiteten sich, verfolgten den Haken, der nun angehoben wurde. Er schob sich von ihm fort, doch die Ketten hielten ihn, sodass er nur wenige Zentimeter weichen konnte.
Nilan stieß ein Knurren aus. Animalischer, als Cyn je von ihm erwartet hatte. Er riss sich los und stürmte auf die Szenerie zu. Als er bei dem Mann ankam, fuhren seine Hände durch ihn hindurch und die Gestalt zerstob in schwarzem Rauch.
Er versuchte, den Qualm einzufangen, doch dieser glitt durch seine Finger. »Ich bin ein Gott«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er stampfte auf den Boden, um die Reste der Schwaden zu zermahlen. »Und kein verdammtes Haustier.«
Ein hohes Kreischen erklang und Nilan fror in der Bewegung ein. Von unsichtbaren Wänden wurde der Schrei zurückgeworfen und echote endlos durch den Raum.
Vorsichtig trat Cyn an ihn heran. Als er damals hier eingesperrt gewesen war und der Wächter seine dunkelsten Erinnerungen abgespielt hatte, hatte er Wochen gebraucht, bis er erkannt hatte, dass es nur eine Illusion war.
»Nilan?« Er griff erneut nach seinem Ärmel.
Der Mond hatte aufgehört, den Rauch zu treten, und stand nun wieder wie erstarrt da, die Hände zu Fäusten geballt.
Im Nichts erklang die Stimme des Folterers: »In ein paar Tagen bin ich wieder da. Dann hast du hoffentlich deine Meinung überdacht.«
Nilan wirbelte herum. »Wo ist er?«, knurrte er.
»Es ist nur eine Illusion«, sagte Cyn. »Nicht die Realität.«
Nilan stieß ein freudloses Lachen aus, abgehackt und einschneidend wie Scherben. »Es war jahrelang meine Realität.« Seine sonst strahlenden Augen sprühten nun Funken aus Hass und Wut.
Am anderen Ende der Finsternis tauchte ein neues Bild auf. Wieder der Mann, diesmal mit einer Gerte in der Hand.
Vor ihm kniete eine Gestalt, deren Hände hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Schwarze Haare, in denen nur eine der vorderen Strähnen weiß gefärbt war, verbargen ihr Gesicht.
Nilan riss sich los und rannte zu der Szene.
»Wir sollten zusammenbleiben«, rief Cyn ihm hinterher, doch der Gott hielt nicht ein, sodass Cyn ihm hinterherhumpeln musste.
»Bitte hört auf.« Die Stimme war leise, kraftlos, brüchig, doch unverkennbar als Nilans zu erkennen.
»Dann füge dich.« Der Mann kam dem knienden Gott näher und dieser zuckte bei jedem Schritt zusammen.
Nilan kam bei der Szenerie an. Seine Hände glichen Klauen, als sie durch den Folterer fuhren, der wie zuvor in Nebel zerstob.
Cyn schluckte den Schmerz in seinem Bein hinunter und hielt erst, bei dem Mond angekommen, an. »Sieht aus, als wäre ich nicht der Einzige, der etwas vergessen wollte.« Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wenn er eine offene Wunde sah, war es eine fast instinktive Reaktion seinerseits, Salz hineinzustreuen.
»Ich will nicht vergessen.« Nilan wirbelte herum und packte Cyns Kragen. »Weshalb sollte ich vergessen wollen? Ich will vergeben.«
Vergeben?
»Wie sollte man so etwas vergeben können?«, fragte Cyn. »Es ist in Ordnung, wütend zu sein. Es ist in Ordnung, nicht zu vergeben.«
»Du kannst es nicht verstehen«, meinte Nilan und schnaubte. »Du bist ein Mensch.«
Wie es aussah, war Cyn nicht der Einzige, der gern Salz in Wunden streute.
»Aber ich bin ein Gott.« Nilans Hände verkrampften sich um den Kragen. »Ich bin der Gott der Gnade. Ich muss vergeben. Der ganze Sinn meiner Existenz ist, zu vergeben und –« Er verstummte. Seine Augen weiteten sich und er ließ Cyn los. »Verzeih mir.«
»Das ist nichts, für das du dich entschuldigen musst«, sagte Cyn. Er griff nach Nilans Händen und legte sie erneut an seinen Kragen. »Mir wurde schon weit Schlimmeres an den Kopf geworfen.«
Nilan wandte den Blick ab. Seine Hände zitterten und würde Cyn sie nicht halten, hätte er sie wieder sinken lassen. »Ich sollte meine Wut nicht an jemand anderem ablassen. Ich sollte nicht einmal wütend werden.«
»Aber das ist doch ...« Cyn hielt das Wort zurück, bevor es seinen Mund verlassen konnte.
Nilan verstand trotzdem. »Genau.«
Wut war menschlich. Und Nilan war kein Mensch.
Einige Schritte von ihnen entfernt, sammelte sich der dunkle Nebel erneut. In den weißen Haaren des Gottes hing Blut und tropfte auf die Kristalle in seiner Haut.
Cyn verstärkte seinen Griff, doch Nilan gelang es trotzdem, ihm zu entschlüpfen. Bevor er jedoch loshasten konnte, schloss Cyn die Arme um ihn. »Es wird nicht verschwinden, nur weil du es niedertrampelst.«
»Aber ich kann dem nicht lauschen.« Nilans Blick war starr auf die Gestalten gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt.
Cyn drehte ihn zu sich und hielt ihm die Ohren zu. Er sah über Nilans Schulter und betrachtete selbst die Szene.
»Hast du es dir anders überlegt?« Der Folterer schritt an den knienden Gott heran. »Dein Trotz hält sich nun schon ein Jahr. Willst du es nicht für uns alle angenehmer machen und dich endlich fügen?« Er griff in die fast weißen Haare hinein und riss Nilans Kopf hoch. »Nutze deine Kraft für mich.«
»Ich kann nicht.« Kaum ein Ton schwang in den Worten mit.
Der Kerkermeister warf ihn zurück auf den Boden. Mit einem Krachen traf sein Kopf auf den Stein.
»Du musst es dir auch nicht anschauen«, sagte der Nilan vor ihm.
Cyn schüttelte nur den Kopf, obwohl er wusste, dass es keine richtige Antwort war.
Der Kerkermeister trat auf den Gott zu. »Ich glaube dir nicht.«
»Wartet!«, rief Nilan und sein Gegenüber hielt ein. »Ich ... ich ...« Er biss sich auf die Unterlippe, nun offenbar nicht mehr sicher, was er sagen wollte. Oder ob er es sagen wollte. Doch fügte er sich seinem Schicksal und schloss die Augen. »Meine Macht ist eingeschränkt. Ich kann sie nicht nutzen, wie es mir beliebt. Ich kann nur Wünsche erfüllen.«
Das Bild löste sich auf und der Rauch verschwand in der Dunkelheit.
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