Kapitel 10 - Kassia
Ich sehe ins Licht. Warte auf die Unendlichkeit. Doch mit jeder Sekunde, in der ich warte, verstreicht ein Stück mehr von dieser Unendlichkeit. Selbst das Licht ist nicht unendlich. Selbst die Sonne hat ein Verfallsdatum. Aber für uns ist sie ewig, da wir sie schon immer hatten und wohl auch immer haben werden. Aber wie ist es möglich, dass sich das Universum immer weiter ausdehnt? Dass es scheinbar keine Grenzen gibt. Als würdest du einen Luftballon aufblasen, doch selbst der hat seine Grenzen. Irgendwann kann nur noch Luft entweichen. Irgendwann sind seine Kapazitäten ausgeschöpft. Wenn du es so betrachtest, hat der Luftballon gleichzeitig ein trauriges und fröhliches Leben. Das Ereignis ist erfreulich, die Lebenszeit aber kurz.
Vorsichtig durchfahre ich den Lichtpegel mit meiner Hand. Das Licht splittet sich und verteilt sich im ganzen Raum um mich herum. Farben tanzen. Ein weißes Grau umgibt mich. Der Boden, auf dem ich stehe, die Wände, an denen sich das Licht spiegelt. Das Licht ist unendlich rein. Es beinhaltet alle Farben, nimmt jede in sich auf. Und in manchen Momenten teilt sie sie mit uns. Das Licht, welches nicht absorbiert wird, schenkt sie uns als Farbe. Das Licht, das absorbiert wird, nimmt ein Gegenstand in sich auf. Wie viel sehen wir wirklich? Wenn sich alles nur in Wellen bewegt, was entscheidet darüber, wie unsere Sinne es wahrnehmen? Und dann gibt es noch Lebewesen, die Synästhesie verselbstständigen und als natürlich annehmen.
Das Licht besteht aus unendlich vielen Farben. Gegenstände reflektieren diese oder absorbieren diese. So nehmen wir Farben wahr. Wir nehmen das reflektierte Licht als Farbe war, unteranderen weil sie in unterschiedlichen Wellenlängen in unser Auge gelangen. Aber wie würden wir das absorbierte Licht sehen, wenn wir es sehen könnten?
Wenn es etwas gibt, das ich über alles liebe, dann sind es Umarmungen. Teilweise sind sie noch besser als zeichnen. Aber Zeichnungen traue ich mir eher zu, als einfach her zu gehen und Personen ohne viel Grund zu umarmen. Und dennoch wünsche ich mir manchmal die Nähe, die Umarmungen schenken, herzlichst herbei. Umarmungen sind beschützend, Nähe liefernd. Sie können trösten. Die beste Art von körperlicher Zuwendung, meiner Meinung nach.
Und so stehe ich jetzt hier, in einer Umarmung von Junes und wünsche, dieser Moment würde ewig dauern. Aber noch die schönsten Momente gehen irgendwann. Je mehr wir an ihnen festhalten, desto verwundbarer machen sie uns, denn sie offenbaren, was sich unsere Herzen wünschen, was in ihnen vorgeht. Das Einzige, das uns bleibt, sind Erinnerungen. Erinnerungen und Wünsche. Und die Möglichkeit, diese Momente erneut zu erschaffen. Besser gesagt, Momente zu schaffen, in denen wir voller Glückseligkeit strotzen.
Und am Ende stehen wir nur da und sind nicht mehr als ein Baum. Aber wir könnten so viel mehr sein. Wir haben die Möglichkeit, uns auszusuchen, wen wir an uns heranlassen und wen nicht, auch wenn es nicht immer einfach ist. Wie könnte ich die Ewigkeit verdammen und gleichzeitig die vergehende Zeit verfluchen? Wie könnte ich gleichzeitig wollen, dass ich für immer Zeit habe, diese aber im nächsten Moment nicht nutzen? Und doch leben wir so. Es gibt so viel unnötiges womit wir unsere Zeit verschwenden und so viele Situationen, in denen wir wollen, dass sie endlich vorübergehen. Doch am Ende des Tages stehen wir hier und wünschten, wir hätten die Unendlichkeit.
Aber wenn du auch nur eine einzige Person fragen würdest, ob sie für immer leben würde, ich weiß nicht, wie viele mit ja antworten würden. Würde ich vor so einer Entscheidung stehen, ich würde nein sagen. Die Vorstellung macht mir Angst. Für immer will ich nicht leben, denn dann gibt es kein Entkommen. Wie wäre es als Fisch ein ewiges Leben zu haben, dazu verdammt, alle Lebensgefährten am Plastik sterben zu sehen?
„Ich will dich ja nicht loslassen, aber...", unterbricht Junes meine abwegigen Gedanken und ich fahre erschrocken hoch, blicke ihn an. Was habe ich verpasst? Wo will er hin? Warum sagt er das so? „Ich denke, ich muss mal kurz weg."
Verwirrt blicke ich ihm hinterher, ehe ich registriere, dass er in Richtung der Toiletten geht. Vielleicht braucht er wieder Abstand, vielleicht will er sich die Hände waschen. Vielleicht auch kaltes Wasser auf sein überhitztes Gesicht spritzen. Vielleicht auch irgendwas anderes banales. Nichts weiter Tragisches.
Also nutze ich die Zeit, um durch den Raum zu laufen. Und in diesem Moment kommt Rock'n'Roll Musik. Perplex halte ich inne. In meinen Gedanken läuft die eine Sportstunde ab und ich lächle. Immer schon wollte ich so tanzen, wie in einen der Tanzfilme, die ich über alles liebe. Und dann kam letztens unsere neue Sportlehrerin an und meinte, sie bringe uns jetzt Rock'n'Roll bei, da es kaum wer kann.
In meinen Gedanken gehe ich die Schritte durch. Rechtes Bein zurück, nach vorne, linkes Bein nach vorne. Und erneut. Rechtes Bein zurück, vor, linkes Bein vor. Und dann noch in den Takt kommen. Egal ob im Kreis drehend oder nur durch den Raum laufen oder am Platz stehend. Diese Schritte sind einfach zu gut. Und darin gehe ich vollkommen auf. Auch wenn es auf Dauer Kondition und Ausdauer erfordert.
Als Junes zurückkommt, bewege ich mich auf der Tanzfläche zur Musik in der Schrittfolge, die ich gelernt habe. Verwundert blickt er in meine Richtung, doch das ist mir in den Moment absolut egal. Japsend hole ich nach Luft, in der Zeit, in der das eine Lied zum anderem wechselt. Sowas bin ich nicht mehr gewohnt. Aber den Spaß kann einem keiner mehr nehmen. Kopfschüttelnd muss ich an die Aussage aus dem einem Tanzfilm denken. „Ihr könnt uns alles nehmen. Nur nicht das Tanzen." Dem stimme ich vollkommen zu. Welcher Mensch kann es anderen verbieten, sich im Takt der Musik zu bewegen? Und was ist tanzen überhaupt, wenn es verboten wird? Zählt dann auch schon das hin und her Wippen von einem Fuß auf den anderen dazu? Wo fängt es an und wo hört es auf?
„Wo hast du so tanzen gelernt und seit wann hast du kein Problem damit, es in der Öffentlichkeit zu tun?" Junes Stimme dringt ganz nah bei mir in mein Ohr. Den Drang, ihn anzusehen, versuche ich zu unterdrücken. Stattdessen gebe ich ihm mit einer zärtlichen Stimme eine Antwort.
„Damit, in der Öffentlichkeit zu tanzen, habe ich ebenso wenig ein Problem mit, wie in der Öffentlichkeit zu zeichnen. Aber vielleicht liefern mir andere W-Fragen dazu Unbehagen."
„Warum musst du immer wieder auf dieses eine Thema hinaus? Ich dachte, wir wären schon über diesen Punkt hinaus. Er drückt mich von sich weg und zwingt mich ihm in die Augen zu sehen. „Was hatte die Umarmung zu bedeuten, wenn du jetzt schon wieder von vorne anfängst? Sehe mich an. Langsam bekomme ich das Gefühl, du willst das alles nicht und ich bin nur eine Schachfigur in deinem Spielfeld. Wenn es so ist, schlage mich, ehe der Königin ihr Platz streitig gemacht wird."
„Das war nicht meine Absicht", erwidere ich schwach. Seine Worte fühlen sich so an wie ein Schlag ins Gesicht. Aber an sich sagt er die Wahrheit. Mit meinen Worten habe ich ihn vielleicht unterbewusst wieder vor den Kopf gestoßen. Auch wenn ich das nicht wollte. Ich wollte ihn nur aufziehen. Und jetzt stehe ich hier und fühle mich unendlich elend.
Stumm sieht er mich an. Abwägend. Unterschwellig bemerke ich sein Zittern. Seine damit verbundene Unsicherheit und Wut. Sein Unverständnis.
„Kassia. Es war mein Ernst. Ich will nicht, dass du mich verlässt. Dass du mich alleine lässt. Im Regen stehen lässt, als wäre ich es nicht wert, unter den Schirm zu kommen. Als würde es draußen gewittern und du würdest mich mit vollen Bewusstsein dort stehen lassen. Ohne eine Möglichkeit, mich zu erklären. Vielleicht habe ich mich nicht also deutlich ausgedruckt, aber du bist mir viel zu wichtig, als dich einfach aufzugeben. Das habe ich bereits versucht. Ich habe versucht, mir nichts aus dir zu machen, aber wie du vielleicht bemerkt hast, ist es mir schier unmöglich."
In dem wohl schlechtesten Moment zum Lachen, kann ich mich nicht davon zurückhalten. Zu sehr muss ich an dem Moment in einen meiner Lieblingsfilme denken, als der stolze Protagonist der vorurteilreichen Protagonistin seine Liebe gesteht und sie ihn im Regen stehen lässt. Der Moment ist süß und herzzerreißend zugleich. Und auch traurig.
„Wie, wie kommst du dazu, jetzt zu lachen? In welchem Universum...?" ‚
„Es tut mir leid, verzeih mir bitte. Ich wollte dich auf keinen Fall beleidigend." Tief atme ich durch und versuche mich wieder zu beruhigen. „Du bist mir auch nicht vollkommen egal."
„Was ich damit sagen wollte, du bedeutest mir viel und ich..." Er hält inne. „Willst du tanzen?"
„Wofür sind wir sonst auf einer Tanzfläche?"
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