4
"Jerry, du musst nicht arbeiten", protestierte Remus zum vierten oder fünften Mal. "Du hast Urlaub, wir schmeißen den Laden ohne dich."
Jerry verdrehte nur die Augen und schob ein Lexikon auf einem der oberen Regalbretter an die richtige Stelle. Er trug weite Jeans, ein weißes T-Shirt mit einem offenen, locker sitzenden blau-grün karierten Hemd darüber und dazu diese militärartig aussehenden Schuhe, die gerade modern waren - Doc Martens? Remus war sich nicht sicher, ob das der richtige Begriff war. Seine bunten Cornrows hatte er locker nach hinten gebunden. Jetzt drehte er sich zu Remus um und lehnte sich gegen das Regal.
"Ich arbeite ja gar nicht", erklärte er. "Ich hänge hier nur rum. Sortiere vielleicht ein paar Bücher. Nerve Yoon." Er zwinkerte Yuna zu, die schmunzelte, während sie am Verkaufstisch die bestellten Bücher alphabetisch sortierte. Remus seufzte.
"Na gut", gab er nach. "Aber du kannst jederzeit gehen. Ich weiß, dass Luke noch Zeit mit dir verbringen wollte, bevor du morgen wieder fährst."
Jerry lächelte leicht.
"Ich weiß", sagte er. "Aber wir waren gestern den ganzen Tag unterwegs und Luke ist gerade sehr...energiereich." Er zögerte. "Und ich muss einmal kurz durchatmen."
Remus musterte sein Kind besorgt. Es war nicht typisch für Jerry, dass er sich von anderen zurückzog, wenn er eine Pause brauchte. Im Gegenteil, zumeist zog er Kraft daraus, unter Menschen zu sein.
"Alles ok?", fragte er leise. Jerry nickte.
"Nur...Kram", sagte er. Remus drückte seine Schulter. Als er merkte, wie sehr sich Jerry in die Berührung hinein lehnte, änderte er kurzerhand seine Strategie und zog ihn in eine kurze Umarmung, die sein Kind fester erwiderte, als er erwartet hatte. Remus' Vermutung, dass irgendetwas nicht stimmte, verfestigte sich. Aber er wusste, dass es nirgendwo hin führen würde, Jerry unter Druck zu setzen, ihm davon zu erzählen. Er würde von sich aus anfangen, zu reden, wenn er wollte.
Eine Kundin bewegte sich in seinem Augenwinkel und musterte ihn ein wenig erwartungsvoll, also ließ er Jerry los, warf ihm einen kurzen, entschuldigenden Blick zu und wandte sich dann an die Frau, die seine Hilfe wollte, um ein bestimmtes Buch zu finden.
Er führte sie in den Nebenraum, zeigte ihr das entsprechende Regal, dann fiel sein Blick auf die Kinderbuchecke, wo irgendjemand anscheinend nahezu alle Bücher herausgenommen und dann falsch zurückgestellt hatte. Mit einem kleinen Seufzen machte er sich daran, sie zu ordnen.
Als er zurück in den Hauptverkaufsraum kam, saßen Jerry und Yuna gerade hinter dem Verkaufstisch. Anscheinend hatte Jerry ihnen Kaffee organisiert, denn sie hatten beide eine dampfende Tasse in den Händen und schienen sich zu unterhalten.
"Wir sollten Remus überreden, auch mal Lesungen zu organisieren", sagte Yuna gerade. "Das klingt so cool!"
Jerry grinste.
"Tja, London hat auch seine Vorteile", berichtete er. "Letztens hat Stephen King bei uns eine Lesung gemacht, glaubst du das? Der Laden war voller als ich ihn je gesehen habe!" Seine Augen leuchteten und Remus schmunzelte. Es freute ihn immer noch, dass Jerry mit so großer Begeisterung Buchhändler war. Er hatte sich manchmal gefragt, ob er es einfach gemacht hatte, weil er keine wirklichen anderen Perspektiven gehabt hatte.
Im Sommer 1988, dem Sommer, nachdem Sirius zu ihnen zurück gekommen war, hatte Jerry einen Versuch gemacht, seine GCSEs zu schreiben, den Schulabschluss, den die meisten Teenager nach der elften Klasse, also mit sechzehn hatten. Leider hatten die Lücken in Remus' Unterricht und seine Lese-Rechtschreib-Schwäche dazu geführt, dass er seine Englisch- und Matheprüfungen nicht bestanden hatte. Das schlimmste an der ganzen Sache war gewesen, dass er eigentlich mit Triveni Reza, seiner besten Freundin, die im gleichen Jahr ihre A-Levels geschrieben hatte, nach London hatte ziehen wollen. Dieser Traum war geplatzt. Oder, naja, zumindest verschoben worden. Triv war alleine nach London gezogen und hatte eine Ausbildung zur Friseurin angefangen.
Während des darauf folgenden Jahres hatten Jerry und Remus noch einmal hart gebüffelt. Gleichzeitig hatte Jerry sich mit Trivs jüngerer Schwester Jhalak angefreundet, mit der die beiden vorher recht wenig zu tun gehabt hatten, die jetzt allerdings, wie Triv zuvor, im letzten Schuljahr gewesen war.
Im zweiten Anlauf hatten die Prüfungen geklappt, Jerry hatte einen richtigen Schulabschluss in der Hand und Remus hatte ihm daraufhin auch einen tatsächlichen Ausbildungsschein ausstellen können. Gemeinsam mit Jhalak war er dann doch endlich Triv gefolgt und nachdem die sich ein Jahr lang durch verschiedene WGs probiert hatte, die allesamt furchtbar gewesen waren, hatten sie sich kurz entschlossen zu dritt eine Wohnung gesucht. Triv hatte weiter ihre Ausbildung gemacht, Jhalak begonnen, Kunst zu studieren und Jerry arbeitete in einem Buchladen.
"Wie geht's eigentlich Jhalak?", fragte Yuna jetzt. "Sie war ewig nicht mehr hier, hab ich das Gefühl. Triv sehe ich andauernd, aber Jhalak nie."
Jerry zuckte mit den Schultern.
"Sie macht viel für die Uni", erzählte er. "Ich meine, ich arbeite auch viel, aber wenn ich fertig bin, gehe ich nach Hause, sie arbeitet gefühlt rund um die Uhr irgendwelche Vorlesungen nach oder an ihren eigenen Projekten." Er schmunzelte. "Aber ihre Sachen sind echt cool, das müsstest du mal sehen! Letztens hatte sie eine Phase, wo sie ganz viel abstrakte Kunst gemacht hat. Da haben wir dann bei uns im Wohnzimmer mit Dartpfeilen auf mit Farbe gefüllte Ballons geworfen und so."
"Ohh, das hat meine Schwester auch mal gemacht!", berichtete Yuna fröhlich. "Das Blöde an Kunst ist halt, dass man so schwer vernünftig bezahlte Jobs findet. Nyoko hat sich ewig von Nebenjob zu Nebenjob gehangelt, bis sie eine Festanstellung bei einem Verlag als Kinderbuchillustratorin bekommen hat."
Jerry grinste.
"Ich glaube, Jhalak würde eher im Ingenieursbüro ihrer Eltern als Sekretärin arbeiten, als Kinderbücher zu illustrieren", scherzte er. "Sie wird im Sommer fertig. Dann will sie hierher zurück und ein eigenes Atelier aufmachen. Wenn es finanziell nicht reicht, macht sie vielleicht parallel Kunstunterricht oder so."
Remus fiel auf, dass er immer noch im Türrahmen stand und den beiden zuhörte. Der Laden war leer, also war nichts verwerfliches daran, dass sie sich unterhielten. Sie waren vollkommen in ihrer Welt und Remus wollte sie ungern stören. Also duckte er sich hinter ein Regal und setzte seine Sortierung fort.
Yuna Nagata war vielleicht das beste, was ihm und dem Buchladen hätte passieren können. Nachdem Jerry durch die GCSEs gefallen war, hatte Remus wirklich dringend jemanden gesucht, der mit aushelfen konnte, während sie für die zweite Runde lernten. Mary hatte ihren Job, Sirius hatte seinen und Edyta, die früher gerne mal ausgeholfen hatte, war inzwischen über achtzig und körperlich einfach nicht mehr in der Lage, in einem Laden zu arbeiten.
Das Problem war, dass Remus nicht einfach eine Stelle ausschreiben konnte. Wie sollte er einem neuen Mitarbeiter erklären, warum sich das Lager von selbst sortierte? Oder wieso niemand je zu putzen schien? Oder wohin Remus an Vollmond verschwand? Einen Muggel anzustellen würde zwangsläufig bedeuten, ihn einzuweihen und das ging nicht so ohne weiteres. Gleichzeitig gab es wohl kaum einen Zauberer, der bereit war, in Little Whinging zu arbeiten.
Die Lösung war ausgerechnet von Mrs Figg gekommen. Sie hatte ihnen vorgeschlagen, doch eine Squib anzustellen. Wie es der Zufall wollte, hatte sie auch gleich eine im Kopf gehabt, die gerade dringend Arbeit suchte. Und so hatte im Herbst 1988 Yuna bei ihnen angefangen.
Inzwischen zählte Remus sie definitiv auch zu seinen Freunden. Yuna war etwas älter als er selbst, noch kleiner als Mary, stämmig und hatte mehr Bücher gelesen, als jede andere Person, die Remus je begegnet war. Sie sprach fünf Sprachen, darunter neben ihren Muttersprachen, Englisch und Japanisch, auch Mandarin und Deutsch, hatte vier ältere Geschwister, die alle magisch begabt waren und kam jeden Tag auf ihrem klapperigen, quietschenden Fahrrad zur Arbeit, von dem Remus schon seit vier Jahren darauf wartete, dass es irgendwann einfach zusammenbrechen würde. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als Remus ihr von seinem pelzigen Problem erzählt hatte und es auch nie kommentiert, wenn Sirius ihm morgens einen Abschiedskuss gab, bevor er das Haus verließ.
"Und du?", hörte er sie jetzt fragen. "Wenn Jhalak wieder zurück hierher zieht und Triv immer noch mit Robert zusammen wohnt, was machst du dann?"
"Richard", korrigierte Jerry. "Naja, Bill kommt ja wieder. Sein Jahr in Ägypten ist im Sommer vorbei, dann kommt er wieder nach London."
Remus hörte, dass Yuna grinste, als sie fragte:
"Das heißt, ihr könnt dann endlich zu zweit wohnen? Nur ihr beide?"
Jerry machte ein zustimmendes Geräusch.
"Wenn er das will." Er seufzte. "Wenn er dann so viel verdient, wie er jetzt in Ägypten bekommt und nicht mehr dieses magere Ausbildungsgehalt von vorher, sollten wir die Miete zusammen gut stemmen können. Bis dahin ist es nur noch so furchtbar lange hin."
Yuna lachte leise in sich hinein.
"Du schaffst das schon", tröstete sie ihn. "Wie lange seid ihr jetzt zusammen? Anderthalb Jahre?"
"Fast zwei." Er grummelte leise. "Aber eins davon war er eben fast komplett in Ägypten. Und wir sehen uns viel zu selten."
Remus strich mit den Fingern über die Buchrücken der frisch sortierten Kochbücher. Daher wehte also der Wind. Jerry hatte Liebeskummer. Remus konnte außerordentlich gut nachfühlen, in welcher Position sich sein Kind gerade befand. Schließlich hatte er mehr als genug Erfahrung darin, einen Partner zu haben, der weit weg war. Jerry und Bill konnten zumindest noch gelegentlich über Flohpulver sprechen oder Bill nahm einen Portschlüssel nach London, aber für eine junge Beziehung war es dennoch keine ideale Situation.
Wieder einmal war Remus froh, dass er Sirius inzwischen wieder hatte. Dass er Mary hatte, dass er Luke und Harry hatte, auch wenn Luke seinem älteren Bruder nach den kommenden Sommerferien in Hogwarts Gesellschaft leisten würde.
Remus schob einige Atlanten zurecht und seufzte leise, während er gleichzeitig auch lächelte. Sein Leben war ziemlich gut, im Moment.
Er hoffte sehr, dass Jerry auch sein Happy End finden würde.
Hey, sorry für die Verspätung! Eine kleine Frage in eigener Sache: durch Veränderungen in meinem Privatleben würde ich gerne den Samstag als Update-Tag weglassen. Ich bin aktuell an den Wochenenden sehr viel unterwegs und finde es schade, wenn ich a) nicht garantieren kann, dass das Kapitel morgens kommt und b) erst abends eure Kommentare lesen kann. Ich würde deshalb gerne zwei Tage unter der Woche zu Update-Tagen machen.
Frage: an welchen Tagen braucht ihr am dringendsten ein Kapitel zum Wachwerden? Ich hab an diesem Absatz fünf Kommentare hinterlassen für die jeweiligen Tage. Nutzt doch gerne die neue Like-Funktion, um eine kleine Abstimmung durchzuführen :)
Ich schau mir dann am Mittwoch an, wie es aussieht und welche Tage sich dann eignen würden. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich die beiden mit den meisten Stimmen nehme, weil ich schon ungern an zwei Tagen direkt hintereinander posten würde (am liebsten wäre mir Mo+Do oder Mo+Fr oder Di+Fr, weil es dann schön gleichmäßig ist).
Also, Zusammenfassung: bitte stimmt für eure Lieblingstage, das nächste Kapitel kommt erstmal noch im gewohnten Rhythmus MITTWOCH und dann gebe ich bescheid, wie es weitergeht!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro