Der erste Weihnachtstag ist der Tag, an dem mal die ganze Familie hier zusammensitzt. Meine Frau Hannah hat einen wunderbaren Gänsebraten gezaubert, für die fleischlosen unter uns sogar eine Alternative. Endlich kann sie entspannt neben mir sitzen und ich mit ihrem Bruder über irgendwas Belangloses unterhalten. Ich habe mich aus jeglichen Gesprächen ausgeklinkt und beobachte meine Familie schweigend.

Meine geliebte Mutter, die mit ihren achtzig Jahren noch fit wie ein Turnschuh ist. Sie liebt es, Seniorensport zu treiben und ihren Garten zu pflegen. Das Backen liebt sie genauso sehr, hat sie doch alle Familienmitglieder mit prall gefüllten Keksdosen beschenkt. Wann soll ich die nur bloß essen? Ach könnte doch ihr Mann, mein Stiefvater, sie so sehen. Ihm würde das Herz aufgehen. Bei dem Gedanken daran kann ich mir das Lächeln nicht verkneifen.

„Was schaust du so?", fragt sie mich.

„Ach, es ist grad so schön", lautet meine Antwort.

Hannahs Eltern sitzen ihr gegenüber. Mein Schwiegervater hat einen Arm um die Stuhllehne seiner Frau gelegt und beobachtet sie beim Erzählen. Er ist ein ziemlich kritischer Mensch, aber an dem Essen seiner Tochter etwas auszusetzen, traut er sich nicht. Warum auch? Es war super. Der Mann ist längst pensionierter Lehrer, aber den Studienrat kriegt man nicht aus ihm heraus. Die Kinder nannten ihn früher deshalb heimlich Opa Korrekt. Wenn ich heute daran denke, muss ich schmunzeln.

Rechts neben mir sitzt meine Schwester, tief versunken in die Unterhaltung mit der Schwiegermutter. Wenn sie redet, sind ihre Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Sobald sie sich für ein Thema begeistert, schaut sie so. Dabei gestikuliert sie mit den Händen, um ihren Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen.

Die Wichtigsten, neben Hannah und meiner Mutti sind selbstverständlich meine drei Chaoten. Wie immer sitzen sie am Ende des Tisches. Merle, meine älteste Tochter, sitzt auf der linken Seite. Sie zeigt ihren Geschwistern etwas auf ihrem Handy. Auch wenn sie schon 25 ist, wird sie für immer meine Prinzessin bleiben. Bald wird sie ihr erstes Staatsexamen haben und mir wird das Herz ganz schwer. Am Tischende und damit in der Mitte ist Chloe, unser Sandwichkind. Wenn ich so da sehe, mit ihren blonden Haaren, geflochten zu einem Zopf, den sie schon früher gerne trug, sehe ich immer noch das kleine Mädchen vor mir sitzen. Dabei ist sie doch bereits 22. Dass sie heute überhaupt mit am Tisch sitzen kann, ist als Polizistin nicht selbstverständlich. Es ist ihr einziger freier Tag an den Festtagen. Auf der rechten Seite sitzt Florian. Mein einziger Sohn wird im kommenden Jahr Abitur machen und damit wird auch unser Nesthäkchen erwachsen. Er hat bereits den Führerschein gemacht und darf mit uns begleitet Autofahren. Das ist so surreal. Als wir meine Mutter heute abholten, ist sie vor stolz beinahe umgefallen. Wie doch die Zeit vergeht. Viel zu schnell, das wird mir immer wieder bewusst.

Weihnachten zeigt mir jedes Jahr wieder, was eigentlich im Leben zählt. Nämlich die eigene Familie, meine Familie. Die Bescherung und all das drumherum ist gar nicht mal wichtig. Nicht einmal das Essen ist es. Wer weiß, wie oft wir noch so zusammenkommen. Wann werden meine Kinder ihre eigenen Familien gründen? Werden sie eines Tages ähnliches denken, wie ich gerade?

Hannahs Bruder bringt Schnaps an den Tisch. Florian möchte mitprobieren, wir lassen ihn. Es ist ja schließlich Weihnachten und bald wird er sowieso 18. Wir stoßen gemeinsam auf das Weihnachtsfest an. Ich beteilige mich wieder an den Gesprächen, an den Lachern und an den Geschichten. Genieß den Moment, der jetzt viel wichtiger zu sein scheint, als es mir vorher überhaupt bewusst war.