S E C H S
Verzweiflung
Dienstag, 19. Mai, 1.40 Uhr
Seit Stunden rannte er herum, sprang wieder ins Auto, fuhr zum nächsten Park, nur um dann wieder Ewigkeiten über schmale asphaltierte Pfade zu laufen, jeden Kiesweg und Trampelpfad zu kontrollieren. In etwa seit der Polizeizeichner das Bild fertiggestellt hatte, das Yoongi jetzt in den Händen hielt.
Wann immer er nicht mehr weiterwusste, blieb er unter einer Laterne stehen und starrte erneut auf das Phantombild. Doch, es war gut getroffen – seiner Meinung nach, so gut, wie es nach Zeugenaussagen eben werden konnte. Nur dass er dieses Mal der Zeuge war.
Yoongi konnte es immer noch nicht fassen. Mit welcher Dreistigkeit sich dieser verdammte Mistkerl in der Bar zu ihm gesetzt und ihn angequatscht hatte. Hatte er bewusst auf ihn gewartet? Kannte ihn dieser Bastard schon so gut, dass er es wagte, solche Spielchen mit ihm zu treiben? Allein der Gedanke macht ihn so wütend, dass er am liebsten aufgeschrien hätte.
Dieser Drecksack hatte neben ihm gesessen, hatte mit ihm getrunken, gescherzt, gelacht und hatte vor seinen Augen, den nächsten Jungen mitgenommen. Wieder dachte er an Yi – und war es ein Wunder? Wenn das neueste Opfer so frappierende Ähnlichkeit mit seinem Ex hatte. Am liebsten hätte er die Zeichnung in seiner Hand in tausend Fetzen gerissen.
Ex-Mann, Ex-Leben. Und alles was er jetzt noch war, war eigentlich kaum der Rede wert. Er lebte nur noch für die Arbeit, wobei leben arg beschönigt war. Im Grunde hievte er sich doch nur jeden Morgen aus dem Bett, um einen weiteren Tag mit diesem kranken und abartigen Gesindel zu verbringen, das ihm mehr und mehr Energie raubte und jeden Tag ein wenig mehr Dreck auf den Rest kippte, der noch schön war. Irgendwann, würde das dann sein Leben sein, irgendwo in einem stinkenden Sumpf aus Blut, umgeben von Leichenbergen und kein einziges flimmerndes Licht dazwischen, nur...
Yoongi blieb stehen und raufte sich die Haare, während er sich umsah. Gott, er war so fertig, er brauchte dringend einen Kaffee. Und wo war dieser elende Penner, wenn man ihn einmal im Leben tatsächlich brauchte? Beinahe täglich stolperte er auf dem Weg zur Arbeit oder wenn er unterwegs war, in irgendeiner Form über Joon. Der Kerl war ständig präsent. Er gehört zu dem Viertel wie diese kleinen Suppenküchen, die er noch aus seiner Schulzeit kannte. Aber nein, heute, wo er ihn suchte, wo er mit ihm reden wollte, war dieser Idiot nicht aufzufinden. Seit Stunden irrte er durch die Straßen, klapperte alle bekannten Plätze ab, wo sich die Obdachlosen herumtrieben, filzte sämtlich Drogenumschlagplätze, die ach so geheimen Schlafplätze aller Heimatlosen, die bekannten Treffpunkte im Rotlichtviertel, die unter der Hand ebenso bekannten Orte, an denen sich die Stricher herumtrieben. Und selbstverständlich hatte er jede Parkanlage durchkämmt, auch wenn die regelmäßig von Gesindel gesäubert wurden und nachts für Besucher gesperrt waren. Yoongi wusste, dass Joon trotzdem überwiegend in den Parks nächtigte, er hatte eben so seine Tricks. Um an Essen zu kommen, an Geld, an Alkohol und an ein Plätzchen, wo er seine Ruhe hatte.
Aber Joon war wie vom Erdboden verschluckt.
Stunden zuvor, im Revier, wäre er beinahe an die Decke gegangen, als ihm klargeworden war, was das alles bedeutete. Der Junge der aussah wie Yi – Jimin – der mit dem Glitzernagellack. Jae, der ganz sicher nicht Jae hieß und dass Joon ihn gesehen hatte, sich an ihn erinnerte, ganz gleich ob er ihn nun bewusst oder unbewusst mit der Mordserie in Verbindung brachte, oder ob er nur wieder sinnlos vor sich hinbrabbelte – er hatte ihn gesehen, also musste er Joon finden.
Gereizt und übermüdet trat Yoongi aus dem Seiteneingang des Cheongdam-Parks und blickte auf die Häuserfassade gegenüber. Das war der Appartementkomplex auf dem Foto, das zum Fall des fünften Opfers gehörte. Es war nicht exakt die Stelle, das Bild aus einem anderen Winkel aufgenommen, aber es war ganz sicher dieser Park. Unschlüssig blickte Yoongi die menschenleere Straße entlang und marschierte dann einfach los. Er brauchte Kaffee, er konnte ja kaum mehr laufen, geschweige denn denken.
Zwei Blocks weiter entdeckte er einen dieser Coffee-Shops mit dazugehörigem Mini-Mart die 24 Stunden geöffnet hatten und trat durch die Tür. Müde schlich er durch die Gänge, packte Cracker ein, orderte an der Theke einen Kaffee und eine Schachtel Zigaretten – die letzten, garantiert. Wieder zurück auf der Straße nahm er einen Schluck, steckte sich dann eine Kippe an und inhalierte tief. Während er den Rauchfäden nachsah, wie sie in der Nachtluft zerstoben, fiel sein Blick wieder auf den Park und jetzt glaubte er wirklich, seinen Augen nicht zu trauen. Gerade hatte er ihn doch erst von vorne bis hinten abgelaufen und jetzt zockelte dort eine viel zu bekannte Silhouette herum und verschwand im Gebüsch.
„Das gibt's doch nicht", raunte Yoongi, warf die Zigarette wieder weg, stürmte erneut den Laden in seinem Rücken und orderte eine der Schnapsflaschen aus dem Regal im Rücken des Kassierers. Der musterte ihn zwar mit erhobener Augenbraue, sagte aber nichts, sondern packte das Gewünschte in eine Papiertüte und griff sich das Geld. Dann war Yoongi wieder auf der Straße, jagte über die menschenleere Fahrbahn und steuerte erneut den Park an. Er nahm ebenfalls den Weg durch die Büsche und traute seinen Augen nicht, als die Parkbank dahinter in sein Blickfeld geriet.
Auf der Bank lag Joon, er hatte sich nicht getäuscht.
Vorsichtig näherte er sich dem Kerl und stupste ihn dann einmal an der Schulter an.
„Hey... Joon..."
Keine Reaktion.
„Joon..!" Etwas lauter.
Der Angesprochener knurrte dumpf, ruckelte herum und drehte ihm den Rücken zu. Da wurde es Yoongi zu bunt und er packte ihn an der Schulter, um ihn kräftig zu schütteln.
„Wach auf, verdammt nochmal! Wie tief kann man schlafen, wenn man sich gerade hingelegt hat?"
„Ja leck mich doch am Arsch, was ist denn?!", knurrte Joon unleidig, ruckelte wieder herum und blinzelt ihn nun an.
„Bin ich verhaftet?", frage er jetzt, dem folgte genauso schnell: „Ich war's nicht."
Das irritierte Yoongi ausreichend. „Was warst du nicht?", fragte er prompt, wiegelte aber sofort wieder ab, während sich der andere nun ganz aufrappelte.
„Ich weiß nicht", nuschelte Joon außerdem. „Egal was, ich war's nicht."
„Hm. Versteh' schon", seufzte Yoongi, bedeutet ihm mit einer Geste ein Stück zu rutschen und setzte sich dann zu ihm. „Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst, Joon, okay?"
Der Angesprochene zuckte die Schultern, verschränkte fröstelnd die Arme und wetzte unwillig hin und her. Unterdessen holte Yoongi die gefaltete Kopie der Zeichnung heraus und hielt sie ihm hin.
„Kennst du den Mann, hast du ihn schon mal gesehen?"
Schon wieder erntete er nur ein Schulterzucken. „Keine Ahnung", jammerte Joon dann, „woher soll ich das wissen, der sieht doch aus wie jeder zweite Kerl der hier rumrennt. Und lass mich, ich bin müde, warum hast du mich aufgeweckt? Das darfst du gar nicht, ich war's nämlich nicht."
„Ich könnte dich auch ganz schnell wieder einbuchten, klar? Du schläfst in einem öffentlichen Park, das ist verboten."
„Ich hab' gar nicht geschlafen", behauptete Joon jetzt. „Ehrlich, hab mich nur hingelegt, der Rücken, ah?"
Yoongi rollte mit den Augen und hielt ihm den Kaffeebecher hin. „Hier."
Tatsächlich griff Joon danach, machte den Deckel ab, schnüffelte und verzog das Gesicht. Neben ihm schraubte Yoongi seufzend den Deckel von der Schnapsflasche und goss einen ordentlichen Schluck in den Kaffee. Dann noch einen zweiten, als Joon ihm immer noch auffordernd den Becher hinhielt. Schließlich trank er und schmatzte zufrieden.
„Erstklassiger Kaffee, Min, muss ich schon sagen."
Yoongi sagte nichts dazu, hielt ihm stattdessen wieder das Bild vor die Nase. „Dann sieh dir das jetzt nochmal in Ruhe an, bist du sicher, dass du ihn nicht kennst?" Zu gerne hätte er ihn auf die Aussage mit den Blümchen und glitzernden Tautropfen aufmerksam gemacht, aber dann war es wohl unerlaubte Einflussnahme und brachte ihn auch nicht weiter.
„Möglich", raunte Joon endlich, trank zwei große Schlucke von seinem aufgepimpten Kaffee und nickte.
„Möglich was?"
„Möglich, ich habe ihn gesehen."
Yoongi mahnte sich zur Geduld. „Hast du, oder hast du nicht?"
Derweilen streckte ihm Joon erneut den Becher hin, der mittlerweile leer war und Yoongi schenkte pur nach. Der andere nahm einen Schluck und griff sich dann das Bild. Nach einer ganzen Weile nickte er.
„Läuft immer durch den Park", murmelte er.
„Er läuft durch den Park?!", augenblicklich saß Yoongi aufrecht.
„Mmhm." Joon nickte. „Ganz früh. Ganz... ganz... ganz früh! So früh! Fast noch dunkel."
„Du meinst er joggt?", hakte Yoongi nach. Da begann sein Gegenüber zu kichern wie ein Junge und rempelte ihn jovial an.
„Joggen", er kicherte schon wieder. „du bist so lustig. Krieg ich noch Kaffee?"
Yoongi atmete tief durch, dann stand er auf und stellte die Schnapsflasche in der Papiertüte neben Joon ab.
„Ich lass das hier bei dir, okay? Du gibst darauf acht und ich", er wies auf die andere Seite, „gehe da rüber, hole uns Kaffee und komme wieder. Versprich mir, dass du nicht abhaust."
„Ja, ja", brabbelt Joon, schnappte sich die Papiertüte mit der Flasche und legt sie behutsam in seinen Arm wie ein Baby. Für einen Moment zögerte Yoongi noch, doch dann rannte er los, jagte nochmal in den Coffeeshop, orderte dieses Mal zwei Becher und stürzte damit gleich darauf wieder aus der Tür. Joon saß wie versprochen an Ort und Stelle, die Schnapsflasche an sich gedrückt.
„Hier." Wieder reichte er ihm den Kaffeebecher, ignorierte dass der andere hastig ein paar Schlucke trank, nur um den Becher gleich wieder mit Schnaps aufzufüllen und lehnte dankend ab, als Joon ihm ebenfalls etwas anbot.
„Also – der Mann?", half er nach einer Weile behutsam nach. Yoongi wusste, dass er Joon nicht drängen brauchte. Wenn man ihn zu sehr bedrängte, machte er einfach dicht, sprach gar nicht mehr oder, noch schlimmer, klinkte sich einfach aus. Auch das hatte er schon manchmal erlebt und es war immer wieder erschütternd bis beeindruckend, als wäre er plötzlich in seiner eigenen kleinen Welt, wo niemand sonst Zutritt hatte. Dann konnte er ihn zwar mitnehmen und verhören lassen, aber was würde ihm das bringen, wenn er völlig abwesend in der Ecke hockte, schwieg oder nur wirres Zeug brabbelte?
„Kannst du dich an irgendwas erinnern, irgendwas... Besonderes?"
Joon wiegte den Kopf. „Verkleidet sich gerne", sagte er dann. „Wenn er mit seinen hübschen Blümchen schmust. Sonst nicht, wenn er durch den Park läuft, sieht er aus wie alle anderen Arbeiter."
Arbeiter! „Woher weißt du, dass es ein Arbeiter ist?"
Joon sah ihn abschätzend an und schüttelte den Kopf, als wäre der Ermittler schwer von Begriff. „Na weil er denselben Overall anhat. Genau wie alle anderen, hm? Aber alle anderen kommen iiimmer mit dem Bus und er kommt iiimmer allein, immer durch den Park, husch, husch, husch, rennt er da rum, husch..."
Eine leichte Aufregung erfasste Yoongi. „Ein Overall – du sagst er trägt einen Arbeitsoverall – so wie... ein Mechaniker vielleicht?"
„Hm." Joon nickte.
„Und welche Farbe hat sein Overall, weißt du das auch?"
Joon sah ihn an und rümpfte die Nase. „Keine Ahnung – braun? Rot? Ist doch immer dunkel, wenn er da herumhuscht."
Yoongi winkte ab. „Und hat er sonst noch was dabei? Eine Tasche vielleicht? Einen Rucksack?"
„Werkzeugkoffer", murmelte Joon. „Manchmal. Und manchmal...", er schien den Faden zu verlieren. „Manchmal verkleidet er sich und schmust mit den Blümchen, hübsche Blümchen..." Joon kicherte schon wieder und leerte seinen Becher.
Das reichte. Yoongi erhob sich und warf seinen Becher in den Papierkorb neben der Bank. „Auf, Joon", er packte ihn am Arm, „wir gehen."
„Warum?" Energisch versuchte sich Joon aus dem Griff zu befreien. „Ich war's doch gar nicht."
„Ich weiß", murmelte Yoongi nur und zerrte ihn unbarmherzig auf die Beine.
*
Nachdem ein Streifenwagen sie im Revier abgesetzt und Yoongi den wehrhaften Mitfahrer endlich ins Innere des Gebäudes bugsiert hatte, steuerte er sofort den Kaffeeautoamten an und ließ erneut zwei Becher des heißen Gebräus durchlaufen. Einen bekam Joon, dafür nahm er ihm die Schnapsflasche weg, den zweiten brauchte er selbst – ebenfalls ohne Schnapsflasche, auch wenn es mittlerweile echt verführerisch war.
Es war noch nicht mal halb fünf, draußen herrschte immer noch Zwielicht und nur ein Schreibtischplatz war von einem Kollegen besetzt, der so müde aussah, dass man befürchten musste, er würde jeden Moment auf die Tischplatte kippen. Trotzdem murmelte er unablässig via Polizeifunk mit irgendeinem Streifenwagen. Nächtliche Ruhestörung, häusliche Gewalt, das Übliche. Geduldig wartete Yoongi, bis der junge Mann fertig war und aufsah.
„Können Sie eine Zeugenaussage vorbereiten?" Ohne die Antwort abzuwarten drückte er Joon auf den Stuhl neben den Schreibtisch und der Officer sah den zerlumpten Kerl skeptisch an.
„Name?"
„Joon."
„Kim Namjoon", korrigierte Yoongi und Joon setzte sich plötzlich ganz aufrecht hin.
„Ach so... ganz offiziell wird das?"
Der junge Polizist seufzte verhalten. „Alter?"
Joon zuckte die Schultern, sah Yoongi an, der zuckte ebenfalls die Schultern und meinte dann: „Sagen wir... 30", dann ließ er die beiden allein und eilte zu seinem Büroabteil. Bis sie fertig waren, hatte er die ganzen Unterlagen vor sich ausgebreitet und fünf Fotos der letzten Opfer herausgesucht.
Auf seinem Laptop ploppte eine eingehende Nachricht auf und er öffnete das Dokument für die Zeugenaussage. Der Officer brachte unterdessen Joon zu ihm, machte auch gleich wieder kehrt, während Joon sich umdrehte und ihm nachblaffte: „Und meine Schuhgröße brauchst' nicht? Ganz sicher? Mann, mann, mann was für ein neugieriges Kerlchen."
„Lass ihn in Ruhe", sagte Yoongi. „Du kennst doch das Procedere."
„Ja und warum musste ich dann jetzt nochmal alles erzählen?"
„Weil du dieses Mal Zeuge bist", seufzte Yoongi und legte ihm die Fotos hin. „Bitte konzentriere dich, okay? Kennst du einen dieser Männer?"
Nacheinander tippte Joon die Bilder an, schob sie hin und her, hob mal das eine auf, dann das andere, bevor er sie schließlich neu anordnete, drei und zwei.
„Die da...", er wies auf die Dreiergruppe, „tanzen alle. Drüben im...", er kratze sich ausgiebig am Kopf. „Im Ruby Swan." Er pickte sich ein Foto davon heraus. „Und der arbeitet außerdem in dem Tattoostudio – ich weiß nicht mehr, wie der Laden heißt."
„Okay." Yoongi nahm das Foto an sich und warf einen Blick in die Akte. Kim Taehyung, das letzte Opfer. „Sonst noch was?"
„Der." Wieder hob Joon ein Foto aus der Dreiergruppe hoch. „Machts für Geld im Dosan-Park."
„Was?" Der Ermittler saß augenblicklich aufrecht, Joon sah ihn an und zuckte grinsend die Schultern. „Hab'n paar Mal zugeguckt, oder? Für... du weißt schon." Mit einer knappen obszönen und sehr deutlichen Geste deutet er an, was er meinte und sofort wiegelte Yoongi wieder ab. „Muss ich nicht wissen, Joon, ehrlich."
Der zuckte nur wieder die Schultern. „War ziemlich heiß und hat er ja nicht gemerkt, war aber schon ne Weile nicht mehr da." Er blickte ruckartig auf. „Nicht, dass du meinst, ich hätte extra nachgesehen oder so. Aber wenn ich schon mal da war, dachte ich... hm?"
Yoongi presste sich Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel. „Schon klar, was du dachtest." Er sagte ihm nicht, dass er den Kerl auch nicht mehr im Dosan-Park antreffen würde, weil er seit mehreren Monaten tot war. „Sonst noch jemanden?"
Dieses Mal tippte Joon auf das letzte Bild, ließ den Finger drauf und schob es ihm hin. „Der fährt diese teuren Lunchboxen aus, für die schicken Büros, ah? Manchmal, wenn er was nicht losgeworden ist, hat er mir eine gegeben. Sehr netter Kerl – hab ich aber auch schon ewig nicht mehr gesehen, fällt mir da auf."
Nein, natürlich nicht, der Junge war nämlich ebenfalls tot. „Und die anderen beiden?"
Joon zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Kann sein, oder?" Er stupste die Fotos an. „Die sehen doch alle gleich aus, hübsche kleine Blümchen."
Yoongi horchte auf. „Warum nennst du sie so? Blümchen?"
Völlig verwirrt starrte Joon ihn an. „Na weil Jungkook sie auch so nennt."
Allmählich verlor Yoongi wirklich die Geduld. Er raufte sich die Haare, seufzte und schüttelte leicht den Kopf. „Welcher Jungkook denn?"
Joon schnaubte und fuchtelte undeutlich in seine Richtung. „Na der auf deinem Zettel!"
Wie vom Donner gerührt saß Yoongi da, starrte sein Gegenüber an, bevor er aufsprang, das Bild des Polizeizeichners aus der Tasche riss und ihm hinknallte. „Der da? DER Mann?"
„Das ist Jungkook", bestätigte Joon zufrieden.
Yoongi glaubte wirklich, sich verhört zu haben. „Du... kennst den Mann und hast die ganze Zeit nichts gesagt?!"
„Aber ich kenne ihn doch gar nicht!", verteidigte sich Joon und hibbelte nun ebenfalls aufgeregt herum. „Du hast mich gefragt ob ich ihn kenne und ich kenne ihn nicht. Du hast mich nicht gefragt, wie er heißt."
„Aber Joon..!"
„Nein!" Jetzt hielt er sich die Ohren zu. „Ich kenne ihn nicht! Nie gesehen! Hör auf mich anzuschreien! Ich rede nicht mit dir, wenn du mich anschreist!"
Yoongi wandte sich fluchend ab, aber es half nicht, es brach einfach aus ihm heraus. „Verdammt nochmal, Joon! Was ist los mit dir, weißt du nicht, um was es hier geht? Diese Jungs sind alle tot, okay? Jeder einzelne – tot. ALLE! Verstehst du das? Und hier!" Wieder klatschte er ihm die Zeichnung hin. „Dieser Mann – Jungkook? Du sagtest Jungkook oder? – er..." Zähneknirschend brach Yoongi ab, er konnte ihn nicht vor einem Zeugen als Mörder betiteln, wenn er keine stichhaltigen Beweise hatte. „Er hat vielleicht was damit zu tun – auf alle Fälle müssen wir ihn finden, okay?"
„Aber ich kenne ihn doch gar nicht", jammerte Joon und presste die Hände immer noch auf die Ohren.
Das war doch zum aus der Haut fahren. „Hör auf mit dem Blödsinn!!", donnerte Yoongi unwirsch und laut genug, dass er es sicher trotzdem hörte. „Woher weißt du dann seinen Namen?"
„Na weil es auf dem Namensschild stand!" Joon geiferte, seine Stimme überschlug sich regelrecht und er hieb mit jedem Wort auf den Tisch. „Jungkook-Hyundai-Jungkook-Hyundai!!"
Für zwei Sekunden starrte Yoongi ihn einfach nur an, dann stürzte er förmlich aus seinem Büro und scheuchte den jungen Polizisten auf, den das plötzliche Spektakel offensichtlich irgendwie gelähmt hatte.
„Das Team zusammentrommeln, sofort. Ich brauche alle Informationen in Zusammenhang mit Hyundai, Arbeitsgruppen, Dienstkleidung, Farbe der Dienstkleidung und wo sie gekauft wird." Der junge Mann hatte hastig mitgekritzelt, jetzt hob er entsetzt den Kopf.
„Alle? Das könnte eine ziemlich lange Liste werden."
„Nein! Nicht alle!" Er rannte wieder zurück, schnappte sich seine Notizen und kam wieder. „Alle Betätigungsfelder mit roten oder braunen Arbeitsoveralls, sowas, das auch Mechaniker tragen, verstanden? Patches auf der Brust", er hieb dem Mann auf die Brusttaschen seines Uniformhemdes. „Name der Firma, Name des Arbeiters. Rote oder braune Overalls, vielleicht auch Ocker, keine Ahnung, alles in diesem Farbspektrum."
„In Zusammenhang mit Hyundai?", fragte der Polizist wieder.
„Richtig. Hyundai, Arbeiter, Overall", zählte Yoongi an den Fingern auf, sah wie der junge Mann nickte und starrte ihn weiter an.
„Worauf warten Sie, Officer? Klemmen Sie sich ans Telefon, ich brauche die Informationen so schnell wie möglich, am besten gestern!"
Na bitte, jetzt kam Leben in den Kerl, er schnappte sich das Telefon, jagte einen Rundruf hinaus und Yoongi kehrte recht aufgewühlt zu Joon zurück, der immer noch im Stuhl vor seinem Schreibtisch kauerte, jetzt die Beine angezogen hatte und vor und zurück wippte. Als er Yoongi sah, drehte er sich demonstrativ weg.
„Joon", begann Yoongi sanfter. „Ich wollte dich nicht anschreien, okay? Es tut mir leid. Ich war nur... überrascht. Also... du kennst diesen Jungkook nicht, du hast nur sein Namensschild gelesen. Hat er mit dir gesprochen? Konntest du es deswegen lesen?"
„Nein – nein, nein", wild schüttelte Joon den Kopf. „Ich rede nicht mit dir, wenn du mich anschreist."
„Aber ich schreie dich nicht mehr an, versprochen. Reden wir über Jungkook, komm schon, erzähl mir einfach alles, woran du dich erinnerst, hm?"
„Nein! Nein, nein", wieder schüttelte er wild den Kopf. „Du schreist! Du hast gesagt du schreist nicht und dann schreist du doch. Ich will jetzt gehen."
„Joon..."
„Mh-mh." Noch mehr Kopfschütteln.
„Willst du was essen, Joon? Soll ich dir was besorgen?"
Jetzt sah ihn Joon verkniffen an, schien wirklich zu überlegen und plötzlich sagte er: „Hühnchen, ja. Scharfes Hühnchen."
„Du möchtest scharfes Hühnchen?" Da Joon ihn nur anstarrte, griff er sich das Telefon und gab dem Polizisten vorne Bescheid, er soll das Gewünschte besorgen, sobald die Kollegen eintrafen.
Unterdessen hatte sich Joon wieder zum Schreibtisch umgedreht und starrte auf die ausgebreiteten Bilder.
„Hübsches Blümchen", sagte er dabei immer wieder leise, während er den Kopf schieflegte und die Bilder zu sortieren begann. „Hübsches Blümchen. Trägt einen Overall." Ein leises Summen drang über seine Lippen. „Hat ein Namensschild, Jungkook. Ja. Hat ein Namensschild. Jungkook Hyundai. Auch ein hübsches Blümchen. Sehr hübsch. Ganz allein. Läuft durch den Park"
Yoongi hatte keine Ahnung, was Joon tatsächlich gesehen hatte, aber er war sich ziemlich sicher, dass in dem verwirrten Geist noch jede Menge Antworten verborgen lagen, also suchte er die restlichen Fotos aus seinem Ordner und legte sie in einem Stapel vor Joon ab. Als die Kollegen ankamen, stand er auf, drückte leicht Joons Schulter und ging hinaus. Er brachte ihm sein scharfes Hühnchen und versicherte ihm nochmal, dass es ihm leidtat, ihn angeschrien zu haben. Joon nickte, grapschte sich sein Essen und begann zu futtern, also ließ Yoongi ihn wieder allein. Durch die Scheibe beobachtete er allerdings, wie sein verwirrter Zeuge sich jetzt den neuen Bildern zuwandte und diese leise murmelnd ausbreitete, hin und her schob und immer wieder neu sortierte.
Bis Yoongi zurück in sein Büro trat, lagen alle Fotos in der richtigen Reihenfolge der Mordserie, sodass er überrascht einen Moment lang innehielt. Er sagte nichts dazu, verfolgte nur, wie Joon die Fotos zurechtrückte und setzte sich ganz still hinter seinen Schreibtisch.
Ihm gegenüber murmelte Joon immer noch von Zeit zu Zeit: „Hübsches Blümchen, hübsches Blümchen", ohne erkennbaren Zusammenhang. Als Yoongi ihm kommentarlos das Fahndungsfoto von Jimin hinhielt, betrachtete Joon es eine Weile.
„Glitzernd wie Tautropfen", flüsterte er dann, begann den Zettel zu falten, damit er Fotogröße hatte und legte ihn ohne eine einzige Regung im Gesicht, entsprechend der Reihenfolge, ganz ans Ende der Bilder.
Yoongi wurde eiskalt.
Viel später, als Joon längst wieder gegangen war und die hektische Betriebsamkeit des Tages allmählich etwas verblasste, stapelten sich Tonnen an Informationen auf seinem Schreibtisch und keine davon war wirklich nützlich. Oder er übersah etwas.
Da Hyundai eine ganze Reihe an Industriezweigen abdeckte, war es zunächst wirklich ein unübersichtliches Unterfangen gewesen, da irgendwelche Informationen zu filtern. Aber natürlich gab es die Arbeitskleidung in allen Farben, den Großhändler, der die Firmen belieferte und damit Listen so lang, dass man den Seoul Tower damit hätte verpacken können.
Das verursachte ihm keine Kopfschmerzen, sondern eine ausgewachsene Migräne, zumal sein Telefon ebenfalls nicht stillstehen wollte. Er hatte es schon vor Stunden auf den Apparat einer Kollegin umgestellt, die sich mühte, alles von ihm fernzuhalten.
Jetzt kam sie allerdings aufgeregt um die Ecke gestürmt und wedelte mit einer weiteren Liste.
„Weinrote Overalls", stieß sie schweratmend hervor. „Ein Aufzugswartungsdienst."
Wie von der Tarantel gestochen schoss Yoongi aus seinem Stuhl. „Aufzugswartung?!" Er riss ihr das Blatt aus der Hand und überflog die Notiz, dann wuchtete er die Kiste mit den gesammelten Fallakten auf den Tisch und winkte die junge Frau heran.
„Sehen Sie die Akten durch, von Anfang an, die Appartementkomplexe, waren das alles Hochhäuser mit Aufzügen?" In wilder Hast blätterten sie zu zweit durch die Unterlagen, begleitet von Sätzen wie: „Eunma Wohnanlage, 12 Stockwerke mit Aufzug, ja. Dachi Appartementkomplex – Aufzug."
Am Ende pinnte Yoongi die neue Notiz vage lächelnd mit einem Finger auf seinen Tisch und sah auf.
„Der verdammte Drecksack arbeitet für eine Aufzugswartungsfirma", flüsterte er und unterdrückte dabei die aufkommende Euphorie, die gerade mit einem gewaltigen Adrenalinschub durch seinen Körper jagen wollte. „So kommt er an die Schlüsselkarten und deswegen weiß er auch, welche Appartements vorübergehend verwaist sind."
Noch bevor er etwas sagen konnte, schoss die junge Polizistin bereits hinaus und wies ihren Kollegen lautstark an, sie bräuchten sofort alle Personallisten der ortsansässigen Aufzugswartungsfirmen.
Yoongi ließ sich zurück in den Stuhl fallen und nahm sich eine halbe Minute um diesen kleinen Triumph ein wenig auszukosten. Sie waren so nah dran. Dieses Mal würden sie ihn kriegen. Er war sich ganz sicher.
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