43 - Vergangenheit
»Ich muss dich etwas bitten.« Überrascht sah ich auf. Eliah saß mir gegenüber und nachdem er heute den ganzen Morgen schon seltsam still gewesen war, wusste ich, dass ihm etwas auf der Seele lag. Ich hatte nur gewartet bis er es endlich aussprach. »Was denn?«, fragte ich neugierig nach und rührte in meinem Tee.
»Kannst du heute Nacht bei Jim und Marie bleiben?«, fragte Eliah leise nach. Seine Stimme war matt und zum Ende hin wurde er immer leiser. »Wieso?« »Einfach so. Bitte.«, flehte er und legte seine Hand auf meine um sanft mit dem Daumen kleine Kreise auf meine Haut zu zeichnen.
»Ich will nicht bei Jim und Marie bleiben. Ich will hier in unserem Haus sein. Bei dir.«, knurrte ich aufgebracht. Eliah wollte mich von sich schieben? Das konnte er getrost vergessen.
Eliah seufzte. »Bitte. Morgen früh hole ich dich gleich wieder ab.«, versuchte er es wieder.
»Nein Eliah. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Entweder du redest mit mir oder du lässt es bleiben, dann bleibe ich aber auch zuhause.« Sein ewiges Hin und Her nervte mich mittlerweile so und ich konnte nicht nachvollziehen warum es ihm oft so schwer fiel einfach mit mir zu reden. Er erwartet immerhin auch andauernd, dass ich meine Gedanken laut ausspreche. Eliah seufzte abermals.
»Heute ist Vollmond.«, sprach er das Offensichtliche aus.
Jeder Wolf spürte die Mondphasen und wusste daher auch, wann Vollmond war. Auch ich als mickriger Omega war dessen mächtig. »Ach, sag bloß.«, murmelte ich sarkastisch und nahm einen Schluck von meinem Tee.
Es waren zwei Tage vergangen seit Emilia uns gestört hatte und Eliah mir veröffentlich hatte, dass er Kinder hasst. Seit dem konnte ich mich einfach nicht beruhigen. Seine Worte schmerzten immer noch ungemein in meiner Brust und eine ungewollte Wut ihm gegenüber brodelte in meinem Bauch.
Ich wollte ihm nicht böse sein oder mich so bitchig benehmen, aber er ließ mir gar keine andere Möglichkeit.
»Finn.« Er drückte meine Hand und ließ mich unweigerlich zu ihm aufsehen. Seine Augen wirkten fahl und glanzlos, generell seine ganze Haltung war schmächtig. Meine Wut ihm gegenüber war ihm natürlich nicht entgangen und ich wusste, dass er sich keinen Reim daraus machen konnte, was los war. Er ertrug still meine Ausbrüche, ohne sich dagegen zu wehren und ohne ein Drama daraus zu machen. Insgeheim war ich ihn dafür dankbar, denn eigentlich wollte ich mich gar nicht mit meinem Gefährten streiten.
»Bitte. Ich habe mich bei Vollmond nicht unter Kontrolle und ich möchte dich nicht verletzten. Bitte bleibe bei Jim. Es ist nur diese eine Nacht. Es ist zu deiner Sicherheit.« Er flehte mich regelrecht an, aber ich wollte nicht nachgeben. Einfach aus dem Grund nicht, weil ich nicht bei Jim und Marie bleiben wollte.
Der Vollmond hatte seine besondere Wirkung auf Wölfe, aber anders als in den Schauergeschichten verwandeln wir uns nicht in blutrünstige Bestien, die ihre Wut nicht zügeln können. Die Meisten - mich eingeschlossen - waren in dieser Nacht einfach nur ruhelos und konnte keinen Schlaf finden. Viele streifen einfach planlos durch den Wald und wieder andere genießen ein Bad im Licht des Vollmonds. Irgendwelche krassen Auswirkungen hatte der Vollmond nicht auf uns, deswegen beeindruckte mich Eliahs Begründung auch nicht.
Meine Antwort war klar. »Nein.«
Abermals seufzte Eliah und nickte zögerlich. Mit fahrigen Handgriffen deckte er den Tisch ab und räumte die Küche etwas auf. Kaum war er damit fertig, legte er seine Arme um mich und drückte mich gegen seine Brust.
»Lass uns später noch einmal darüber reden, ok?«, bat er und strich mir liebevoll durch die Haare.
Müde lehnte ich mich gegen seinen Körper und genoss die Nähe zu ihm.
Durch meine Wut kapselte ich mich etwas von ihm ab und in Momenten wie diesem fehlte mir seine Nähe ungemein.
»Ich werde heute früher zuhause sein, ja?« Ich nickte nur und lehnte mich in den Kuss, den er mir auf die Wange drückte. »Bis später, Finn.«
Mit einem kleinen Lächeln winkte ich meinem Gefährten hinterher, der mit angeschlagenem Gesichtsausdruck das Haus verließ.
Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, machte ich mich fertig und trat in einem extra dicken Pullover ins Freie.
Die Tage wurden kürzer, die Temperatur niedriger und der Wind stärker. Der Herbst hatte sein Hoch erreicht und bald würden wahrscheinlich die ersten Schneeflocken fallen.
Ich konnte es kaum erwarten bis der Frühling endlich anbrach.
Mit schwerfälligen Schritten durchquerte ich das kleine Rudeldorf und fand mich wenigen Minuten später an meinem Ziel.
Das kleine Haus erinnerte an ein Märchen und unweigerlich musste ich an meine Kindheit zurückdenken als Mum mir immer die Rotkäppchen vorgelesen hatte, weil es mein absolutes Lieblingsmärchen war - mal davon abgesehen davon, dass es dabei um einen großen, bösen Wolf ging. Denn bis heute hatte ich keinen großen, bösen Wolf kennengelernt, wie den der in dieser Geschichte dargestellt wurde.
Zögerlich trat ich an die schmale Haustür und klopfte sachte dagegen, weil ich angst hatte, dass die dünnen Holzbretter unter zu viel Druck brechen würden.
Es dauerte einige Minuten bis die Tür mit einem leisen Quietschen geöffnet wurde.
»Finn! Das ist aber eine Überraschung.« Luise lächelte mir breit entgegen und winkte mich hinein.
Sofort umgab mich eine angenehme Wärme, die auf einen großen Kachelofen in der Mitte des Wohnzimmer in dem ein knisterndes Feuer brannte, zurückzuführen war.
Luise freute sich sehr über meinen Besuch und bot mir sofort ein warmes Getränk und ein Stück Apfelkuchen an. Dankend nahm ich beides an und erzählte ihr von dem Kind, das so sehr über ihren Apfelkuchen geschwärmt hatte.
»Du magst Kinder, oder Finn?«, lächelte sie als sie mir das Kuchenstück reichte. »Ja, sehr.« »Ich kann mir dich gut als Mutter vorstellen. Deine Jungen werden ein gutes Leben haben.«
Ihre Worte zauberten mir einerseits ein Lächeln auf die Lippen, andererseits stimmten sie mich traurig.
Momentan wusste ich nicht, ob ich jemals eigene Kinder haben würde. Ich wollte Eliah nichts aufzwingen, was er nicht auch wollte und zur Zeit schien es nicht so als würde sich seine Einstellung jemals ändern.
»Ich habe viele Fragen.«, fiel ich mit der Tür ins Haus und lächelte die Alte entschuldigend an. Diese begann nur zu lachen, nahm einen langen Schluck von ihrem Tee und nickte mir aufmunternd zu. »Ich versuche alle zu beantworten.«
»Wer war der vorherige Alpha?« Überrascht zog sie ein Augenbraue nach oben. »Alpha Sören.« »War Alpha Sören Eliahs Vater?« Sie schüttelte den Kopf. »Warst du dabei als Eliah hierher kam?« Sie nickte. »Hat Alpha Sören da noch gelebt?« Sie nickte erneut.
»Mit wem ist Eliah damals hergekommen?« Die Alte musterte mich genau, nahm abermals einen Schluck von ihrem Tee und zögerte ihre Antwort lange hinaus.
»Er hat behauptet er sei Eliahs Onkel. Ich weiß seinen Namen nicht mehr, aber ich kann dir sagen, dass er nicht Eliahs Onkel war. Eliah dachte das vielleicht, aber verwandt waren die Beiden keinesfalls.«
Überrascht zog ich die Augenbrauen nach oben. »Eliah hat von seiner Vergangenheit erzählt. Er meinte, dass sein Onkel ihn hierher gebracht hat um seinen Vater kennenzulernen, dieser jedoch schon verstorben war als er hier ankam. Dadurch wurde er der Alpha. Gab es hier jemanden, der aussah wie Eliah?« Diesmal zog Luise ihre faltigen Augenbrauen nach oben und schüttelte den Kopf.
»Kannst du mir sagen, was damals passiert ist?«, bat ich. Ihre Antworten waren dato ernüchternd knapp ausgefallen.
Ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen und zögerlich nickte sie.
»Es war im Sommer. Ein sehr heißer Tag an dem die Sonne hat gnadenlos heruntergebrochen hat. Es war kurz nach Mittag als Eindringlinge sich in unserem Gebiet aufhielten. Die fähigsten Krieger waren gleich losgezogen um das Rudel zu beschützen, aber keiner von ihnen ist zurückgekehrt. Stattdessen sind die Eindringliche bis ins Dorf vorgedrungen. Ich sehe es noch genau vor mir. Als wäre es erst gestern gewesen... Eliah war noch ein Kind. Gerademal siebzehn Jahre alt, kein einziges Haar auf der Brust.« Sie schüttelte den Kopf. »Von Kopf bis Fuß voller Blut. Zäh ist es auf den Boden getropft, hat die Pflastersteine am Platz langsam rot gefärbt. Er hat gezittert. Wie Espenlaub.« Sie hielt kurz inne. »Sein angeblicher Onkel dagegen war sauber. Kein Spritzer Blut war an ihm zu sehen, aber sein dreckiges Grinsen geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Jeder war natürlich in Hab-Acht-Stellung. Die Kinder wurden in Sicherheit gebracht und die Kampferprobten haben sich bereitgemacht im Fall der Fälle eingreifen zu können. Dato wusste noch niemand von ihnen, dass ihre Kameraden wirklich alle tot waren.« Sie schüttelte abermals traurig den Kopf, während ihr Blick in ihrem Tee versunken war. »Es ging alles so schnell. Auf Befehl seines 'Onkels' hat Eliah Alpha Sören zum Duell herausgefordert. Etwas was sofort auf Widerstand unter den Kriegern traf und ohne Umschweife sind sie auf Eliah losgegangen...« Zitternd holte sie Luft. »Es war grausam. Dieser kleine Junge, noch kein wirklicher Erwachsener, hat ohne Probleme jeden der ihn angegriffen hat umgebracht. Mit einer Selbstverständlichkeit, wie ich sie noch nie gesehen habe. Es war das reinste Blutbad. Während die Krieger ihn in ihrer Wolfsform angegriffen haben, blieb Eliah ein Mensch. Doch er konnte sich in Teile seines Wolfs wandeln und war damit jedem überlegen... Alpha Sören ist dazwischen gegangen. Er wollte nicht, dass sein Rudel wegen ihm starb, denn genau das war es war in dem Moment geschah. Jeder, der Eliah weiterhin angegriffen hätte, wäre gestorben. Da bin ich mir sicher und Alpha Sören war sich dem auch bewusst. Er hat dem Duell daraufhin und zum Schutz seines Rudels zugestimmt...«
»Und Eliah hat gewonnen.« Sprach ich das grausame Ende aus. Luise nickte.
»Ich wusste, dass Wölfe, die Alphas im Duell besiegen, zum neuen Alpha werden, sofern es keine Alpha-Nachkommen gab. Alpha Sören hatte keine Nachkommen und war noch dazu bereits älter und kurz davor seinen Posten einem Jüngeren zu übergeben, weshalb Eliah zum Alpha wurde... Kaum war Alpha Sören gestorben, hatte sein 'Onkel' versucht sich in den Vordergrund zu drängen, aber Eliah hat dem recht schnell entgegen gewirkt und ihn genauso umgebracht wie alle anderen vor ihm auch.« Sie schluckte. »Als es so gesehen keine Gefahr mehr für Eliah gab, ist er ohnmächtig geworden. Er ist einfach zusammengeklappt. Wie er da gelegen hat. Blutüberströmt mit dem Blut seiner Gegner, inmitten all den Toten. Dieser kleine Junge. Es war ein grausames Bild.« Luise schüttelte den Kopf.
»Es hat beinahe zwei Wochen gedauert bis er wieder zu sich gekommen ist. Er hatte panische Angst, wusste nicht wo er war, was passiert war. Er hat immer wieder nach seinem Onkel gefragt.«
»Wie erklärt man einem Siebzehnjährigen, dass er seinen Onkel und noch dazu beinahe das gesamte Rudel ausgelöscht hat?« Sie seufzte schwer und führte ihre Teetasse wieder an ihre Lippen.
»Was stimmt mit Eliah nicht?« Das war die einzige Frage, die in meinem Kopf schwirrte. Ich konnte das soeben gehörte nicht verarbeiten. Es war als würde mein Gehirn sich weigern diese Information aufzunehmen.
»Mit Eliah ist alles in Ordnung. Es ist sein Wolf mit dem etwas nicht stimmt.« Sie machte eine kurze Pause. »Du kennst Eliah wahrscheinlich besser als jeder andere. Du weißt, wie er sich in deiner Gegenwart benimmt und in Gegenwart anderer. Wenn er bei dir ist Finn, das ist der richtige Eliah. Der menschliche Teil. Sobald er sich in seinem Rudel befindet oder in einer brenzligen Situation, ist es sein Wolf, der die Oberhand gewinnt. Sein Wolf ist aggressiv, herrisch und unglaublich unfreundlich und ich bin mir sicher, wenn Eliah die volle Kontrolle über seine Wolf hätte, würde hier alles anders laufen, aber sein Wolf ist zu stark und Eliah kommt gegen ihn nicht an.«
»Eliah ist ein guter Junge. Er kann nichts dafür. Es ist gut, dass er endlich seinen Gefährten gefunden hat, denn ich bin mir sicher, dass du ihm helfen kannst, Finn. Eliah lebt sein Leben lang bereits in einem stetigen Kampf mit sich selbst, mit seiner wölfischen Seite. Die beiden Seiten sind nicht im Einklang und auf kurz oder lang wird Eliah es nicht schaffen. Er wird es nicht überleben, denn an einem gewissen Punkt wird sein Wolf sich nicht nur gegen jeden anderen stellen sondern auch gegen Eliah selbst.«
Panisch riss ich die Augen auf. Eliah könnte sterben? Wegen seinem Wolf?
»Nimm dich in Acht vor ihm, Finn, aber zeige ihm trotzdem seine Grenzen. Mache seinem Wolf verständlich, dass das Leben nicht grausam ist, denn ich bin mir sicher, dass der Beweggrund hinter dem Ganzen Schmerz ist. Eliah und sein Wolf leiden. Sie leiden an etwas aus ihrer Vergangenheit und ich bin mir sicher, du kannst ihnen dabei helfen.«
»Warum hat Eliah blaue Augen?«
Mein Kopf verarbeitete gerade alles nur sehr sehr langsam und meine Lippen verselbstständigten sich.
Ein seichtes Schmunzeln erschien auf ihren spröden Lippen. »Er hat sie wirklich von Geburt an. Ich habe Bilder gesehen.« »Ich weiß es nicht genau, aber ich gehe davon aus, dass seine Augenfarbe sich durch den Aufstieg zum Alpha nicht geändert hat, weil er kein Alpha von Geburt an ist und auch nicht zu einem ernannt wurde. Er hat sich den Titel erkämpft, deswegen denke ich ist seine Augenfarbe gleich geblieben.«
Ich seufze schwer. »Reagiert sein Wolf deswegen stärker auf den Vollmond?«, fragte ich zögerlich nach. Vielleicht war es doch besser bei Jim zu bleiben.
»Ja. In Vollmondnächten übernimmt sein Wolf komplett. Ich habe es einige Male miterlebt. Ich denke, dass er in diesen Nächten rein gar nichts gegen seinen Wolf entgegensetzen kann.«
»Er hat mich gebeten heute Nacht nicht bei ihm zu bleiben.«, murmelte ich leise und betrachtete den Apfelkuchen, den ich noch kein einziges Mal angerührt hatte.
»Das halte ich für keine gute Idee. Sein Wolf wird höchstwahrscheinlich durchdrehen, wenn er dich nicht bei sich weiß. Du bist in seiner Gegenwart sicherer als irgendwo anders. Generell musst du vor ihm keine Angst haben. Selbst sein Wolf würde seinem eigenen Gefährten nichts antun.«
Betrübt senkte ich den Blick. Ein Teil in mir glaubte ihr, ein anderer dachte automatisch an meine Narben. Es war keine Absicht und es war nicht aus Wut, aber dennoch hatte er mir weh getan.
»Er hat mir bereits etwas angetan.« Zögerlich erhob ich mich vom Stuhl und zog meine Jeans etwas hinunter, sodass die zarten rosa Narben sichtbar wurde. Überrascht zog Luise hörbar die Luft ein, humpelte schwerfällig um den Tisch und strich vorsichtig über die Fingerdicken Wundmale. Erst die eine Seite, dann die andere Seite.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sein Wolf mich wirklich verschonen würde. Nur wegen Eliahs Beherrschung sind es noch nicht mehr geworden.« Nachdem was ich gehört hatte, war ich mir sicher, dass es Eliah war, der sich für mich eingesetzt hatte und im Auto stattdessen die Sitze zerfleddert hatte.
Nachdenklich musterte Luise mich und mit einem unbehaglichen Gefühl zog ich meine Hose wieder an ihre ursprüngliche Stelle. »Ich denke, dass das aus einem anderen Beweggrund rührt. Sein Wolf würde aus Wut nie auf dich losgehen. Das«, sie zeigte auf meine Hüfte, »hat einen anderen Ursprung. Wie ist das passiert?«
Ihre Farbe ließ mich schlagartig erröten und räuspernd wand ich den Blick von ihr ab. Ein heißeres Lachen kam von der Alten und kichernd umrundete sie wieder den Tisch und nahm auf ihrem Stuhl platz. »Ich sage doch. Das rührt aus einem anderen Ursprung.«
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