KAPITEL 9 | STANDOFF
»Bishop!«, rief Alloy und riss die Arme hoch. »Nicht schießen!«
»Was?«, fauchte Jaxon. »Wieso nicht?«
»Weil der Prinz nicht der Feind ist!« Alloy warf einen Blick über ihre Schulter. »Nimm die Waffe runter, Jax!«
»Er soll zuerst die Waffe runter nehmen.«
»Cassian!«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, meldete sich der Prinz von hinter der Säule zu Wort.
»Ihr müsst mir vertrauen«, sagte Alloy. Aus dem Augenwinkel sah sie Bishops hellblonden Haarschopf hinter einem der oberen Fenster eines nahen Gebäudes auftauchen. »Bishop! Wir müssen reden! Reden! Nicht schießen!«
»Der Prinz soll seine Waffe weglegen«, erwiderte Bishop.
Alloy wandte sich an Cassian. »Jetzt mach schon.«
»Und wer garantiert mir, dass sie mich nicht umlegen, sobald ich meine Waffe weglege?«
»Ich!«, fauchte Alloy.
Cassian lugte hinter der Säule hervor. »Ach ja?«
»Du redest doch ständig davon, dass wir Freunde wären, also verhalte dich auch so.«
»Ich habe aber keine Wahl.«
»Wieso?«
»Weil ich die Informationen, die ich gesammelt habe, zum Madrefio bringen muss. Heute noch.« Cassians Blick bohrte sich in Alloys. »Du weißt, warum.«
»Alloy!«, rief Bishop und Alloy wandte sich wieder ihm zu. »Wenn wir uns nicht beeilen, werden Thindrel und die anderen Clans den Zugang zu den Ruinen finden und dann gibt es ein Blutbad.«
»Ally!« Jaxon wedelte mit seiner Waffe. »Wach auf! Dieser Wichser hat dir die Nase gebrochen.«
»Hab ich nicht! Hat er nicht«, antwortetet Cassian und Alloy im Chor.
»Sie ist nicht gebrochen«, schob Alloy hinterher.
»Dafür wird er trotzdem bezahlen«, sagte Jaxon und wischte sich mit der Hand über die geröteten Augen.
Er weint, erkannte Alloy.
Und dann wurde ihr klar, dass ihr kleiner Bruder vermutlich unter dem Einfluss des Roh-Koperniums stand. Das violette Leuchten würde ihn noch emotionaler und damit noch impulsiver machen.
So schnell sie konnte, verließ sie ihre Stellung zwischen Cassian und Bishop und vertrat Jaxon den Weg.
»Was soll das?«, knurrte ihr Bruder, blinzelnd und schniefend.
»Jetzt beruhige dich erstmal«, erwiderte Alloy.
»Mich beruhigen?« Jaxons Waffenhand schnellte vor, wie der Kopf einer angreifenden Schlange. »Dieser Kerl hätte dich beinahe gekillt. Und wen ...« Ihr Bruder schluchzte. »... wen hab ich denn noch, wenn du weg bist?«
Alloys Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Unsinn«, widersprach sie und senkte die Stimme zu einem sanften, vertraulichen Tonfall. »Das ist doch Unsinn, Jax. Cassian hätte mich nicht ge-«
Plötzlich legte sich ein Arm um ihren Hals und sie wurde ruckartig zurückgezerrt, bis sie gegen Cassian stieß. Ehe sie sich versah, drückte der Lauf einer Pulswaffe in ihre Seite.
»Cassian«, ächzte Alloy und fasste nach seinem Arm, der ihr merklich, aber nicht bedrohlich, die Luft abschnürte.
Cassians Umarmung lockerte sich etwas, allerdings nicht genug, damit sie freikommen konnte. Das hätte ihr in Anbetracht des blau glühenden Waffenlaufs, der sich zwischen ihre Rippen bohrte, aber auch nicht viel geholfen.
»Was soll das?«, keuchte Alloy.
Cassian presste sich enger an sie. »Wonach sieht es denn aus?«, flüsterte er ihr, Wange an Wange, ins Ohr. »Ich verbessere meine Situation.«
»Das überlebst du nicht«, flüsterte Alloy zurück. »Bishop wird dir ein zweites Arschloch verpassen.«
»Wow«, machte Cassian gedehnt. »Du hast ja ein richtiges Schandmaul.« Die metallischen Sammelspulen am vorderen Ende seiner Waffe fanden eine unbedeckte Stelle an Alloys Taille und gruben sich eiskalt in ihre nackte Haut, sodass sie erschrocken zusammenzuckte. Cassian packte sie fester. »Bishop ist der Typ mit dem Gewehr, ja?«
»Er arbeitet für den Vasilesko-Clan«, raunte Alloy. »Das sind brutale Gangster.«
»Lass meine Schwester los!«, mischte sich Jaxon ein und kam mit der Waffe auf sie zu.
»Einen Schritt weiter und von deiner Schwester bleibt nur noch etwas Staub übrig«, warnte Cassian.
»Jax!«, fauchte Alloy. »Mach, was er sagt.« Wegen der Säule hatte sie keinen Sichtkontakt zu Bishop, aber sie versuchte es trotzdem. »Bishop! Cassian wird mir nichts tun, wenn ihr die Waffen weglegt.« Leiser raunte sie: »Ist doch so?«
Cassian gab einen unschlüssigen Laut von sich. »Kommt darauf an, wie sehr ich deinem Bruder und deinem Freund vertraue.«
»Du musst mir mal ein bisschen entgegenkommen«, zischte Alloy. »Immerhin versuche ich, dein Leben zu retten.«
»Mein Leben ist vorbei«, zischte Cassian zurück. »Alles, was zählt, ist, dass ich meine Informationen – zusammen mit den Aufnahmen dieser Stadt – ins Madrefio bringe.« Cassian zerrte Alloy herum und presste sich zusammen mit ihr an die Säule. »Wenn irgendwer mich zu erschießen versucht, dematerialisiere ich Allys Arsch! Ist das klar?«
»Klar.« Bishop spazierte, geradezu gemächlich, in Alloys Sichtfeld. Er hielt sein Gewehr am Lauf und ließ es demonstrativ auf die staubige Straße plumpsen. »Jaxon, leg die Waffe weg.«
»Aber-«, begann Jaxon, doch Bishop fiel ihm ins Wort.
»Erinnerst du dich, worüber wir gesprochen haben?«
Jaxon starrte Cassian über Alloys Kopf hinweg hasserfüllt an und für einen Moment befürchtete Alloy, er könnte Bishops Anweisung ignorieren und einen Fehler machen, der sie möglicherweise das Leben kosten würde, doch dann fluchte er und ließ die Waffe sinken.
»Her mit den Waffen«, befahl Cassian.
Bishop trat gegen das Gewehr, sodass es über das Straßenpflaster zu Cassian und Alloy rutschte. Im Gegensatz zu Jaxon zeigte er keinerlei Anzeichen dafür, dass das Kopernium einen Effekt auf ihn hatte. Allerdings war Alloy sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt weinen konnte. Bestimmt wurde das von einer seiner Körpermodifikationen verhindert.
»Jaxon«, sagte Bishop mahnend.
»Verfluchte Scheiße!«, schimpfte Jaxon. »Woher wissen wir, dass er Ally nicht trotzdem dematerialisiert?«
»Wird er nicht«, sagte Alloy und drehte den Kopf, um Cassian ansehen zu können. Weil sie sich so nahe waren, hätte sie ihm dabei beinahe unfreiwillig einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Wir werden alle unsere Waffen weglegen und vernünftig miteinander reden. Nicht wahr?«
Cassian seufzte. »Na schön.«
»Schön!«, fauchte Jaxon mit einem anklagenden Blick zu Bishop, als wäre die ganze Angelegenheit seine Schuld, sicherte seine Waffe und warf sie Cassian und Alloy vor die Füße.
Alloy wandte sich erneut an Cassian. »Und jetzt du.«
»Ich bin ja nicht irre.«
»Du Mist-«
Cassian wirbelte Alloy herum, sodass sie mit dem Rücken zu Bishop und Jaxon stand. »Hör zu!«, sagte er energisch. »Es geht hier nicht um dich oder mich, sondern um das Schicksal der Neuen Welt und aller Menschen, die darin leben. Und mir läuft die Zeit davon.«
»Jaxon und Bishop können uns helfen«, wandte Alloy ebenso energisch ein. »Da draußen wartet eine ganze Horde waffenschwingender Idioten auf uns. Die interessieren sich nicht für das, was du ihnen zu erzählen hast. Für die bist du der Mörder des Neoczaren und das heißt, sie knallen dich ab, sobald sie dich sehen.«
Cassian schien ihren Vorschlag zu überdenken. Die Ader auf seiner Stirn, die vertikal von seinem Haaransatz zu seiner Nasenwurzel verlief, wölbte sich angestrengt.
»Gut«, sagte er schließlich und sichtlich widerwillig. »Wir machen Folgendes: Du nimmst die Waffen an dich und dann reden wir.«
Alloy nickte zustimmend – und ziemlich erleichtert.
Cassian packte ihre Schulter fester, sodass sich seine Finger schmerzhaft in ihre Haut gruben. »Ich muss mich jetzt auf dich verlassen können, Ally. Du weißt, was auf dem Spiel steht.«
»Ja, ich weiß.«
Alloy wartete, bis sich Cassians Griff lockerte, dann bückte sie sich nach den Waffen und sammelte sie auf.
Langsam ließ nun auch Cassian seine Pulswaffe sinken und reichte sie Alloy.
»Danke, Cassian.«
Cassian lächelte schwach. »Das werd ich noch bereuen.«
»Nein«, versprach Alloy. »Ich rede mit ihnen. Wir bringen dich zum Madrefio.«
Sie entfernte sich mit den Waffen, um den Weg für eine vernünftige Diskussion zu ebnen, doch sie hatte kaum eine Handvoll Schritte zurückgelegt, da ließ sie ein lauter Knall zusammenfahren.
Alloy wirbelte herum und entdeckte, dass Bishop eine zweite Waffe gezogen hatte.
Cassian sank mit einem heiseren Aufschrei zu Boden und presste beide Hände auf sein Bein. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
»Was soll das?!«, entwich es Alloy.
»Jaxon, hol die Waffen«, befahl Bishop.
»Nein!«, protestierte Alloy, während Jaxon sich gehorsam in Bewegung setzte und auf sie zu stürmte. »Hört auf! Cassian braucht unsere Hilfe.« Alloy ließ das Gewehr und die Pistole fallen, schnappte sich die Pulswaffe und richtete sie abwechselnd auf Jaxon und Bishop. Es war vollkommen verrückt, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. »Schluss jetzt!«, brüllte sie. »Alle bleiben da, wo sie sind! Und es wird nicht mehr geschossen!«
In der Stille, die ihren Worten folgte, konnte sie Cassian ächzen und Pea leise fiepen hören.
»Ihr hört mir jetzt zu!«, fauchte Alloy. »Ich werde euch etwas Wichtiges erklären und es ist mir scheißegal, ob ihr mir glaubt oder nicht. Anschließend verarzten wir Cassian und bringen ihn zum Madrefio.«
»Bist du irre?«, wandte Jaxon, der etwa zehn Meter von ihr entfernt, stehen geblieben war, ein. »Dieser Kerl hat den Neoczaren getötet.«
»Mag sein«, sagte Alloy. »Und ja, hat er. Aber er wird sowieso in weniger als vierundzwanzig Stunden sterben und es gibt etwas, das er vorher noch erledigen muss. Etwas sehr Wichtiges. Klar?«
Damit schien Jaxon nicht gerechnet zu haben. Verwirrt blickte er zu Bishop.
»Bist du dir ganz sicher, Alloy?«, fragte Bishop.
Alloy löste eine Hand von der Waffe und fasste nach ihrer Halskette. »Bei meiner Mutter!«
Bishop zögerte noch einen Moment, dann gab er seine angespannte Haltung auf und ließ seine Waffe sinken. »Das Madrefio, ja?«
Alloy nickte. »Ja.«
Bishop beäugte den Prinzen, der sich aus seiner Jacke geschält hatte und den Stoff auf die Wunde drückte. »Dann sollten wir uns besser beeilen.«
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