Kapitel 13 - Junes
Manchmal hoffen wir darauf, das Licht zu sehen. Manchmal werden wir von Anfang an von einer dunklen Welle verschluckt. Es ist wie zu versuchen dem Salz im Meer zu entgehen. Du willst schwimmen, gleichzeitig deine Augen offen halten, manchmal auch tauchen Doch wenn du deinen Mund zu weit öffnest oder eine schlagende Welle dich unerwartet packt, dann spült das Wasser Salz in deinen Mund und möglicherweise fangen deine Augen an zu brennen.
„Weißt du, was mich am meisten aufregt?", fragt Joules. Bedacht blicke ich zu ihm. „Wenn Leute einfach nicht ehrlich sind. Ich meine, wem helfen sie großartig damit? Was bringt es, die denen wir nahestehen anzulügen, nur weil wir sie verletzen könnten? Warum reden wir nicht offen miteinander? Warum haben wir immer gleich Angst, gescholten zu werden? Weißt du, das Leben bietet dir zu viel, aber die Vernunft sagt dir, einer Stimme zu folgen, die nicht du bist. Was sagt dein Herz? Warum fällt es uns so schwer zu sagen, was wir wirklich denken? Warum sagst du es unseren Eltern nicht einfach? Wovor hast du Angst? Davor, dass deine Eltern dich nicht lieben werden, nur weil sie sich nicht mit ihren versteht? Deswegen? Aber das weiß sie doch nicht. Und wo war das in all euren Jahren Freundschaft? Wem sollst du vertrauen, wenn nicht deinen engsten Verwandten?"
„Stell dir vor, jemand würde dir ein Messer in den Rücken rammen, von wem würde es dich am meisten schmerzen?"
„Aber das ist kein Grund meine ganze Familie anzulügen. Wenn du unsere Eltern zufrieden stellen willst, dann verbringe Zeit mit Adela. Wenn du hingegen auf dein Herz hören willst, dann entscheide dich für Kassia. Aber tu mir einen Gefallen und sei ehrlich zu ihr und unseren Eltern. Das ist meine einzige Bedingung. Dann ist eure Beziehung meinerseits gesegnet."
„Weißt du, dass Problem an einer Beziehung ist nicht die Beziehung selbst, sondern die Trennung am Ende."
„Aber sie bedeutet dir viel. Und du bist ihr auch nicht egal. Also. Was sagst du? Wenn die Zeit, die ihr gemeinsam habt, schön ist, spielt es doch keine Rolle wie lange ihr zusammenbleibt. Oder denkst du, es macht einen Unterschied? Willst du lieber ewig in deinem Zimmer sitzen und dich fragen, was hätte sein können? Immerhin bist du schon so weit gekommen, ihr zu sagen, dass du was für sie empfindest. Wieso also riskierst du nicht einfach etwas und gehst eine Beziehung mit ihr ein? Sei ehrlich zu mir Bruder, wovor hast du Angst?"
So viele Worte liegen mir auf der Zunge. Wie viel Zeit in eine Beziehung investiert werden müsse. Der Gedanke irgendwann Angst davor zu haben, allein aufwachen zu müssen. Oder eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass man allein ist. Oder eben nicht allein ist. Davor, sich zu sehr auf etwas einzulassen. Sich verletzlich zu machen. Aber all das würde Joules dem Winde gleich machen. „Du willst Ehrlichkeit? Was passiert, wenn ich sie wieder verletzte? Wenn ich ihr weh tue, ohne Grund. Wenn sie weinend am Boden sitzt und zwar wegen mir? Und jetzt komme mir nicht mit irgendwas von wegen, das wird schon nicht passieren oder davor brauche ich keine Angst zu haben. Du willst die Wahrheit? Du willst wissen, was in all den Jahren seit unsere Freundschaft endete zwischen uns stand? Du willst wissen, was damals passiert ist? Ich habe sie verletzt. Ich habe ihr von etwas erzählt, daraufhin hat sie es gezeichnet und ich habe mich wie ein Idiot benommen. Ich habe ihre Zeichnungen schlecht gemacht, weil ich Angst hatte. Angst davor, was ich machen würde, wenn irgendwann einmal mehr zwischen uns sein sollte als bloße Freundschaft. Sie hat ein Bild gezeichnet, auf dem sowohl ich als auch sie abgebildet waren. Sie..." Ich halte inne, schlucke nach Luft und schließe meine Augen, als mich die Erinnerung überrollt.
Als ich an den Brunnen komme, sitzt Kassia bereits dort und zeichnet. Ein Lächeln fährt mir übers Gesicht. Es ist schön sie beim Zeichnen zu beobachten. Wie konzentriert sie aussieht und ab und an mit ihren Fingern unterbewusst durch die Haare fährt oder ansetzt den Stift zwischens Ohr zu klemmen, es dann aber dennoch nicht ausführt. „Zeichne, bitte. Zeichne was du siehst", flüstere ich. Sie dreht sich zu mir um, erblickt mich, hebt ihren Stift, betrachtet den Brunnen. Und dann zeichnet sie. Die fließenden Handbewegungen bringen mich dazu zu grinsen. Und ich sehe ganz genau, dass sie merkt, dass ich sie beobachte. Aber das ist mir egal. Es hat etwas Beruhigendes an sich, ihr beim Zeichnen zu zusehen. Sie sieht glücklich aus.
Als sie zur Bank geht, gehe ich zu ihr. Während ich auf sie zukomme, nutzt sie die Gelegenheit, um mich zu zeichnen. Dafür muss ich nicht erst einen Blick auf ihr Zeichenblock riskieren. Kurz vor ihr bleibe ich abwartend stehen. Unsicher, ob ich näher kommen oder Abstand halten soll. Das Lächeln, während sie zeichnet erwärmt mein Herz. Zugleich blicke ich auf den Boden. Versuche, ihrem Blick auszuweichen. Dennoch beobachte ich weiter, wie sie zeichnet. Ihre Bewegungen sind so geflissentlich als würde sie den ganzen Tag nichts anderes tun. Als sie ihren Stift zur Seite legt, blicke ich auf. Sie holt tief Luft und ich setze mich zu ihr. Dabei fällt mein Blick auf eine Zeichnung, die nicht nur mich zeigt. Ich sehe sie an, als sie die Zeichnung schnell wegnimmt und ich weiß nicht wie ich mich verhalten und fühlen soll. Ich weiß gar nicht, was ich fühle. In dem Moment fühle ich nichts und alles zusammen. Und mit einem Mal überkommt mich ein Gefühl, das mich ängstigt. Verwirrt versuche ich angestrengt nachzudenken. Was wäre, wenn irgendwann mehr zwischen uns ist, als pure Freundschaft? Was ist, wenn sie irgendwann mehr will? Oder ich? Oder wir beide? Wie soll ich mich dann verhalten, mit ihr umgehen? Dunkel spüre ich die Blicke meiner Mutter auf mir ruhen, wenn ich ihr sage, dass ich mich mit Kas treffe. Mir ist vollkommen bewusst, dass es ihr missfällt. Mein Bruder hingegen billigt unsere Freundschaft und meint, ich müsse auch meine eigenen Entscheidungen treffen und meine Fehler selbst machen. Und als ich wieder an das Bild von eben denke, auf dem Kassia ganz dicht hinter oder neben mir steht und wir gemeinsam den Sonnenuntergang am Wasser beobachten, steigt ein anderes Bild in mir auf. Ein Mädchen mit braunen Augen und braunen Haaren. Adela. Die Tochter der besten Freundin meiner Mutter. Und die Person, mit der ich nach meiner Mutter besser Zeit verbringen sollte. Dennoch duldet sie es, dass ich mich ab und an mit Kassia treffe. Auf einmal fühle ich mich so verloren.
„Was ist?", haucht Kas, aber ich muss mich konzentrieren, um sie zu verstehen.
„Nichts." Schwer schlucke ich, sehe sie an, schüttele meinen Kopf und versuche, mich abzulenken. „Welche Bilder hast du vom Brunnen gezeichnet?"
Sie zeigt mir ihre Zeichnungen und gleichzeitig spüre ich ihre verwunderten Blicke. Wenn ich es ihr doch bloß erklären könnte... Mein Blick fällt auf die Zeichnung, auf der eine Taube über mir abgebildet ist. Sie weiß genau, wie wenig ich diese Bedeutung meines Namens ausstehen kann. Scharf ziehe ich die Luft ein. Unzählige Male habe ich es ihr gesagt. Und überhaupt. Wie soll ich bloß alles in Worte fassen? Ich betrachte die Zeichnungen. Die eine zeigt einen Brunnen, der Farben statt Wasser speit. Sie ist wunderschön. Die verschiedenen Schichten. Je mehr ich diese Zeichnung betrachte, desto mehr kommt alles in mir hoch. „Das ist unrealistisch", sage ich kaum merkbar.
„Beim Zeichnen geht es nicht darum, real zu sein", fährt sie mich an, woraufhin ich kaum merklich zusammenzucke. „Es geht nicht darum, ob etwas möglich ist oder nicht. Ob etwas der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Es geht nur darum, Möglichkeiten und Vorstellungen einzufangen. Aber ich habe dich nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt gefragt. Du wolltest sie sehen." Ihr Worte dringen nur aus der Ferne zu mir. Den Vorwurf höre ich trotzdem raus. Alles überkommt mich.
„Soso, also Möglichkeiten. Aber welche Möglichkeiten haben wir Kas?"
„Nenn mich nicht so."
„Du weißt genau, dass ich das nicht mag." Die Emotionalität steht mir so gut wie in den Augen geschrieben.
Ich versuche, das Bild, das mich vor den Brunnen sitzend zeigt zu berühren, doch Kas schlägt meine Hand weg. „Fass es nicht an. Lass mich in Ruhe. Geh weg." Ihre zerbrechliche Stimme erschreckt mich.
„Darf ich wenigstens...?" Ihr Kopfschütteln macht meine Frage zunichte
„Geh bitte. Wenn du meine anderen Zeichnungen nicht würdigst, warum sollte es diese dann wert sein?"
Unsicherheit überkommt mich. Ich will sie berühren, sie in den Arm nehmen doch sie zuckt zurück und ich fühle mich so elendig, als hätte ich mir selbst ins Gesicht geschlagen. Schließlich gehe ich, doch als ich nochmal einen Blick zurück riskiere, sehe ich, wie sie eine Flut von Tränen überkommt. Ich will sie trösten, ihr sagen, dass es mir leid tut, doch ich habe Angst davor, wie sie reagieren wird, wenn sie erst einmal alles erfährt. Wie sie die Wahrheit verkraften wird."
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