Kapitel 10 - Joa
Nach wenigen Minuten ist Masao bereits wieder zurück. Er trägt ein ausgewachsenes Reh auf den breiten Schultern, eine Blutspur zieht sich von dessen Kehle über Masaos rechte Seite bis hin zum Boden. Der junge Mann schleppt seine Beute mühelos in eine Ecke, legt es ab und geht anschließend zu einer Lücke im Dach, um sich das Blut von dem Tier mithilfe des heruntertropfenden Wassers von den Händen zu waschen.
Kurz darauf entflammt er seine Hand und bringt den Holzstoß in der Mitte des Raumes zum Glühen. Einen Augenblick später brennt ein überschaubares Feuer und eine angenehme Wärme breitet sich aus.
Kurz darauf hat er einen langen, schmalen Holzast zu einem Spieß umfunktioniert. Damit spießt er einzelne Teile des Rehs auf und hält sie daraufhin über das Feuer. Er erwischt genau die perfekte Bratzeit, sodass sich eine wohlwollende Wärme in mir ausbreitet. Gierig schlinge ich die Stücke, die mir Masao reicht, hinunter, als wäre es mein letztes Mahl.
Dabei lässt mich Masao nicht aus den Augen, wodurch ich mich zunehmends unwohl in meiner Haut fühle. Eine unangenehme Stille breitet sich aus. Ich höre sogar auf zu essen, auch wenn ich im Moment nichts lieber tun würde.
Plötzlich bricht Masao das Schweigen. Er schaut mich dabei an, jetzt aber nicht mehr beobachtend, sondern vielmehr gutherzig.
"Du fragst dich sicher, warum ich dir geholfen habe." Ich nicke. "Hiao hat meine Eltern getötet. Ich habe nur durch Glück überlebt. Seitdem treibt mich der Gedanke an Rache an. Nur mithilfe dieses Ansporns bin ich stärker geworden. Außerdem möchte ich meine Familie wiederfinden, denn ich glaube nicht, dass sie tot ist. Es kann einfach nicht sein!"
Bei seinem letzten Satz beginnen seine Hände zu brennen, außerdem treten Funken aus seinen Augen. Ein furchterregender Anblick. Ich bin froh, dass er diese Kraft nicht auf mich fixiert. Aber ich kann seine Geschichte durchaus verstehen. Da ich selbst meine gesamte Familie verloren habe, weiß ich ganz genau, welche Gefühle er hat.
"Da du aus Hiaos Gefängnis geflohen bist, sehe ich dich nicht als Feind an. Möglicherweise kannst du mir sogar helfen, ihn zu finden. Sag mir alles, was du über ihn weißt."
Mit mitleidigem Blick sehe ich ihn an. "Es tut mir leid, aber bis auf die Tatswache, dass er Gefängnisdirektor ist, weiß ich nichts."
Masao ballt die Fäuste. Er konzentriert mich und es wirkt so, als würde er mich prüfen. Als er seine Hände wieder öffnet, sieht er mich an. Aus seinen Augen spricht eine enorme Leere, er tut mir wirklich leid. Allerdings wird mir dieser Ausdruck nach einigen Minuten zu viel und ich wende den Blick ab.
"Nun gut. Ich werde dir noch etwas über mich erzählen. Nachdem ich meine Eltern verloren habe, habe ich mich erst einmal allein durchgeschlagen, bin nie lange an einem Ort geblieben. Weiters habe ich verschiedene Namen angenommen, doch Masao ist immer schon einer meiner Lieblingsnamen gewesen. Außerdem habe ich auch lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich Magie beherrsche. Daraufhin bin ich zu einem Lehrmeister gegangen und habe ihn gefragt, ob er mir beigringen kann, wie man Feuer kontrollieren kann. Ich weiß, dass man Feuer am besten mit Feuer bekämpft, deshalb habe ich die gleiche Magie wie Hiao gelernt, um ihn irgendwann einmal besiegen zu können."
"Du scheinst ein hartes Leben hinter dir zu haben."
"Noch ist es nicht vorbei, aber es wird vermutlich ähnlich weitergehen."
"Stimmt, du sagst es. Was ich aber eigentlich sagen will ist, dass du auf dich aufpassen sollst. Manchmal kann das Leben eine unerwartete Wendung einschlagen, und dein ganzer Plan wird über den Haufen geworfen. So war es beispielsweise bei mir. Ich habe ein schönes Leben mit meiner FAmilie genossen, als einestages mir unbekannte Männer erschienen und meine Frau und meinen Sohn erschossen haben. Daraufhin haben sie mich mitgenomen und in dieses Gefängnis gesteckt. Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit seit dem vergangen ist, ich weiß auch nicht wie alt ich genau bin. Wenn man jeden zweiten Tag jemanden umbringt, dann verliert an schnell einmal jegliches Zeitgefühl."
"Aber dann bist du geflohen? Einfach so?"
"Naja, einfach so ist vielleicht zu weit gegriffen." Verlegen fahre ich durch meine Haare. "Ich bin aus dem Gefängnis draußen, aber noch bin ich auf der Flucht. Mittlerweile sind womöglich schon einige Personen auf meine Flucht angesetzt, ich bin mir zielich sicher, dass ich in irgendeinerweise verfolgt werde. So, als wüsste der Feind jede meiner Bewegungen, als warte er nur mehr auf den einen Augenblick, wo ich einen Fehler mache."
Durch die angeregte Diskussion habe ich voll und gan auf mein Essen vergessen, doch nun beiße ich wieder in das mittlerweile kalt, aber dennoch saftige Rehstück. Nichtsdestotrotz beobachte ich Masao genau.
"Wo willst du jetzt eigentlich hin?" Masao sieht mich forschend an. Selbstverständlich habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich bin zwar jetzt aus der Gefängnisumgebung rausgekommen, aber wo will ich hingehen? Nachdem man mich höchstwahrscheinlich überall im Land suchen wird, bleiben wohl oder übel nicht mehr so viele Orte zum Verstecken.
"Ich weiß es nicht genau. Auch wenn ich regelmäßig darüber nachdenke, ich komme zu keiner pausiblen Lösung. Ich habe auch keine Ahnung, was ich jetzt machen will. Obwohl ich einen ungefähren Plan habe, bis ich dahin komme, muss ich noch viel stärker werden."
Schon komisch. Ich vertraue einem Wildfremden so weit, dass ich ihm erzähle, was ich vorhabe und was nicht. Wieso interessiert er sich eigentlich so für mich? Ist er möglicherweise ein Spion? Besort frage ich deshalb:
"Eine Frage Masao, warum bin ich für dich so interessant? Wieso hilfst du mir? Warum willst du wissen, wohin ich gehe?"
Masao wirkt etwas ertappt, doch dann antwortet er gänzlich ruhig. "Ich weiß was du denkst. Aber ich kann dir versichern, dass ich kein Spion bin. Das Einzige, das mich antreibt, ist meine Wut und meine Rache an Hiao. Ich helfe dir, weil du auch gegen Hiao ankämpfst, schließlich bist du aus seinem Gefängnis geflohen. Folglich unterstützt du ihn nicht. Die Feine meiner Feinde sind meine Freunde. Außerdem, wenn ich dir helfe, dann kannst du mir vielleicht auch irgendwie helfen."
Ich merke deutlich, dass er irgendetwas verbirgt. Allerdings frage ich nicht nach. Keine Ahnung warum, aber ich tu es einfach nicht. Schweigend blicke ich ihn daher an. Er wendet den Kopf ab und studiert die Bodenplatten der Holzhütte.
Beide von uns warten darauf, dass der andere etwas sagt. Da Masao keinerlei Anstalten dazu macht, übernehme ich diese Aufgabe.
"Übrigens, danke dass du mich gerettet hast. Ohne dich wäre es wahrscheinlich schlecht ausgegangen. Aus welchem Grund auch immer du mir geholfen hast, du hast ir definitiv das Leben gerettet. Wärst du nicht gewesen, wäre ich entweder verblutet," ich deute auf meinen Verband, welcher sich auf meiner verletzten Schulter befindet - Masao hat ihn mir verpasst, "oder ich wäre zurück in das Gefängnis geschafft worden."
Masaos Wangen nehmen einen leichten rötlichen Schimmer an. Er winkt mit seiner Hand ab und sagt dazu, er würde mir immer wieder gerne helfen, solange ich mich nicht mit Hiao verbünden würde.
Dies macht mich stutzig. Nicht die Aussage mit Masao, nein, mittlerweile habe ich schon gemerkt, dass er Hiao nicht recht leiden kann. Es ist vielmehr der vorangehende Satz, dass er mir immer wieder gerne helfen würde. Wieso sollte er dies tun? Kennt er mich irgendwoher? Ich habe sein Gesicht jedenfalls noch nie gesehen, auch wenn mir teilweise Züge bekannt vorkommen. Vielleicht sieht er einem ehemaligen Gegner von mir ähnlich.
Offenbar hat Masao mein Zögern bemerkt, denn er wechselt schnell das Thema. Obwohl ihn dies verdächtig machen sollte, spüre ich nichts dergleichen. Anscheinend sieht mein Geist ihn nicht als Verräter an.
"Denkst du, du wirst wieder eine Familie gründen?" Masaos Stimme hallt in meinem Kopf wider. Familie gründen? Kann ich sowas, nachdem ich meine einzig wahre Familie verloren habe? Familie gründen. Will ich das überhaupt - oder habe ich Angst davor, sie erneut zu verlieren? Familie gründen...
"Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt habe ich bis jetzt nie so richtig über eine neue Familie nachgedacht. Außerdem kann es sein, dass ich das Familienleben nach all den Jahren verlent habe." Allerdings sage ich ihm nicht, dass bei dem Gedanken an eine Familie Glücksgefühle durch meinen Körper strömen. Auch wenn ich es vielleicht nicht wahrhaben will, aber mir ist dennoch klar, dass ich alles für eine Familie geben würde.
Masao sagt nichts, er nickt nur mit seinem Kopf. Kurz darauf schaut er auf und in seinen Augen stehen Tränen. Obwohl sie kaum merklich da sind und obwohl er sie schnell wegblinzelt, so kann ich trotzdem auch die Traurigkeit spüren, die von ihm ausgeht.
Irgendetwas muss ich tun, damit ich diese Einsamkeit und diese Wut komprimieren kann. Kurz überlege ich, was ich sagen soll, doch schon kurz darauf habe ich einen ungefähren Plan zurechtgelegt. Kurzerhand lege ich los.
"Was sind richtig schöne Momente im Leben, an die du dich gerne erinnerst? Das mache ich auch immer, wenn ich traurig bin - an schöne Momente denken. Manchmal werde ich zwar dadurch noch einsamer, allerdings durchströmt mich meist ein Glücksgefühl."
Masao blickt mich an. Lange sitzen wir einfach nur da und sehen uns gegenseitig an. Dann blickt Masao zu Boden. Einen Augenblick später richtet er seine Augen wieder auf mich. Dann antwortet er auf meine Frage.
"Da ist dieser eine Moment. Meine Eltern sind mit mir auf einem Berg gewesen, wir haben oben ein Picknick abgehalten und über alles mögliche gesprochen. Mein Vater hat dann herumgeblödelt, und ich natürlich mit ihm. Er hat mich auf seine Schultern gehoben, danach sind wir wie ein Riesenhase herumgehopst. Meine Mutter hat uns lachend zugesehen, doch dann sind mein Vater und ich den Hang heruntergekullert. Anfangs sind wir alle geschockt gewesen, als wir jedoch in dem tiefblauen Bergsee gelandet sind, da ist es wieder lustig geworden. Kurz darauf hat die beste Wasserschlacht begonnen, die ich je erlebt habe, es ist bisher auch die einzige. Meine Mutter ist jedoch nicht in das kühle Nass gekommen, sie ist am Ufer stehengeblieben und hat uns besorgt beobachtet, auch wenn sie es nicht geschafft hat, sich das Lachen zu verkneifen. Am ende ist jedoch auch sie patschnass gewesen, da wir ihr gegenüber kein Erbarmen gezeigt haben. Am Abend sind wir immer noch auf dem Berg gewesen, allerdings haben wir unsere Kleider bereits getrocknet und wir sind einfach nur dagesessen. Dann, als der Sonnenuntergang gekommen ist, haben wir uns alle umarmt und uns dann auf den Weg gemacht. Erst ziemlich spät in der Nacht sind wir zuhause angekommen."
Obwohl ich die Geschichte nicht selbst erlebt habe und auch wenn ich nicht vorkomme, fühle ich mich, als hätte mir gerade jemand gesagt, ich sei ein Springbrunnen. Meine Augen quellen über vor lauter Tränen, meine Nase läuft und meine Schulter heben und senken sich während ich schluchze. Ich hätte nicht gedacht, dass Masao eine so traurige Geschichte auspacken würde, er kennt mich doch kaum.
Auch in seinen Augen stehen Tränen, allerdings lächelt er auch, als hätte er den Moment gerade erlebt. Sogleich weiß ich, dass mein Tipp geholfen hat, er strahlt bereits viel mehr Fröhlichkeit aus. Seine Augen scheinen sich auch verändert zu haben, sie sehen wirklich aus, als hätten sie genau das gebraucht.
Während ich versuche, mich wieder unter Kontrolle zu bringen, überlege ich mir auch eine schöne Geschichte. Lange brauche ich nicht nachzudenken, denn alle schönen Momente, die ich bisher erlebt habe, sehe ich noch genau vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich sie erlebt habe.
Also fahre ich fort, als meine Stimme wieder brauchbar ist, und beginne, ihm den schönsten Moment zu beschreiben,bei dem ich je dabei sein durfte.
"Schön dass es dir geholfen hat, Masao. Ich nehme an, du erwartest dasselbe nun von mir. Nun gut, mit Freude werde ich dir meinen Lieblingszeitpunkt mitteilen.
Es hat zu der Zeit stattgefunden, als mein Sohn gerade ein Jahr alt geworden ist. Meine Frau und ich haben eine Mini-Praty für ihn organisiert, bei der nur wir drei eingeladen gewesen sind. Zuerst haben wir einmal die Torte verputzt, welche wir gebacken haben. Danach haben meine Frau und ich unseren Sohn umarmt und ihm seine Geschenke überreicht. Allerdings ist das Hauptaugenmerk dieses Abends nicht auf den Geschenken gelegen. Wir haben nämlich eine Tor mit ihm geplant. Aus diesem Grund sind wir zuerst zu einem hohen Wasserfall gegangen, woraufhin wir unter dem Wasser nach oben geklettert sind. Oben angekommen, habe ich meinen Sohn gefragt, ob er etwas ganz Tolles ausprobieren möchte. Er hat mit "Buububuul" geantwortet und mich angegrinst. Kurz darauf habe ich in fest gehalten, habe meine Frau geküsst und ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, und dann bin ich von oben gesprungen. Den ganzen Weg, den Wasserfall wieder hinab sind wir geflogen und mein Sohn hat sich an mich geklammert, er hat dabei allerdings noch breiter gelächelt und vor Freude gekreischt. Als wir dann unten angekommen sind, hat er erst einmal eine Menge Wasser geschluckt, doch dies hat ihm nicht die Freude verdorben. Ganz im Gegenteil, als er seine Mutter wieder erspäht hat, ist er mir beinah aus den Armen gestürmt und auf meine Frau zugeschwebt. Für ihn war es vermutlich wie schweben, aber in Wirklichkeit habe ich ihn getragen. Als er bei ihr gewesen ist, hat er sich sofort hochheben lassen und die Geschichte seiner Mutter erzählt. Auch wenn er sich sehr bemüht hat, im Endeffekt ist nur "Babapatschbubul" herausgekommen. Kurz darauf sind wir heimgegangen und haben die ganze Zeit Fliegergeräusche gemacht, wodurch er noch glücklicher geworden ist. Letztendlich ist er in meinen Armen eingeschlafen und wir sind das letzte Stück schweigend nachhause gegangen."
Selbstverständlich sind meine Augen während der Geschichte feucht geworden, doch Masao geht es ähnlich. Er wischt sich auch die ganze Zeit über die Augen, auch ihn hat die Geschichte berührt. Doch wir beide lächeln in diesem Moment, welcher nur aus Glückseligkeit zu bestehen scheint.
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