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Eine knappe Woche später war Remus gerade dabei, den Laden abends zu schließen. Es war kurz nach 18:00 Uhr, Avni, die drittälteste Tochter der Rezas und einzige Leseratte der Familie, geisterte noch durch die naturwissenschaftlichen Sachbücher, aber sonst war der letzte Kunde schon gegangen. Der September neigte sich dem Ende zu, Julie hatte sich in der Schule gut eingelebt. Jetzt gerade konnte Remus sie und Jerry draußen auf der Straße hören. Sie hatten mit Kreide ein Himmel-und-Hölle-Spiel auf den Fußweg gemalt und hüften unter lautem Gelächter darauf herum. Remus konnte sie immer mal wieder sehen, wenn sie an der offenen Haustür vorbei sprangen - keines seiner Kinder war mit besonderem körperlichem Geschick gesegnet, aber immerhin schienen sie es beide mit Humor zu nehmen, dass sie auf einem Bein nicht besonders lange das Gleichgewicht halten konnten.
Bedächtig strich er mit dem Besen über den Fußboden, kehrte den Dreck auf, den die Kunden über den Tag hinein getragen hatten. Später würde er, um sich Arbeit zu sparen, einen Ratzeputz durch die Wohnung jagen, aber das Kehren machte er jeden Tag mit der Hand (oder verdonnerte Jerry dazu), um das Bild aufrecht zu halten, aber auch weil er die Routine mochte. Es gab ihm einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren.
Harry hatte die Nachricht, dass es eine Zaubererwelt gab ähnlich gut aufgenommen, wie Remus die Tatsache, dass Harry anscheinend ein Parselmund war. Überrascht, etwas ungläubig, aber alles in allem recht positiv. Remus hatte ihm bei beiden Tatsachen geraten, sie lieber nicht auf der Straße zu erzählen und angeboten, dass er alle Fragen beantworten würde, die Harry so hatte. Wie sich herausstellte, war das ein unbedachter Vorschlag gewesen, da Harry ihn daraufhin mit derartigen Mengen an Fragen löcherte, dass er Julie Konkurrenz machen konnte.
Remus hatte sie alle beantwortet - das einzige, was er nicht wusste, war warum Harry mit Schlangen sprechen konnte. Er war sich ziemlich sicher, dass James und Lily beide kein Parsel gesprochen hatten. Vielleicht würde Harry irgendwann in Hogwarts einen Professor finden, der weiser war als Remus und ihm dir Frage würde beantworten können. Für den Moment war es einfach eines dieser Dinge, für die niemand so recht eine Erklärung hatte.
"Avni, ich müsste dich bitten, nach dem Kapitel Schluss zu machen", warnte er seine treueste Stammkundin (gleichauf mit Harry, der allerdings immer noch keinen Fuß in den Laden gesetzt hatte), als er am Sessel vorbei kam, auf dem sie es sich mit einem Buch über die Entdeckung des Neptun bequem gemacht hatte. Sie nickte, ohne davon aufzuschauen und Remus grinste ein wenig. Jerry war Sirius furchtbar ähnlich, Julie war ein Mix aus ihm und James, minus dem sportlichen Talent, dafür mit einer großen Liebe zu Geschichten, solange sie sie nicht selbst lesen musste, Musik und Filmen (am liebsten wäre sie jede Woche ins Kino gegangen). Triv, Jerrys (beste?) Freundin, war eine bizarre Mischung aus Mary, Marlene und Dorcas. Harry glich, je näher Remus ihn kennen lernte, zu gleichen Teilen seinen beiden Elternteilen - vielleicht mir einer leichten Tendenz zu James.
Vielleicht war Remus' System, die Kinder und Jugendlichen in seinem Umfeld mit seinen Freunden aus der Schulzeit zu vergleichen, weder sinnvoll noch wirklich fair, aber er konnte nicht anders. Avni Reza war auf jeden Fall ein eindeutiges Abbild seiner selbst. Gelegentlich mit einem leichten Schwung in Richtung Lily, aber das war selten. Er mochte die Zwölfjährige sehr, auch wenn es ihm manchmal Gedanken machte, dass sie praktisch ihre gesamte Freizeit hinter Büchern verbrachte.
Er kehrte zu Ende und machte dann einen Gang durch den Laden, um Bücher zu ordnen, die ihm direkt ins Auge fielen. Eine gründliche Sortierung würde er morgen früh machen, bevor er öffnete, während Jerry die Bestellungen sortierte. Edyta half ebenfalls manchmal im Laden aus, sie arbeitete an drei Tagen in der Woche jeweils drei Stunden vormittags, immer wenn Remus nicht im Krankenhaus war, und manchmal eine nachmittags, während Remus und Jerry Schulzeug machten. Sie kamen sicherlich nicht so schnell voran wie ein gewöhnliches Schulsystem mit über dreißig Stunden in der Woche, aber Jerry wusste bereits eine Menge und er las gern und so war seine Ausbildung sicherlich lückenhaft, aber Remus hielt sie nicht für ungenügend. Für einen Jungen jedenfalls, der erst mit 13 lesen gelernt hatte, war er sicherlich nicht so weit zurück, wie er hätte sein können.
Remus ging in Gedanken durch, was er morgen mit Jerry machen wollte - er hatte bei seinen quadratischen Gleichungen eine Quote von 60% richtig gelösten Aufgaben erreicht, von daher hatte er sich eine kleine Pause von Mathe verdient - als Mary den Laden betrat.
Sie sah sich bemüht entspannt um und Remus merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er stupste Avni an:
"Du solltest jetzt wirklich nach Hause gehen", schlug er leise vor, "sonst bekomme ich Ärger mit deiner Mutter. Wenn du aufpasst, dass du den Rücken nicht brichst, kannst du dir das Buch bis morgen leihen."
Avni sah ehrfürchtig zu ihm hoch, dann nickte sie, griff nach ihrer Tasche und dem Buch und verließ den Laden.
Mary wartete nervös am hinteren Ende des Ladens und trat von einem Bein aufs andere.
"Was ist passiert?", fragte er leise. Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.
"Remus, wir müssen etwas tun", wisperte sie, "wegen Harry. Ich hab heute noch einmal mit ihm gesprochen und er -" sie holte tief Luft "- Remus, ich hab ihn gefragt, ob sie ihn ordentlich behandeln, ob er Spielsachen hat, und er sagte, als wäre es das normalste der Welt, dass er sogar ein paar Spielzeuge mit in seinen Schrank nehmen darf."
Sie sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Remus runzelte die Stirn. Sie waren Eltern eines fünfjährigen Mädchens, sie hatten schon verrücktere Dinge gesehen, als ein Kind, das sich mit Spielsachen im eigenen Kleiderschrank verschanzte und so tat, als wäre es ein Höhlenmensch (die Geschichte war definitiv auf Jerrys Mist gewachsen, da war Remus sich bis heute sicher).
"Und?", fragte er also. Mary schüttelte den Kopf.
"Du verstehst nicht", sagte sie, "ich hab ihn gefragt, was er mit ihnen in seinem Kleiderschrank macht." Sie schluckte. "Er sagte, 'Nein, Miss Macdonald, nicht mein Kleiderschrank. Mein Schrank, in dem ich schlafe.'"
Remus klappte die Kinnlade herunter. Ihm war klar gewesen, dass Harry mit ihm nicht wirklich offen über seine Situation zu Hause sprach, aber das übertraf alles, was er sich ausgemalt hatte.
"Er schläft in einem Schrank?", wiederholte er ungläubig. Mary griff nach seinem Arm.
"Im Schrank unter der Treppe", bestätigte sie, "aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war die Art, wie er das erzählt hat. Als wäre es normal. Als wäre es richtig."
Remus schwieg. Ihm fielen wirklich keine Worte ein, wie sehr er die Dursleys jetzt gerade verabscheute.
"Remus, bitte sag mir, dass das handfest genug ist", flüsterte Mary. "Bitte sag, dass wir ihn da rausholen."
Remus nickte entschlossen.
"Wir holen ihn da raus", sagte er fest. Er hatte keine Ahnung, wie. Aber verdammt noch mal, er würde alles in seiner Macht stehende tun, damit Harry aus diesem Haushalt entkam. Lilys Blut oder nicht, alles wäre besser als das. Mary straffte die Schultern.
"Ok", sagte sie, "ich kann die Dursleys melden. Harry müsste aussagen, aber ich glaube, das würde er schaffen. Du...du müsstest dich als nächster Verwandter melden, ich kann es natürlich nicht machen, ich kann nicht Lehrerin und Elternteil zugleich sein, aber..."
Remus nickte.
"Ich kümmere mich, ich -"
Sie wurden von lauten Rufen von draußen unterbrochen.
"Dad! Mum!", rief Julie aufgeregt, "Tigger ist hier! Ihr müsst ihn streicheln!"
Mary und Remus tauschten einen Blick.
"Wir diskutieren das heute Abend aus", entschied Remus dann, "in Ruhe, mit einem klaren Kopf, nicht zwischen Tür und Angel."
"Mary! Remus!", rief jetzt auch Jerry. Remus hatte keine Ahnung, nach welchem Muster Jerry ihn Remus oder Dad nannte. Er vermutete, es war einfach willkürlich. Er konnte sich nicht einmal wirklich daran erinnern, wann er ihn das erste Mal Dad genannt hatte. Er vermutete, es war von Julie hinübergeschwappt. Mary nannte er allerdings relativ konstant bei ihrem Namen (auch da war aber schon mehrfach ein Mum gefallen). Remus hatte die starke Vermutung, dass das übrig gebliebene Loyalität zu Kera war, die ihn sieben Jahre lang groß gezogen hatte. Gut, sie hatte ihn am Ende verlassen, aber dennoch. So viel Zeit, insbesondere im Alter von sechs bis dreizehn, verschwand nicht einfach.
Julie nannte Mary und Remus Mum und Dad. Remus hatte damals überlegt, ob er versuchen sollte, das von ihm und Sirius geplante "Moony" durchzusetzen - aber es wäre für sie vermutlich erstens verwirrend gewesen, da alle ihr gegenüber von Remus als "dein Dad" sprachen und zweitens hätten ihn die Leute gefragt, warum sie ihn bei einem Spitznamen nannte - und Remus wollte nicht unbedingt allen Leuten erklären, dass Julie eigentlich einen anderen Vater hatte, dem dieser Name gehörte.
Julie jedoch wusste ganz genau, dass Remus nicht ihr einziger Dad war. Er und auch Mary legten großen Wert darauf, ihr von Sirius zu erzählen, ihr zu erzählen, wo sie herkam und dass sie nicht ihre leiblichen Eltern waren.
Er hatte eine Freundin in der Schule gehabt, die erst mit sechzehn erfahren hatte, dass sie adoptiert war und so ein Gefühl von Vertrauensbruch wollte er Julie niemals geben.
"Kommt schnell, sonst ist er wieder weg!", drängelte seine Tochter jetzt von der Straße aus.
Mary und Remus machten sich auf den Weg zu ihnen, bereit, den mysteriösen Kater kennen zu lernen.
Irgendwie hatte er damit gerechnet, dass er Julies Lieblingskatze auf ihrem Schoß finden würde, aber nichts dergleichen. Sie saß auf einem Mäuerchen im Vorgarten, gut einen Meter von Julie und Jerry entfernt und starrte sie direkt an.
Remus verstand jetzt, warum sie sie Tigger getauft hatten. Mal abgesehen davon, dass Winnie Puuh Julies und Jerrys Lieblingsbücher und -Disneyfilme waren, hatte die Katze feine helle Streifen auf dem Rücken.
Was sie außerdem hatte, war ein ziemlich gruseliges Starren und rechteckige Muster um die Augen. Sie sah vertraut aus. Zu vertraut.
"Bei Merlins allerlängstem, verzwirbelten Barthaar", stieß Mary hervor und ergänzte noch weit weniger elegant: "Ja, leck mich doch einer."
Remus suchte mit dem Finger einen der Akupunkturpunkte an seiner Schläfe, von denen er gelesen hatte, dass man sie drücken sollte, wenn man Kopfschmerzen hatte. Er hatte das Gefühl, dass er diese Technik in naher Zukunft gut brauchen können würde.
"Professor", sagte er verzweifelt, "was tun Sie hier?"
Die Katze blinzelte.
Jerry und Julie tauschten einen Blick und ein Grinsen.
"Professor?", fragte Jerry dann neugierig, "ist das ein Spiel? Nennen wir Tigger jetzt Professor?"
Remus versuchte sehr stark, nicht daran zu denken, dass sein älteres Kind seine ehemalige Hauslehrerin nach einem (männlichen) hyperaktiven Kinderbuchcharakter getauft und sein jüngeres vermutlich nachhaltig versucht hatte, sie zu streicheln.
Die Katze sprang von der Mauer und stolzierte an ihm vorbei in den Laden. Remus und Mary tauschten einen hilflosen Blick, dann folgten sie ihr, ihnen dicht auf den Fersen Jerry und Julie.
Er schloss die Tür hinter ihnen ab und zur Sicherheit auch noch die Wohnungstür zum Laden.
Jerry und Julie sahen mit offen stehenden Mündern zu, wie sich "Tigger" in eine hochgewachsene Frau um die fünfzig verwandelte.
"Ich habe gehört", sagte Professor Minerva McGonagall, ohne sich die Mühe einer Begrüßung zu machen, "dass Sie planen, gegen Professor Dumbledores Willen Harry Potter aus seinem derzeitigen Zuhause zu holen."
Sie sah streng zwischen Remus und Mary hin und her. Remus fühlte sich wieder wie in der Schule, als ihm das Herz in die Hose rutschte.
"Professor", sagte Mary vorsichtig, "die Dursleys sind furchtbare Menschen, sie..."
"Ich weiß", unterbrach sie die Professorin knapp. Dann breitete sich der winzige Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht aus. "Deshalb bin ich hier. Wann fangen wir an?"
Vorhang auf für Minerva McGonagall. Ihr dachtet doch nicht wirklich, dass ich diese Geschichte ohne sie schreibe, oder?
(Fun Fact am Rande: Ich habe noch keine einzige Harry-Potter-Fanfiction geschrieben, in der Professor McGonagall nicht zumindest einmal kurz vorkam xD)
Falls jemand bei "ein Buch über die Entdeckung des Neptun" aufgehorcht hat, kann ich nur "Die Akte Neptun" von Tom Standage empfehlen, ein sehr gutes Buch darüber, wie der Neptun damals mit Hilfe von Mathematik und nicht, wie alle vorher, mit dem Teleskop gefunden wurde :)
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