• 5 •
„Mum, was denkst du, leben blinde oder anders behinderte Menschen ihr Leben bewusster? Machen sie sich zum Leben mehr Gedanken?"
Harry war nun schon vier Tage zu Hause und würde morgen um 15:00 Uhr von seiner Mutter von Holmes Chapel nach Manchester gefahren, wo er den Flug um 17:00 Uhr zurück nach London nehmen würde.
Die junge Frau, der er vor vier Tagen begegnet war, wollte ihm jedoch nicht aus dem Kopf. Es faszninierte ihn, dass sie trotz ihres Handicaps einem ganz normalen Job nachging und sich wie es schien kein bisschen von der Behinderung einengen ließ. Er war beeindruckt von ihren sicheren Bewegungen im Raum, dachte er doch immer, dass sich blinde Menschen überall mit den Händen rantasteten.
Seine Mutter sah ihn etwas überrascht an. Gerade noch hatten sie von seinen Tourplänen und Gratistickets für sie gesprochen und jetzt wollte er von ihr eine Antwort auf eine Frage, die sie von ihm definitiv nicht erwartet hatte. Ihr Sohn war schon immer ein mitfühlender Mensch gewesen und trug sein Herz auf der Zunge, aber sie hatte ihn noch nie über Menschen mit einer Behinderung reden hören.
„Kommt ganz drauf an", hörte sie sich sagen, „Ich würde sagen, dass sich einige Menschen, die im Verlauf ihres Lebens mit einem Handicap konfrontiert werden, mehr Gedanken über ihr Leben und den Sinn dahinter machen. Ihnen wurde etwas genommen, was sie zuvor wahrscheinlich als selbstverständlich gesehen haben oder sich einfach daran gewöhnt hatten, mit zwei Beinen oder sehend durchs Leben zu gehen. Ich wage zu behaupten, dass bei Menschen, die erst nach ein paar Jahren ihres Lebens plötzlich damit umgehen müssen, einiges an Frustration herrscht – zumindest anfangs. Und darauf folgen die Gedanken. Wenn wir frustriert sind, dann fragen wir uns doch auch, warum dieses oder jenes passiert ist und versuchen, eine Antwort zu finden. Dadurch hat man automatisch tiefere Gedanken über gewisse Dinge. Aber ich bin mir auch sicher, dass es solche gibt, denen es grundsätzlich zu viel ist, und die es nur noch als Last sehen."
Anne sah, dass die Rädchen in Harry's Kopf arbeiteten und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sein distanzierter Blick gehörte genauso zu einem solchen Moment wie seine kraus gezogene Stirn.
„Hm", machte er und dachte weiter darüber nach.
„Darf ich fragen, was dich beschäftigt?", fragte die Braunhaarige.
Harry's Blick fokussierte sich wieder auf seine Mutter, und räuspernd fragte er, weshalb sie dachte, dass ihn etwas beschäftigte. Es sei nur eine Frage gewesen, die ihm im Kopf herumgeschwirrt wäre.
„Aha", entgegnete Anne und Harry hörte, dass sie nicht überzeugt war.
Er stand auf und begab sich in die offene Küche neben dem Wohnzimmer, wo er Wasser kochte und einen Teebeutel in je eine Tasse fallen ließ.
Seine Gedanken fuhren Achterbahn und er merkte zu spät, dass die erste Tasse bereits voll war und durch sein unerlässliches Einschenken nun überlief.
„Shit!", fluchte er leise, mit einem Lappen den kleinen See um die Tasse herum aufwischte und etwas Wasser aus der Tasse schöpfte.
Seine Mutter hatte ihn jedoch gehört und tadelte: „Harry, du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du fluchst."
„Sorry Mum", erwiderte der Lockenkopf, während er immer noch mit den Teetassen beschäftigt war.
Anne schüttelte lächelnd den Kopf und gesellte sich zu ihrem Sohn in die Küche.
„Denkst du, das ist der Grund, dass sie nicht so viel auf die Meinung anderer geben?", fragte Harry erneut und reichte seiner Mutter die weniger volle Tasse Tee.
'Man wird nicht immer alle Menschen um sich rum restlos überzeugen können.' Dieser Satz wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er wusste noch, wie sehr ihn diese Aussage der jungen Blondine beeindruckt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht einmal gewusst, dass sie blind war und jetzt, wo er es wusste, machte es sie noch interessanter als es ihr gesundes Selbstbewusstsein schon zuvor gemacht hatte.
Es dauerte einige Sekunden, bis die Angesprochene verstand, auf welchen Gedanken seines Sohnes die Frage folgte und einige mehr, bis sie eine Antwort bereit hatte.
„Das ist bestimmt einer der Gründe. Ich kenne aber leider auch einige Menschen mit einer Behinderung, mit der sie erst mit einem gewissen Alter lernen mussten umzugehen; die nicht ganz so gut damit umgehen können und nichts oder nur sehr wenig Positives sehen können. Deine Ur-Großmutter Sue zum Beispiel. Sie hatte sich nie mit ihrem Gehörverlust anfreunden können und ich nehme ihr das auch gar nicht übel. Nur die wenigsten Mensch können die Gebärdensprache und somit wurde ihr mit dem Verlust des Hörens auch die Möglichkeit, sich mit ihrem Mitmenschen zu unterhalten, genommen. Obwohl alle ihre Kinder und Enkel die Gebärdensprache gelernt hatten und somit mit ihr sprechen konnten, starb sie sehr einsam."
Daran hatte der Sänger gar nicht gedacht. Seine Mum hatte ihm früher oft von seiner Ur-Großmutter erzählt und er hatte bisher nur größte Bewunderung für sie übrig gehabt, dass sie ohne ihren Mann noch so lange weitergelebt hatte – auch mit ihrer immer akuter werdenden Behinderung.
Dies nun so zu hören, nahm nichts von der Bewunderung aber ließ ihn mit noch mehr Mitleid an diese starke Frau denken.
Während er an den Antworten seiner Mutter herumstudierte, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb schlussendlich an einem Foto im Wohnzimmer hängen.
Langsam ging er darauf zu und hob den Rahmen von der Kommode. Es zeigte seine Mutter mit seinem Stiefvater, den sie vor nun bereits drei Jahren hatte gehen lassen müssen. Ein Stich in seinem Innern verrieht ihm, dass er diesen Mann noch immer schmerzlichst vermisste und ließ ihn automatisch nach seiner Mum umsehen. Wenn es ihm schon so ging, wie musste es denn für sie sein?
Anne hatte gerade ihren Tee auf den Esstisch abgestellt und sah mit einem Lächeln zu ihrem Sohn. Die Trauer in ihren Augen war jedoch unübersichtlich.
„Wie geht's dir Mum? Ich habe das Gefühl, wir haben die ganze Zeit über mich gesprochen", meinte Harry und ging zu seiner Mutter.
„Es schmerzt noch immer. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich abends meist gar nicht, wie ich den Tag gemeistert habe, ohne in Trauer zu versinken."
Harry's Herz brach für seine Mutter. Mit dem ersten Mann klappte es nicht und mit der Liebe ihres Lebens war ihr nur eine begrenzte Zeit gewährt gewesen. Das Leben war nicht fair, das wusste er, aber für seine Mum hätte er sich so viel weniger Seelenschmerz gewünscht. Sie war immer da, wenn er sie brauchte. Bevor sie Robin kennengelernt hatte, hatte sie den Haushalt und alles alleine gemeistert, ohne sich jemals darüber zu beklagen. Sie war eine Powerfrau und ließ es sich selten anmerken, wenn es ihr schlecht ging, aber Harry wusste, dass sie litt – selbst wenn sie ihm das nicht soeben gesagt hätte.
Er nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich.
„Es tut mir so leid!"
Er hätte ihr sagen wollen, dass sie das nicht verdient hatte und dass er es hasste, sie gerade in dieser Zeit alleine zu lassen, aber er sagte es nicht. Es half ihr in dieser Situation nicht. So wiegte er sie bloß in seine Armen, legte seinen Kopf auf ihren Kopf und wiederholte diesen Satz.
Anne erwiderte nichts, aber sie wussten beide, wie viel ihr dieser Moment bedeutete.
„Hast du alles beisammen?", fragte die Brünette am nächsten Tag als sie ihren Sohn mit der großen Umhängetasche um die Schulter ins Wohnzimmer treten sah.
Der Angesprochene nickte und folgte seiner Mutter zum schwarzen Landrover hinter dem Haus.
Die dreißig minütige Autofahrt zum Flughafen verlief größtenteils stumm – beide hassten Abschiede, für wie lange oder kurz sie auch waren. Bevor Harry jedoch aus dem Auto stieg, gab er seiner Mutter noch eine letzte lange Umarmung.
„Lade die Person doch einfach auf einen Kaffee ein und unterhalte dich. Ich bin mir sicher, sie gibt noch so gerne darüber Auskunft, wie sie ihr Leben mit dem Handicap meistert, wenn du in einem normalen Gespräch anständig und unaufdringlich fragst", sprach sie ihm ins Ohr.
Der Sänger löste sich von ihr und sah in das lächelnde Gesicht seines Lieblingsmenschen. Wie immer, wenn sie mehr wusste, als er ihr erzählt hatte, dachte er daran, wie gut eine Mutter sein Kind doch kannte. Sie wusste ganz genau, dass er eine Begegnung mit jemandem gehabt haben musste, die ihn in Gedanken zurückließ. Obwohl das vor allem in seinen Teenagerjahren alles andere als cool war, war er nun umso dankbarer, dass sie ihn verstand – auch ohne Worte.
Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ein 'Danke', ehe er ausstieg und ohne zurückzublicken mit Blitzlicht-Begleitung ins Flughafengebäude trat.
***
09:50 Uhr zeigte die Uhr an seiner Küchenwand. Wenn er jetzt duschen und danach gemütlich zum Massagestudio spazieren würde, wäre er zwar bereits circa eine halbe Stunde nach Ladenöffnung dort, aber es würde dennoch nicht allzu verzweifelt wirken, oder? Lachend schüttelte er den Kopf. Seit wann gab er einen Deut darauf, was andere von ihm hielten? Er, Harry, brauchte eine Massage und ging deswegen in das Studio, von dem er wusste, dass die Dienstleistung super war. Und er brauchte sich auch gar nicht zu rechtfertigen.
So schlenderte er also zwanzig Minuten später durch die weniger bekannten Gassen und Straßen, wo er nur einmal um ein Selfie angehalten wurde und somit wie zuvor ausgerechnet um halb elf vor dem einladenden Geschäft mit der Überschrift 'London Oasis' stand. Gut gelaunt und auf ungläubige Blicke der Rezeptionistin gefasst, trat er ein.
Doch obwohl er sich nicht wirklich darüber Gedanken gemacht hatte, hatte er dennoch nicht damit gerechnet die Blonde Masseurin bereits hier zu sehen. Sie trug das gleiche Outfit wie schon bei ihrer ersten Begegnung. Weiß und grün war hier wohl das Farbschema.
Da er sah, wie die junge Blinde ihren Kopf in die Richtung ihrer Arbeitskollegin drehte, hielt er es für angebracht, sich nun auch bei ihr bemerkbar zu machen.
„Guten Morgen" begrüßte er die beiden und musste ab Macy's überraschtem Gesichtausdruck, der sich langsam in ein süffisantes Grinsen wandelte, lachen.
Die schöne Brünette strich sich eine Strähne hinters Ohr und meinte dann ziemlich keck: „Guten Morgen Herr Styles, Ihre Verspannungen müssen ja sehr schmerzhaft sein, dass sie Sie um diese Uhrzeit bereits zu uns führen."
„Sie haben ja keine Ahnung", gab er ebenso sarkastisch zurück.
„Nun, heute ist das Glück auf Ihrer Seite, denn unsere liebe Ms Delco ist frei und kann Sie direkt massieren."
Die soeben Erwähnte lächelte freundlich und sah Harry dabei aufs Kinn.
„Wäre das dann eine Rückenmassage oder darf es noch etwas Weiteres sein?", fragte Nuala, während sie ihm voraus in den Massageraum trat.
„Ich mochte die Kopfmassage sehr gerne, also nehme ich das auch noch dazu", antwortete Harry schmunzelnd und begann bereits, sich sein Shirt über den Kopf zu ziehen, während die Blonde alles vorbereitete.
Es war auf seltsame Art und Weise befreiend zu wissen, dass die junge Frau nicht direkt in eine Schnappatmung oder dergleichen verfiel, sobald er sich eines seiner Kleidungsstücke entledigte. Selbst wenn er die anzüglichen Blicke in gewissen Situationen genoss, so war die Abwesenheit jeglicher Schwärmerei aufgrund seines Aussehens eine erfrischende Abwechslung.
„Sie können sich nun hinlegen, Mr Styles", erklärte sie ihm.
Lachend befolgte er ihre Anweisung und erwiderte: „Haben wir uns nicht aufs 'Du' geeinigt?"
Sein Kopf lag bereits im runden Ausschnitt im Massagetisch, wodurch er ihre Entschuldigung etwas gedämpft hörte.
Nachdem seine Kleidung mit einem Tuch vor Ölspritzern geschützt war, erklärte Nuala, dass sie nun mit der Massage beginnen würde und alsbald spürte er ihre kleinen aber kraftvollen Hände auf seinem unteren Rücken.
Die Massage tat unglaublich gut und seiner unprofessionellen Meinung nach waren viele seiner verspannten Muskeln bereits gelöst.
Die Kopfmassage entsprach ihm genauso wie schon beim letzten Mal. Hierbei konnte er ganz abschalten und sich fallen lassen. Das einzige, worauf er sich konzentrierte, war das gute Gefühl, das Nuala's Massage auslöste.
Viel zu schnell war diese jedoch zu Ende und er hörte, wie sie sich die Hände im Waschbecken hinter ihm zu waschen begann.
Etwas benebelt, da er beinahe eingeschlafen wäre, drückte er den Zeigefinger und Daumen gegen seinen Nasenrücken und streckte sich einmal fest, wobei ihm ein gähnender Laut entwich.
Die junge Frau lachte und neckte, dass er besser noch etwas Schlaf nachholen würde, bevor der ganze Trubel um ihn wieder begann.
„Ich habe das Gefühl, dass ich sagen kann, was ich will, du stempelst es wieder als Ausrede ab", gab er zurück und zwinkerte automatisch, bevor er merkte, dass sie die Körpersprache ja gar nicht lesen konnte.
Mit dieser Erwiderung erntete er ein erneutes Lachen und ein Geständnis, dass er mit seiner Vermutung wohl richtig lag.
„Ich versuche es dennoch: Ich bin so selten zu Hause, dass ich aus der mir zur Verfügung stehenden Zeit so viel schöpfen möchte wie möglich. Da steht Schlaf dann meist im Weg."
„Das verstehe ich tatsächlich. Dann möchte ich dich nicht noch länger aufhalten. Ich wünsche dir ein paar schöne letzte Tage und dann eine erfolgreiche Tour", hörte er Nuala sich verabschieden.
Irgendwie fühlte er sich vor den Kopf gestoßen. Irgendwas war in seinem Plan schiefgelaufen. Er hatte sich doch mit ihr unterhalten wollen, mehr über sie und ihr Leben mit ihrer Behinderung erfahren wollen. Aber, was hatte er sich auch erhofft? Dass er während einer Massage ein tiefes Gespräch über das Leben und die Dinge, die es manchmal in ihre Richtung warf, führen konnte? Ein Massagestudio war kein Ort dafür. Und da kam ihm eine Idee.
„Nuala, ich weiß, das hört sich vielleicht ein wenig abgedreht an, aber ich habe nur noch zwei Tage, bevor ich am Samstag nach New York zurückfliege. Ich habe noch so viele Fragen, die ich dir noch nicht stellen konnte und würde dies gerne nachholen. Darf ich dich morgen zu einem Kaffee einladen?"
Erst als er fertig gesprochen hatte, merkte er, wie sehr diese Frage sich nach einer Einladung zu einem Date anhören musste, weswegen er klarstellte, dass es dies nicht sei.
„Sowas wie ein Treffen zwischen zwei Freunden, die sich einiges zu erzählen haben."
Harry wartete einige Sekunden, ehe er eine Antwort hörte, mit der er gar nicht gerechnet hatte: „Ich weiß nicht, Harry. Ich würde mich sehr gerne unterhalten, aber ich möchte keine Gerüchte in den Umlauf bringen, nur weil ein Fotograf uns beim Verlassen eines Cafés ablichtet."
„Dein Argument ist berechtigt. Erlaube mir jedoch zu ergänzen, dass die Medien immer Gerüchte streuen. Ob es nun genug Beweise gibt oder nicht. Wenn der erste Teil deiner Antwort aber nicht gelogen war, dann hätte ich da eine Idee."
——————————
Was das wohl für eine Idee ist? Was denkt ihr?
Hey meine Lieben, nur noch zwei Kapitel (Kapitel 6 + Epilog) und dann ist diese Geschichte auch bereits zu Ende.
Was denkt ihr, wird da noch alles passieren?
Lasst das Ratespiel beginnen ;-P
Ihr seid alle so toll und motiviert mich echt, qualitativ gute Kapitel zu schreiben, wann immer ich Zeit dazu finde. Danke für eure wahnsinns Unterstützung!
Glg
Eure StephVi
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro