11
Remus hatte Angst gehabt, dass nach der ersten Welle der Neugier niemand mehr in den Buchladen kommen würde, aber er hatte Unrecht gehabt. Die Zahl der Besucher ebbte ab, pendelte sich aber in einer angenehmen Menge ein. Mary und Remus brauchten eine Weile, um Julie und den Laden zu koordinieren, in den ersten Wochen hing immer und immer wieder ein Schild in der Tür, dass sie gleich wieder kommen würden, wenn sie gleichzeitig gebraucht wurden.
Im März fing sich Julie eine heftige Erkältung ein und der Laden blieb für eine Woche geschlossen, während Mary und Remus zwischen Beruhigen des Kindes, Beruhigen des Anderen und panischen Besuchen bei Edyta oder den Jacksons oder Rezas versuchten, damit umzugehen, dass sie das ersten Mal wirklich krank war.
Aber auch das ging vorbei und irgendwann hatten sie eine Routine gefunden, mit der es sich gut leben ließ. Julie gefiel der Laden mit Menschen deutlich besser als ohne. Sie war ein ausgesprochen soziales Kind, liebte Leute über alles. Und wenn sie auf ihrer Decke saß und spielte oder durch den Laden krabbelte und irgendwelchen Unsinn anstellte (sie war wirklich eindeutig Sirius' Kind), fand sich oft auch ein Besucher oder das Kind eines Besuchers, der sich für einen Moment mit ihr beschäftigte.
Remus' Büro wurde als überflüssig erklärt, sieben Jahre in Hogwarts hatten dazu geführt, dass er beim Arbeiten alles und jeden ausblenden konnte und so wurden die Ladentheke und der Küchentisch in der Wohnung oben sein Schreibtisch und der kleine Raum, der in der unteren jetzt frei war, ein Spielzimmer, in das sich einer von ihnen mit Julie zurück ziehen konnte, wenn ihr die Menschen doch zu viel wurden.
Die größten Herausforderungen waren eigentlich, sie im Auge zu behalten (denn sie war schnell unterwegs, obwohl sie noch nicht laufen konnte), sie mittags zu einem Mittagsschlaf zu überreden und sie zu füttern (denn der Laden war meist viel spannender als was auch immer Remus und Mary ihr als Mahlzeit vorzusetzen versuchten).
Verglichen mit anderen Kindern in ihrem Alter wurde mehr und mehr deutlich, dass sie eine überdurchschnittliche Neugier und Spaß an Schabernack hatte (woher das nur kommen konnte), ihnen grobmotorisch und sozial eine Nasenlänge voraus war, feinmotorisch und intellektuell ein Stück hinterher, alles in allem also vollkommen durchschnittlich. Sie war inzwischen gut elf Monate alt und zog sich schon eine ganze Weile an Regalen oder Möbeln in eine stehende Position und von da aus an der Wand entlang. Allein laufen konnte sie noch nicht, aber lange würde es wohl nicht mehr dauern, denn ihre Neugier war Motivation genug.
Mit dem Sprechen hatte sie es auf der anderen Seite nicht so. Sie ahmte wild alles mögliche nach und brabbelte aufgeregt vor sich hin, ein richtiges erstes Wort war jedoch noch nicht gefallen, es sei denn man zählte "bah", was aktuell die Universalbezeichnung für alles von Essen über Remus und Mary bis hin zu ihrem Teddy war.
Aber das Leben war gut. Es wäre besser gewesen, wenn Remus endlich mehr Ergebnisse zu Sirius gehabt hätte, aber egal wie viel er recherchiert hatte, ein paarmal sogar verreist war, er kam keinen Schritt weiter. Natürlich hing Sirius' Abwesenheit kurz vor Julies erstem Geburtstag immer noch über allem. Aber das Leben passierte trotzdem. Julies Leben passierte trotzdem. Und auf eine eigenartige Weise hatte sich alles in einen Rhythmus gesetzt, in dem die Welt irgendwie in Ordnung war.
Zwei Wochen vor Julies erstem Geburtstag wurde dieser Rhythmus jedoch wieder ordentlich durchgeschüttelt.
Remus war gerade oben in der Wohnung, hatte Julie zu ihrem Mittagsschlaf überredet und die Reste ihres Mittagessens beseitigt, als er unten die Ladenglocke hörte, ein Geräusch, das inzwischen so gewöhnlich war, dass er es kaum noch registrierte, als er die Treppe wieder nach unten hüpfte.
"Entschuldigung, aber jemanden unter diesem Namen kenne ich nicht", sagte Mary gerade, als er den halben Treppenabsatz erreichte und weckte damit wieder seine Aufmerksamkeit.
"Sie verstehen nich', ich weiß, dass er hier is', ich...", die andere Person brach ab. Remus blieb stehen und spitzte die Ohren. Es war entweder eine recht hohe Männerstimme oder eine recht tiefe Frauenstimme oder die eines Jugendlichen mitten im Stimmbruch und sie kam ihm vage bekannt vor. Viel hilfreicher zur Identifikation jedoch war interessanter Weise seine Nase. "Ich weiß es. Bitte, ich kann verstehen, wenn er mich nich' sehen will oder so, aber ich hab nich' wirklich...naja, ich hab nich' wirklich 'nen and'ren Ort, wo ich hin kann."
Marys Stimme wurde weicher.
"Es tut mir wirklich leid, ich kann Mr Lupin fragen, ob er mehr weiß, aber er hat nie von jemandem erzählt, der Raoul Rawlins heißt."
Remus blinzelte, dann beeilte er sich, die Treppe nach unten zu nehmen und den Laden zu betreten. Dort angekommen kam er schlitternd zum Stehen.
Da stand ein Teenager, mit zerschlissenen Klamotten, viel zu langen gekräuselten dunklen Haaren, die ihm ins Gesicht hingen und einem Sack aus Tuch über der Schulter. Als Remus ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er elf oder zwölf gewesen, das war vor anderthalb Jahren gewesen. Er sah trotzdem nicht viel älter aus.
"Jerry", sagte er überrascht. Jerry wirkte nicht weniger erstaunt.
"Raoul?", fragte er. Aus dem Augenwinkel nahm Remus war, wie Mary überrascht die Augenbrauen hob und auch zwei andere Kunden beobachten skeptisch das Geschehen um den dreckigen, und - man konnte es nicht wirklich schönreden - stinkenden Jugendlichen, der mitten im Buchladen so fehl am Platz wirkte wie eine Vogelscheuche im Hörsaal einer Universität. Ein riesiges Grinsen breitete sich auf Jerrys Gesicht aus und er drehte sich wieder zu Mary um, tippte gegen seine Nase: "Ich wusste doch, dass er hier is'!"
Mary blinzelte, ihr Blick suchte Remus' und ihr Mund formte den Namen "Raoul?". Er verdrehte die Augen und drehte sich wieder zu Jerry um, der sich staunend umsah.
"Schicke Hütte", sagte er beeindruckt und sehr viel lauter als es sich für einen Buchladen eigentlich gehörte. "Is' das deine? Wohns' du hier? In 'nem echten Haus mit Dach un' allem?"
Remus warf den Kunden und Mary einen entschuldigenden Blick zu und trat dann näher an Jerry heran.
"Was machst du hier?", fragte er leise und besorgt, statt zu antworten. "Wo sind die anderen?"
Jerry zuckte mit den Schultern.
"Gibt's nich' mehr wirklich", brummte er, "aber du hast mal gesagt, dass ich immer zu dir komm' kann, wenn ich ma' Hilfe brauch'..." Er wurde leiser zum Ende. Dann sah er zu ihm hoch, ein wenig unsicher: "Du has' nicht zufällig was zu essen, oder?"
Remus holte tief Luft, dann nickte er und deutete ins Treppenhaus.
"Na komm, ich schau, was ich finde."
Jerry nickte aufgeregt und folgte ihm schnell.
"Mega", sagte er. Er schaute über seine Schulter und warf noch einen Blick auf die Regale. "Sin' das alles Bücher? Steht da echt überall was and'res drin?"
Remus schmunzelte.
"Ja."
"Is' ja krass."
Remus öffnete die Tür zu seiner Wohnung.
"Rede ein bisschen leiser, ok?", bat er, als sie eintraten, "meine Tochter schläft gerade."
Jerry sah sich um, die Augen so groß wie Servierteller.
"Schicke Bude", kommentierte er, "du hast 'ne Tochter? Ist die Frau unten im Laden deine Frau? Es riecht nach ihr."
Remus steuerte auf die Küche zu und Jerry folgte ihm auf dem Fuße ohne ein einziges Mal seinen Redeschwall zu unterbrechen.
"Das ist Mary", schob er zumindest mal die Antwort auf eine der hundert Fragen ein, als Jerry doch mal kurz innehielt. "Sie ist eine gute Freundin von mir und sie wohnt auch hier."
"Aber sie is' 'n Mensch", stellte Jerry fest. Remus musterte ihn noch einmal von oben bis unten.
"Ja", sagte er dann nur. "Aber sie ist in Ordnung." Er holte tief Luft. "Ok, Jerry, hier ist der Plan: du gehst duschen, ich schau mal, dass ich ein paar Klamotten für dich finde und dann mach ich dir was zu essen warm. Klingt nach einem Plan?"
Jerry nickte aufgeregt, hielt seinen Sack hoch.
"Aber ich hab' Sachen zum wechseln. Da is' sogar 'ne Jeans drin, die hat nich' ma' viele Löcher", erklärte er stolz. Remus starrte ihn an, dann nickte er.
"Ok", gab er nach. Jerry grinste breit und Remus zeigte ihm das Bad (und wie man eine Dusche bediente.) (Und die Funktion von Shampoo.)
Eine Viertelstunde später saß der Jugendliche an Remus' Küchentisch und vernichtete systematisch alles Essbare, was Remus auf die Schnelle gefunden hatte. Zeitgleich redete er wieder ohne Punkt und Komma.
"Naja, auf jeden Fall sin' die Zauberer irgen'wann nich' mehr gekommen, was blöd war, weil das Rudel irgen'wie voll abhängig von dem Kram war, den die mitgebracht ha'm. Dann gab's immer mehr Streit un' die Hälfte der Leute is' dann weg, wollten nach Osteuropa, weil's da für uns irgen'wie besser sein soll. Kera is' mit und wollte, dass ich auch komm', aber ich wollte auf dich warten, aber du bis' irgen'wie nich' mehr gekomm'. Un' dann kamen vor 'n paar Wochen wieder Zauberer, aber diesma' and're, die wollten, dass wir uns irgen'wo registrieren und Grit is' voll ausgetickt. Ich glaub' echt, sie hat ein' von den' gefressen." Er grinste und schob sich noch einen Löffel Nudeln in den Mund. Remus zog besorgt die Augenbrauen zusammen. "Dann sin' die Zauberer irgendwie auch ausgerastet un' ha'm auf uns geschoss'n un' ne Menge mitgenomm'. Keine Ahnung, was mit den' passiert is'. Wir andern sin' weggelaufen und dann hab ich kein' mehr wieder gefunden. Vielleicht hatten sie auch kein' Bock mehr auf mich, jetz' wo Kera nich' mehr da war."
Remus schwieg und für einen Moment wurde es still, bis auf das Kratzen von Jerrys Löffel auf dem Teller.
"Sie haben dich einfach so zurückgelassen?", fragte er dann tonlos. "Ich dachte, im Rudel geht es um Gemeinschaft?"
Jerry zuckte mit den Schultern.
"War nich' mehr viel Gemeinschaft übrig, haste ja selbs' gemerkt", brummte er dann. "Die Hälfte fand das gut, was die Zauberer gesagt ha'm, die andre Hälfte nich' un' als sich dann alle, die noch cool waren verpisst ha'm war das Rudel Geschichte."
Remus öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn wieder, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Jerry hatte praktisch sein gesamtes Leben im Rudel verbracht. Soweit Remus wusste, kannte er nichts anderes. Und jetzt hatten sie ihn einfach zurückgelassen.
"Du bist dreizehn", sagte er dann. "Oder vierzehn? Du bist ein Kind, sie können dich doch nicht einfach zurücklassen."
Jerry zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nich' so genau, wie alt ich bin, aber ich bin kein Kind mehr. Ich hab' Bart und alles." Er deutete auf sein Kinn, wo eine einzelne Bartstoppel kaum sichtbar hervorlugte. Remus vergrub das Gesicht in den Händen und er hörte wie Jerry auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
"Hör ma', Raoul", sagte er dann, "ich komm schon klar, ich wollt' eigen'lich nur ma' hallo sagen. War in der Nähe un' hab dich gerochen, war eigen'lich Zufall. Un' Essen war halt 'n bisschen schwierig in letzter Zeit. Aber du musst dich jetz' nich' kümmern oder so."
Remus hob seinen Kopf und sah ihn zweifelnd an.
"Jerry, wovon hast du dich die letzten Wochen ernährt? Wann hast du das letzte Mal warmes Wasser gehabt? Wo hast du geschlafen?"
Jerry musterte ihn, sagte aber nichts. Remus nickte.
"Dachte ich mir."
Das Kapitel ist leider etwas aus dem Ruder gelaufen und ich musste es teilen. Deshalb ist das Ende ein bisschen abrupt. Übermorgen gibt es die zweite Hälfte. Was sagt ihr zu Jerry bisher?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro