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Einen Tag vor Julies erstem Geburtstag, zwei Wochen nach Jerrys Einzug, war wohl der letzte Augenblick, in dem Remus damit gerechnet hätte, doch noch eine Spur auf seiner verzweifelten Suche nach Beweisen für Sirius' Unschuld zu finden.
"Ein alter Freund von uns", hatte Mary Jerry und Quinn geantwortet. Es hatte Remus mehr geschmerzt als er erwartet hatte. Er hatte Sirius seit anderthalb Jahren nicht gesehen, war keinen Schritt weiter, ihm zu helfen, vermisste ihn mit jeder Faser seines Körpers und hatte trotzdem ein komplett neues Leben ohne ihn aufgebaut, in dem er glücklich war.
Zu der Verzweiflung und der Wut, wie alles verlaufen war, gesellten sich nagende Schuldgefühle. Er hatte eine Familie, Freunde, einen Buchladen und Sirius saß in Askaban und hatte entweder schon aufgegeben oder er wartete jeden Tag darauf, dass Remus ihm helfen würde. Denn er war nicht schuldig. Sicher dachte er jede wache Minute an ihre Beziehung und Remus erwischte sich immer häufiger dabei, wie er es eine Weile nicht tat. Er fühlte sich furchtbar.
Am 13. Mai 1983 schmückte er gerade das Wohnzimmer mit bunten Girlanden, denn morgen würden sie hier Julies ersten Geburtstag feiern. Edyta hatte einen Kuchen versprochen, die Rezas und Jacksons wollten kommen und ihre Kinder mitbringen. Remus befestigte eine Luftschlange an einem Regal, als er hörte, wie unten jemand mit dem Fingernagel an die Fensterscheibe des Ladens klopfte. Er öffnete das Fenster im zweiten Stock und sah nach unten, um den Besucher auf das "Geschlossen"-Schild im Fenster aufmerksam zu machen, aber die Person starrte geradewegs zu ihm hoch und als er die Augen zusammenkniff, erkannte er Mrs Figg.
Sie kam selten in den Laden und wenn, dann erfüllte sie ihn mit dem Geruch von Kohleintopf und jeder Menge Katzenhaaren und ging mit einem neuen Groschenroman. Jetzt aber wirkte ihr Gesicht ernst und Remus vertraute seinem Bauchgefühl genug, dass er das Fenster schloss und sich beeilte, ins Erdgeschoss zu kommen.
"Was ist passiert?", fragte er, sobald er sie in den Laden gelassen hatte. Seit dem Gespräch bei der Eröffnung war keiner von ihnen in irgendeiner Weise auf ihre gemeinsame Vergangenheit beim Orden oder die magische Welt eingegangen. Es war von Mrs Figgs gesamter Körperhaltung recht deutlich, dass sich das gleich ändern würde.
"Ich hab gehört, du suchst nach einem Spion, der im Orden unterwegs war", bestätigte sie seinen Verdacht. Er nickte und hätte sich am liebsten geschlagen, dass er vergessen hatte, sie zu fragen, was sie wusste. "Ich hab vielleicht was für dich."
Er deutete wortlos auf einen Stuhl und sie setzte sich, die Handtasche auf dem Schoß, als säße sie in der U-Bahn und nicht in dem Gespräch, was möglicherweise einen Durchbruch bringen würde.
"Mein Haus war im Krieg Unterschlupf für alle möglichen Leute. Die meisten waren aus dem Orden und brauchten ein Versteck, aber einer, einer war anders." Sie lehnte sich nach vorne. "Ich wusste nicht, was an ihm mich gestört hat, bis ich das Dunkle Mal gesehen habe. Es war fürchterlich, ich dachte, das war's, Arabella, jetzt bist du weg vom Fenster." Sie räusperte sich leise. "Aber er wollte mich gar nicht ausschalten, er wollte weg von den Todessern, ich weiß bis heute nicht, wie er an meine Adresse gekommen ist. Hatte irgendeine wichtige Mission, dann wollte er zu Dumbledore und ihm alles sagen, was er weiß. Geheimnistuerisch, mir hat er nichts verraten, ich weiß nicht mal seinen Namen, nannte sich Reggie. Aber eins hat er gemacht, nämlich mich gewarnt, dass es einen Spion gibt. Er wusste aber auch nicht, wer es ist oder wie er heißt. Alles, was er wusste, dass die Quelle für Inside-Nachrichten aus dem Orden immer ein Mr W. war."
Remus sah sie gespannt an.
"Wer war dieser Mr W.?", drängte er. Sie zuckte mit den Schultern.
"Hab ich nie rausgefunden", meinte sie entschuldigend. "Einen Tag später ist er auf seine Mission gegangen und kam nie wieder. Ich hab's Dumbledore gesagt, aber dem ist da auch nicht viel zu eingefallen. Oder er hat es mir nicht verraten, der alte Geheimniskrämer." Sie sah ihn mitleidig an. "Tut mir leid, dass es nicht mehr ist als eine Initiale. Aber ich dachte mir, vielleicht hilft es ja trotzdem."
Remus versuchte, nicht allzu enttäuscht auszusehen. Ein Buchstabe. Ein einzelner Buchstabe. Welche Ordensmitglieder hatten einen Namen mit W? Erst fiel ihm niemand ein, dann erinnerte er sich daran, dass er zu 40% aus Weasleys bestanden hatte. Und es konnte ja auch die Abkürzung für einen Codenamen sein.
Es war der erste Hinweis seit 18 Monaten und er war vollkommen nutzlos.
~~~~~
Die Geburtstagsfeier war in vollem Gange und Remus versuchte, zu verheimlichen, dass er die Nacht nach gestern nicht geschlafen hatte. Schon vorher war er müde gewesen, den Vollmond vor wenigen Tagen noch in den Knochen - der erste Vollmond mit Jerry. (Es war überraschend positiv gewesen, sich nicht allein zu verwandeln, auch wenn es ihm in der Seele geschmerzt hatte, die Verwandlung seines Jungen zu sehen.)
Eigentlich hätte Remus mindestens zehn Stunden schlafen müssen, aber der mysteriöse Mr W. hatte ihn wachgehalten und er hatte stundenlang durch alles gewälzt, was er zum Orden zusammengetragen hatte. Er hatte nichts gefunden. Er hatte eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Mann handelte und eine geringe, dass es eine Frau war, die viel Aufwand um ihre Anonymität betrieben hatte.
Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht genug für Sirius tat und am nächsten Tag ein noch schlechteres, weil er unausgeschlafen Julies Geburtstag feierte. Vor ihrer Geburt hatte er sich so fest vorgenommen, dass sie immer vor seiner Suche nach Beweisen kommen würde. Und so war nun die Realität.
Aufgrund selektiver Wahrnehmung schien sie es ihm zum Glück nicht übel zu nehmen. Sie wirkte vollkommen zufrieden in einer Traube von Menschen - zusätzlich zu Jerry, Remus und Mary waren die Rezas mit vier Kindern da, die Jacksons mit dreien und Edyta fehlte natürlich auch nicht -, Geschenken und Kuchen. Mary hingegen warf ihm besorgte Blicke zu. Er bedeutete ihr, dass es nichts war.
"Alles gut, Junge?", erkundigte sich auch Edyta leise, als sie sich ein Stück abseits der aktuellen Kuchenschlacht neben ihn ans Regal lehnte. Remus nickte automatisch.
"Nicht gut geschlafen", schob er eine Ausrede vor. Edyta zog die Augenbrauen hoch.
"Kind, hör auf, mich anzulügen", brummte sie gutmütig. Dann nickte sie zu Mary hinüber, die gerade Julie ein großes Stück Kuchen vom Lätzchen fischte. "Du solltest sie einfach fragen, ob sie dich heiratet."
Remus sah sie zweifelnd an. Es war nicht das erste Mal, dass Edyta versuchte, ihn mit Mary zu verkuppeln. Für sie war es eine Frage von Logik: sie wohnten zusammen, sie hatten ein Kind, inzwischen konnte man argumentieren, dass es sogar zwei waren (Kind zwei löcherte gerade Nimit Reza mit Fragen über die Sicherheit von Gebäuden - ihm gefiel die fehlende Nässe und die Windstille in Häusern, aber er schien noch kein großes Vertrauen zu haben, dass sie nicht einstürzten, während er schlief. Nimit als Bauingenieur war nicht nur qualifiziert, ihm zu antworten, sondern auch noch hellauf begeistert, dass jemand Interesse an seiner Arbeit zeigte.)
Edyta hatte weniger Bedenken über Gebäudesicherheit und mehr darüber, dass Remus eine perfekte potenzielle Ehefrau vor der Nase hatte und anscheinend vorhatte, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Merlin wusste, er mochte Edyta wahnsinnig gerne, aber in dieser Hinsicht war sie ein klitzekleines bisschen anstrengend, auch wenn sie es vermutlich nur gut meinte.
"Edyta, ich habe kein romantisches Interesse an Mary", erinnerte er sie. "Es ist doch gut so, wie es ist."
Sie runzelte unzufrieden die Stirn.
"Ach was, das redest du dir nur ein", bestand sie auf ihrer Meinung. "Ich seh doch, wie du manchmal verträumt in die Gegend schaust. Ich bin 73, Kindchen, ich weiß, wie jemand aussieht, der verliebt ist. Also tu etwas dafür!"
Remus seufzte.
"Ich bin nicht in Mary verliebt", beharrte er und machte sich gleichzeitig eine gedankliche Notiz, in ihrer Gegenwart nicht so oft an Sirius zu denken. Ha, das würde sicher kinderleicht klappen.
"Willst du für immer single bleiben?", fragte sie irritiert und Remus platzte der Kragen. Es war einfach zu viel, er war nicht single, er war nicht in Mary verliebt, er hatte einen Mann, der heute hier sein und den ersten Geburtstag seiner Tochter feiern sollte.
"Ich bin schon verheiratet", sagte er also, so leise wie er konnte, aber dennoch mit Nachdruck. "Und ich werde ganz sicher nicht aufhören, darauf zu warten, dass wir uns irgendwann wiedersehen!"
Edyta wirkte kurz sprachlos und Remus nutzte die Gelegenheit, sich vom Regal abzustoßen und zu den anderen hinüber zu gehen. Jerry sah ihn überrascht an und Remus wurde sich schlagartig bewusst, dass die Menschen im Raum vermutlich nichts von seinem Ausbruch eben mitbekommen hatten, Jerry es allerdings wohl kaum überhört haben konnte. Er schüttelte leicht den Kopf und Jerry nickte. Remus atmete erleichtert aus. Als jemand, der in einem Rudel voller Geheimniskrämer aufgewachsen war, hatte Jerry, anders als andere Leute in seinem Leben, ein gutes Gespür dafür, wann ihn etwas nichts anging und sogar überraschend viel Akzeptanz dafür, anders als Remus bei einem Teenager erwartet hätte. Für Jerry war das Thema damit anscheinend abgeschlossen und er begann, sein drittes Stück Kuchen zu essen.
Er schaufelte sich das süße Gebäck in den Mund, die halblangen Haare fielen ihm ins Gesicht, aber seine Augen blitzten, während er die Kinder beobachtete, die sich um einen großen Spielzeugbagger drängten, den Julie von den Rezas bekommen hatte. Eine dünne, ziemlich verwackelte Linie Eyeliner zog sich über sein Augenlid und er trug seinen Lieblingspullover mit dem Motorrad vorne drauf. Und vielleicht war es Remus' Bekenntnis vor Edyta gerade eben, aber auf einmal, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen, konnte er nur Sirius vor zehn Jahren sehen. Er sah sich um und suchte den Spielzeugbesen, den Julie mit Sicherheit von Sirius bekommen hätte. Er erwartete, sein bellendes Lachen zu hören und zu sehen, wie er Julie auf seinen Knien auf und ab hüpfen ließ, bis sie laut lachte. In seinen Augen brannten Tränen, die schon lange, lange nicht mehr geflossen waren, er war so fokussiert auf alles gewesen, dass er seit November nicht mehr wirklich darüber geweint hatte, was passiert war.
Aber Sirius war nicht hier. Und die meiste Zeit war das erträglich, aber in diesem Moment nicht. Er holte zittrig Luft, versuchte, die Tränen wieder nach unten zu drücken, sich nicht die Blöße zu geben, dass er an Julies erstem Geburtstag weinte, statt feierte.
Schließlich wusste niemand außer Mary, wie viel Remus und Julie schon verloren hatten. Als er das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben, setzte er ein Lächeln auf, hoffte, dass niemand den Kampf eben gesehen hatte und ging direkt auf Mary und Julie zu. Beide sahen auf, Julie mit ihren riesigen, grauen, vertrauten Augen, die Remus' Kontrolle sofort wieder ins Wanken brachten. Sie strahlte ihn an. Streckte die Arme nach ihm aus.
Und dann sagte sie ihr erstes Wort. Kein Genuschel, eine klare Intention dahinter. Sie wusste, was sie wollte. Sie wusste, was sie sagte.
"Dada!"
Und Remus floh.
... es tut mir leid.
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