Kapitel 1
Es war zum Verrücktwerden! Ich hatte das erdrückende Gefühl, als wäre ich ein Glas – ein leeres Glas. Früher mit Leben und Energie gefüllt, nun jedoch bis zum letzten Tropfen hin geleert und damit kraftlos und schwach wie ein kläffender Chihuahua. Nervig und laut, doch nichts steckt dahinter. Wie merkwürdig das klang, ich hatte meine Kräfte ausgeleert, verschüttet, als wäre ich ein tollpatschiges Kind. Aber dennoch besaß es irgendwie ein Fünkchen Wahrheit, wenn nicht sogar einen großen Brocken davon. Ein großer Brocken, der mich nun scheinbar erdrückte. Ich seufzte. Warum hatte das auch ausgerechnet mir passieren müssen?
Eine Hexe ohne Kräfte, ohne Magie – einfach lächerlich. Ja genau, ich war eine richtige Lachnummer. Verärgert schmiss ich meine Haarbürste auf die weiße Frisierkommode und starrte mit meinem Spiegelbild um die Wette. Eine Hälfte meiner Haare hing lang und glatt wie Schnittlauch über meine Schultern hinab, die andere Hälfte stand in wilden Ringeln von meinem Kopf ab. Dabei sollte ich darauf hinweisen, dass dieses Naturphänomen keineswegs normal für meine Haare war. Viel mehr lag es an dem Eisenstab, welcher nun auf seinem Platz, vor mir auf dem Tisch der Kommode vor sich hin glühte und eine unangenehme Hitze ausstrahlte – ein Lockenstab. Eine Erfindung der Menschen, mit der ich absolut auf keinen grünen Zweig kam. Anstatt mir sanfte, schöne Locken zu fabrizieren, wie es das Abbild einer braunhaarigen Frau auf der Verpackung versprach, sah ich aus, als hätte ich mit meinem Finger in eine Steckdose gegriffen. Ich seufzte erneut. Früher war das alles leichter. Statt Stunden für soetwas vor dem Spiegel zu stehen, hatte ich die sanften Wellen, die ich meinen roten Haaren wünschte, ganz einfach mit einem kleinen Zauberspruch geschafft. Eine Leichtigkeit war das gewesen. So leicht wie auf einem Besen fliegen, würde meine Mutter sagen. Etwas, was man nie verlernt und es einem so einfach von der Hand geht, sodass man es selbst im Schlaf fabrizieren könnte. Genau so war das Zaubern für mich gewesen. Natürlich traf das nicht auf alle Sprüche und Formeln zu, immerhin war ich noch keine fertig ausgebildete Hexe, aber dennoch. Nicht einmal einen einfachen Zauberspruch auszuführen, der die Struktur meiner Haare verändern sollte, war einfach lächerlich. Da hatten wir das Wort wieder. Wenn möglich war meine Laune in den letzten paar Minuten noch mehr gesunken und als ich erneut eine Haarsträhne um den Lockenstab wickelte, verbrannte ich meine Finger prompt am heißen Eisen.
„Auuu", jaulte ich auf, wobei der Laut viel eher ein Frustrationsschrei war, als von wirklichem Schmerz hervorgerufen.
„Carrie?", fragte eine Stimme zaghaft. Ich blickte auf und sah, wie Timothy seinen roten Haarschopf durch die Tür streckte.
„Alles klar bei dir?", fragte er, wobei sein Lächeln eine Mischung aus Besorgnis und Neugier beinhaltete. Vermutlich wunderte er sich, was mich dazu veranlasste, wie ein getretenes Kätzchen zu jaulen. Genau genommen so, wie Ajoly, unser manchmal sehr zur Dramatik neigender Kater, welcher nicht davor zurückschreckte, sein lautestes Katzenjammern zum Besten zu geben, nur weil jemand sein Katzenkörbchen einen Zentimeter in die falsche Richtung gerichtet hatte.
„Ja, natürlich", antwortete ich, obwohl ich mir sehr verkneifen musste, unglücklich das Gesicht zu verziehen. Natürlich war nicht alles okay, gut, klar, oder was einem sonst noch dafür einfallen würde. Aber meine schlechte Laune jedem auf die Nase zu binden, würde auch nicht weiterhelfen. Weder mir, noch den anderen.
„Ich muss gleich los. Ein gewisser Monsieur Swentway stellt heute eine neue Zauberformel vor, die es ermöglichen soll, sich mit 0,1 Mal der Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Einfach fabelhaft dieser Mann. Chef Carter ist zwar noch skeptisch, dennoch möchte ich es auf gar keinen Fall verpassen, wenn er sein Projekt vorstellt. Ob es nun in die nächste Ausgabe schafft, hin oder her", sagte er fröhlich und strahlte ganz begeistert.
Während er erzählte nahm er die Brille von der Nase und reinigte sie mit dem Ende seines Hemdes, dennoch schien er nicht ganz zufrieden, als er sie prüfend gegen das Licht hielt.
„Das klingt wirklich toll. Es freut mich, dass dir dein Praktikum so gut gefällt", antwortete ich und so schlecht ich mich auch fühlte und so sehr ich im Moment im Selbstmitleid versank, ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Lächelnd nickte er, setzte sich die Brille wieder zurück, auf ihren Platz, auf der Nasenspitze und wandte sich zum Gehen.
„Hab einen schönen ersten Schultag. Wir sehen uns dann beim Abendessen."
Und weg war mein Lächeln. Schmerzhaft überrumpelte mich die Tatsache, dass heute mein erster Schultag an einer normalen Schule war. Robin würde heute aufbrechen. Unsere Mutter würde ihn zum Hafen bringen, von wo aus es mit der Fähre weiter in den Norden gehen würde. Dort besuchte er ein Internat für junge Hexen und Zauberer zwischen 12 und 18 Jahren, die ihr Magiepotential weiter ausschöpfen wollten, um später einen angesehenen Job in der magischen Welt zu bekommen. Dieses Jahr war Robins erstes Jahr, wohingegen es mein drittes wäre. Die Betonung lag jedoch auf wäre. Keine Magie, auch keine Notwendigkeit, eine magische Schule zu besuchen. Tränen traten mir in die Augen, schnell wandte ich mich, nach Ablenkung suchend, erneut meinen Haaren zu. Sie sahen kaum besser aus, als wenige Minuten zuvor. Ein Grund, das Gesicht in den Händen zu vergraben und nie wieder auftauchen zu wollen.
Anstatt buchstäblich in Selbstmitleid zu versinken, raffte ich meine Gedanken und meine wild vom Kopf abstehenden Haare zusammen (natürlich nur die Haare, nicht die Gedanken, zu einem Pferdeschwanz) und trat mit einem gefüllten Schulrucksack bewaffnet den Weg nach unten in die Küche an.
Mit polternden Schritten kam ich die Holztreppe hinunter, die bei jedem Schritt ein Knarren von sich gab, als hätte ich das Gewicht eines Sumo- Ringers.
„Mum", rief ich und sprang an Familienfotos, welche die Wand des Stiegenaufganges tapezierten, vorbei.
„Bonjour, ma chérie", antwortete eine melodische Stimme und Mum trat mit einem gefüllten Wäschekorb unterm Arm in den Vorraum.
Strauchelnd kam ich auf der letzten Stufe zum Stehen.
„Ça va? Schon nervös – heute ist wohl für alle ein großer Tag. Robin war heute schon so aufgeregt, ich dachte er würde nicht mal mehr den einfachsten Zauber zustande bringen. Dabei sollte er doch nur die Socken unter dem Bett hervorholen, stattdessen gingen sie in Flammen auf ...", plapperte sie munter drauf los. Ihre Wangen waren gerötet und rote Haarsträhnen hingen ihr ins verschwitzte Gesicht – vermutlich war sie schon seit früh am Morgen auf und eilte von einer brennenden Socke zur nächsten. Sie schien gestresst und überdies schien ihr die Bedeutung ihrer Bemerkung nicht bewusst zu sein. Mir hingegen zog sich schmerzhaft der Magen zusammen. Nicht mal mehr die einfachsten Zauber zustande bringen. Genau so ging es mir. Nicht nur sprichwörtlich, sondern wortwörtlich. Meine Stimmung sank, wenn möglich, noch tiefer.
Um mich abzulenken, wechselte ich das Thema.
„Ist Robin schon in der Küche? Ich möchte mich noch von ihm verabschieden", sagte ich und biss mir abwartend auf die Unterlippe.
„Oui, bien sûr. Der Bus kommt bald, ich muss noch in den Garten. Also wünsche ich dir schon mal jetzt einen zauberhaften Tag, ma coeur."
Über den Wäschekorb hinweg drückte sie mich in eine Umarmung und einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
„À tout à l'heure!", rief sie mir noch nach, dann verschwand sie durch eine angrenzende Tür.
„Tschüss, Mum." Lächelnd trat ich in die Küche, wo ich meinen Schulrucksack auf einen Stuhl fallen ließ. Anders als Mum sagte, war Robin noch nicht in der Küche, weshalb ich die Zeit damit überbrückte, mir einen Orangensaft in ein Glas einzugießen. Genau genommen handelte es sich bei meiner Mum nicht um meine richtige Mutter, sondern um meine Tante Mütterlicherseits. Weshalb ich mit meinen roten Haaren und den graublauen Augen nicht weiter aus der Reihe tanzte. Meine leibliche Mutter starb vor Jahren bei einem Einsatz. Sie war Geisterjägerin und setzte ihr Leben tagtäglich aufs Spiel. Wie nicht anders zu erwarten – mit dem Tod meiner Mutter veränderte sich mein Vater. Die Trauer ließ ihn verkümmern und er war nicht mehr fähig, sich um seine Tochter zu kümmern, weshalb er mich bei meiner Tante abgab. So wurde es mir zumindest erzählt. Damals war ich gerade mal ein Jahr und ich kann mich nur noch vage an die Zwei erinnern. Manchmal fragte ich mich, wie es wohl gewesen wäre, hätte meine Mutter ihren gefährlichen Job aufgegeben, als sie ein Kind bekam – vielleicht würde ich dann nicht in Frankreich in einer Großfamilie leben. Aber Grübeln half auch nicht weiter, außerdem liebte ich Maggie und René wie meine eigenen Eltern, weshalb es mir, auch als sie mir, als ich alt genug war, die Wahrheit über meine Eltern sagte, niemals in den Sinn gekommen wäre, sie nicht mehr Mum und Dad zu nennen. Sie waren für mich meine Eltern, genauso wie Timmy, Robin, Liz und die Zwillinge meine Geschwister waren und um nichts in der Welt würde ich sie eintauschen wollen.
Ich vernahm ein lautes Bumpern, wenige Sekunden später schwang die Küchentür auf und Robin stürmte herein. Seine Wangen waren beinahe so gerötet, wie zuvor Mums. Die Röte verdeckte damit fast die zahlreichen Sommersprossen, die er so verabscheute. Meiner Meinung nach ließen sie ihn nur knuffig wirken, doch welcher kleine Bruder wollte das von seiner großen Schwester zu hören bekommen?
„Ich kann meine Brille nicht finden", rief der Kleine zur Begrüßung und hetzte durch den ganzen Raum. Die Aufregung schien ihn ganz hibbelig zu machen und zugleich auch ganz schön unaufmerksam.
„Halt mal", sagte ich mit einem Schmunzeln und hielt ihn an der Schulter zurück. „Du hast sie auf dem Kopf." Fahrig tastete er mit seinen Händen und wurde nur noch röter, als er das vertraute Metallgestell zwischen seinen Fingern ertastete.
„Ups", sagte er leise, schien jedoch schon um einiges erleichterter. Zufrieden ließ er sich auf einen Holzsessel fallen, während ich ihm ebenfalls einen Organgensaft eingoss und ein Schokoladencroissant auf einem Teller vor seine Nase stellte.
„Schon sehr aufgeregt?", frage ich, wobei ich das Offensichtliche aussprach.
Mit ganz großen Augen nickte er.
„Das schaffst du schon. Es wird eine großartige Zeit werden, glaub mir." Lächelnd drückte ich ihm einen Kuss auf den roten Haarschopf.
„Ich hab dich lieb, das weißt du."
„Ich hab dich auch lieb", murmelte er an meiner Schulter und ich vermisste ihn bereits jetzt.
„Du, Carrie?"
„Ja?" Neugierig sah ich auf.
Mit einem schokoladenbekleckerten Finger deutete er durch die Fensterscheibe nach draußen.
„War das nicht dein Bus?"
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