48.Kapitel
Henry hasst es, hasst sich dafür, dass er so denkt.
Er versteht es selbst nicht, aber es ist einfach so.
Mitleid hat er nicht mit Siri.
Er würde sogar fast behaupten, dass er froh ist über den Tod ihres Freundes.
Henry hat sich nie für eifersüchtig oder schadenfroh gehalten, aber als er heute Morgen aufgestanden ist und die Meldung des Mordes in ihrem Wohnhaus gehört hatte, war er zuerst schockiert.
Dann hörte er den Namen des Opfers.
Noah Degermark
Zuerst kam die Erleichterung darüber, dass es nicht Siri war.
Er hätte sie am liebsten sofort angerufen und mitgeteilt, wie froh er darüber ist, dass sie noch lebt, konnte sich dann aber mit Mühe doch noch davon abhalten.
Doch mit zunehmender Zeit merkte er, dass da nicht nur Erleichterung ist.
Henry ist froh, dass er Tod ist.
Er konnte ihn nie wirklich leiden.
Der Typ war gutaussehend, sympathisch, sportlich, belesen, humorvoll und das Schlimmste von allem, er war mit Siri zusammen.
Er hatte alles was Henry wollte und nie haben würde.
Nur auf seinem Musikgeschmack war er nicht neidisch.
Der war furchtbar.
Und jetzt ist er tot
Bye Bye
Da er alleine in seiner Wohnung ist, braucht er es auch nicht zu verheimlichen und fängt an zu grinsen.
Zum ersten Mal seit Wochen.
Das könnte meine Chance sein
Tore schließt die Tür auf und lugt in den Flur.
Er hätte fast damit gerechnet, dass die Tochter dort vor ihm mit verschränkten Armen steht und ihn vorwurfsvoll anstarrt, warum er denn so lange gebraucht hat.
Doch der Flur liegt so still und verlassen vor, wie vor wenigen Minuten.
Er verlässt das Badezimmer und schließt die Tür hinter sich.
Im Flur bleibt er abrupt stehen.
Auch wenn es Tore nicht genau beschreiben kann, aber irgendwas hat sich verändert.
Sein Unwohlsein hat sich um ein Vielfaches verstärkt, als hätte sich der Argwohn des komischen Mädchens auf das Haus übertragen und gemeinsam versuchen sie ihn nun aus dem Haus zu vertreiben.
Ein kalter Schauer fährt ihn den Rücken runter und lässt ihn erzittern.
,,Du bist ja noch peinlicher, als ich dachte "
,,Du lässt dich von einem Kind verunsichern."
Die Stimme in seinem Kopf fängt an zu lachen, zum ersten Mal seit Jahren, und hört sich dabei verdächtig nach seinem Vater an.
,,Halt die Klappe."
,,Hahahah."
Das schallende Gelächter schallt in seinem Kopf, wie in einer großen Kathedrale.
Alle Geräusche um ihn herum werden ausgeblendet und übrig bleibt nur sein Gelächter.
Es scheint aus allen Richtung zu kommen.
Er versucht es zu verdrängen, doch die Bilder aus seiner Kindheit werden vor seinem geistigen Auge wieder zum Leben erweckt.
Nach der Schule, eine der wenigen Tage an denen Tore nicht mit dem vollen Bus nach Hause fahren musste, sondern ihn sein Vater mal abholte.
Er verlässt das Schulgebäude.
Sieht seinen Vater an der Motorhaube seines Autos auf ihn warten.
Ungeduldig schaut er auf seine Uhr.
Doch Tore dreht sich nicht um, daher sieht er nicht die anderen Kinder hinter ihm.
Erst wird der Reißverschluss seines Rucksacks geöffnet.
Tore wird erst bewusst, was passiert, als sein Mathebuch an ihm vorbeifliegt.
Er dreht sich zu seinen Peinigern um.
Überall auf den Boden verteilt liegen seine Schulsachen, Bücher, Hefte und in einer Pfütze auch sein Handy.
Wie erstarrt schaut er sie an.
Tore ist vollkommen überfordert mit der Lage und steht wie angewurzelt vor den Mobbern.
Die Kinder schauen ihn erwartungsvoll an, voller Vorfreude darauf, wie Tore wohl reagieren wird.
Er ist ihr Unterhaltungsprogramm und nun soll er auch unterhalten.
Selbst wenn er wüsste, was zu tun wäre, seine Angst hält ihn fest an Ort und Stelle.
Hilflos fängt er an zu schluchzen, Tränen rollen ihm übers Gesicht.
Hektisch schaut er jeden von ihnen an, in der Hoffnung, dass wenigstens einer von ihnen Mitleid von mit ihm hat.
Doch sie alle grinsen ihn nur hämisch an.
In den Augen der Kinder befinden sich keine Spuren von Gnade.
Nach Sekunden, die sich für ihn anfühlen wie Stunden, kann er sich aus der Starre lösen.
Seine Beine weich wie Pudding, dreht er sich von ihnen weg,versucht zu rennen, stürzt aber schon nach wenigen Metern.
Vor den Augen seines Vaters.
Schallendes Gelächter ertönt.
Erst denkt Tore es wären die Kinder, doch dafür klingt es zu tief.
Er hebt den Kopf.
Und schaut zu seinem Vater, der Tränen in den Augen hat vor Lachen.
Dieses Gelächter hat sich in seinem Gedächtnis eingebrannt.
Und wird mit dieser Szene zusammen, immer wieder vor seinem geistigen Auge abgespielt.
,,Halt die Schnauze und verschwinde!", schreit Tore in die Stille.
,,Du Waschlappen."
Langsam verstummt das Gelächter und er nimmt wieder die Stille des Hauses wahr.
Leise schreitet er durch den Flur ins Wohnzimmer.
Das Knarzen der Holzdielen aus dem oberen Stockwerk überhört er.
Mit der Waffe in der Hand verlässt sie das Schlafzimmer.
Ihr Finger um den Abzug gelegt, den Lauf zu Boden gerichtet, wie sie es aus den Filmen kennt.
Auch wenn es eine gefährliche Situation ist , fühlt sie sich wie eine Polizistin in einem Action Film.
Ich werde das Haus von diesem Einbrecher befreien
Schritt für Schritt geht sie voran, weicht jeder Holzdiele aus, die möglicherweise aufheulen könnte.
Durch jahrelanges ausprobieren weiß sie ganz genau, welche Dielen quietschen und auf welche sie problemlos steigen kann.
Langsam steigt in ihr auch die Nervösität.
Die ersten Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn, die sie mit dem Lauf der Pistole wegwischt.
Sie hält in der Bewegung inne, als sich die Badezimmertür im Erdgeschoss öffnet und der Mann heraustritt.
Er muss nur den Kopf heben, dann sieht er sie.
Wie sie am Treppenanfang steht, wenige Meter entfernt mit einer Pistole in der Hand.
Doch statt, dass er zu ihr hochschaut, bewegt er sich Richtung Wohnzimmer.
Und bleibt dann stehen.
,,Halt die Klappe."
Was war das?
Redet er etwa mit jemanden?
Hat er einen Komplizen?
Es bleibt aber ruhig im Haus. Außer ihrer Atmung,die ihr verdächtig laut vorkommt, kann sie nichts hören.
Nora beobachtet ihn, wie er dort einfach nur bewegungslos im Flur steht, als würde er seine nächsten Schritte überdenken.
Seine Atmung beschleunigt sich.
Aus der Entfernung sieht man schon, wie sich seine Brust immer schneller hebt und senkt.
Was macht er da?
Plötzlich zuckt er, wie vom Blitz getroffen, zusammen.
,,Halt die Schnauze und verschwinde!"
Mit viel Selbstbeherrschung schafft es Nora, nicht aufzuschreien.
Er bleibt noch einige Sekunden regunglos im Flur steht, danach verschwindet der Mann ins Wohnzimmer.
Was ist mit dem denn los?
Zum ersten Mal spürt sie auch Angst in sich aufsteigen.
Einen normalen Mann mit einer Waffe zu bedrohen ist schon beunruhigend, doch dieser Typ scheint nicht ganz richtig im Kopf zu sein
Sie wartet noch einige Augenblicke, dann geht sie langsam die Treppe runter, die Waffe vor sich haltend.
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