Ich hasse Konversation
»Hey Loan.« Die tiefe Stimme meines Chefs riss mich aus meiner Trance. »Wie weit bist du?«
Ich sah von dem Leichnam auf und drehte mich um. Im Türrahmen stand John in seinem schicken Anzug und mit schwarzer Fliege. Er machte einen seriösen Eindruck und hatte bereits seine mitfühlende Miene aufgesetzt.
»Die Trauergemeinde wartet, bist du fertig?«
Ich wandte mich von ihm ab und starrte auf mein Meisterwerk. Vor mir lag eine alte Dame in ihrem feinsten Sonntagskleid, das ihre Tochter ihr ausgesucht hatte. Auf dem hellblauen Stoff waren kleine weiße Blumen zu sehen. Ihr runzliges Gesicht zeugte von einem langen und erfüllten Leben. Das graue Haar hatte ich zu kleinen Locken frisiert, die ihr kantiges Gesicht umrahmten. Um die Totenblässe zu überdecken, hatte ich reichlich Make-up verwenden müssen. Doch nun strahlten ihre schmalen Lippen rot, ihre Wangen rosig und sie wirkte weniger tot.
Ich war sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Ein letzter Blick, dann trat ich einen Schritt zurück und ließ sie John betrachten.
»Ich bin so weit«, brummte ich ihm zu.
Er und zwei weitere Männer in Schwarz betraten die Leichenhalle und hielten eine Trage zwischen sich. Auf diese hoben wir gemeinsam die alte Dame und einen Kraftakt später wurde sie nach draußen getragen. Ich blieb allein in der kühlen Kammer zurück und setzte mich auf einen Stuhl. Meine Arbeit war für heute getan.
»Willst du dieses Mal vielleicht mitkommen?« Johns besorgte Stimme ließ mich aufblicken. Ich war doch nicht allein.
Er knetete verlegen die Hände, seine Augenbrauen zog er zusammen und Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Er wirkte nervös und besorgt.
Sah ich wirklich so schlimm aus? Ich wollte sein Mitleid nicht und hasste es, wenn er mich so anstarrte.
»Nein, alles gut. Du weißt, dass mir sowas nicht liegt.«
Er runzelte die Stirn. »Du machst deinen Job wirklich gut. Die drei Jahre, die du schon hier arbeitest, warst du nie krank, bist nie zu spät gekommen oder hast dir etwas zu Schulden kommen lassen. Auch die Trauergäste waren immer höchst zufrieden und wollten sich gerne bei dir bedanken. Doch jedes Mal musste ich ihnen sagen, dass du leider bereits Feierabend hast. Willst du nicht nur einmal eine Trauerrede halten? Du hast großes Potenzial.«
Ein Mundwinkel zuckte. »Tut mir leid, John. Aber ich kann nicht. Mir liegt das Arbeiten mit den Toten eher als mit den Lebenden.« Resigniert zuckte ich mit den Schultern und strich abwesend über das kühle Metall des Tisches.
»Dann werde ich sie wohl ein weiteres Mal vertrösten müssen. Wollen wir stattdessen heute Abend ein Bierchen zischen?«
Es war schon fast rührend, wie er sich um mich sorgte und versuchte, mich aus meinem Schneckenhaus zu locken. Doch mir lag nichts am gesellschaftlichen Leben. Ich funktionierte besser allein. Daher überlegte ich mir bereits eine Ausrede, warum ich auch heute nicht mit ihm mitkommen könnte.
Da machte er den Mund auf und unterbrach meine Gedanken: »Bitte! Lass mich nicht betteln.« Seine Unterlippe bebte und seine Augen wurden glasig. Ich hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen. Sonst war er immer der starke und selbstbewusste Mann.
Nun konnte ich ihm schlecht absagen, schließlich war ich kein Monster, sondern nur ein emotionales Wrack.
»Ist gut, wir können uns gerne treffen«, brummte ich.
Ein freudiges Lächeln huschte über Johns Lippen. »Klasse«, rief er begeistert aus. »Ich schreibe dir dann nachher eine Nachricht wann und wo, okay?«
Ich nickte und war froh, als er endlich den Raum verließ. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ich war allein. Erleichtert sackten meine Schultern nach vorn und ich erhob mich, um aufzuräumen.
Die Stille im Raum legte sich über mich wie eine Decke und hüllte mich ein. Ich mochte den Frieden, der mich hier umgab. Er half mir, mich zu sammeln und Kraft zu tanken, den Tag zu überstehen.
Mein Kopf war leer, während ich meinen Arbeitsplatz aufräumte. Alles passierte wie von selbst, war stupides Abarbeiten von Aufgaben. Meine Instrumente desinfizieren. Das Make-up verstauen. Alle Flächen abwischen und die Metallmöbel an ihren angestammten Platz schieben. Als alles wieder dort stand, wo es hingehörte, verließ ich Deborahs Funeral Institut durch den Hinterausgang. Draußen begrüßte mich ein scharfer Wind, der durch die Häuserschluchten pfiff. Ich zog meinen schwarzen Trenchcoat enger um mich und machte mich auf den Nachhauseweg.
Pünktlich um acht betrat ich die Kneipe, die mir John per SMS mitgeteilt hatte. Im Inneren war es dunkel und stickig. Rauchen war hier offensichtlich erlaubt. Ich blendete den beißenden Geruch aus und hielt nach meinem Boss Ausschau. Ein fröhlich winkender Arm zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit einem Seufzen musste ich feststellen, dass es sich bei dem Verrückten um niemand Geringeren als John Deborah handelte.
Einmal atmete ich tief durch und sammelte meine letzten Kräfte. Ich musste da heute wohl oder übel durch. Schon zu oft hatte ich ihn mit traurigen Ausreden abgewiesen. Aber an diesem Tag hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihm erneut abzusagen. Dazu wirkte er vorhin im Institut viel zu verletzlich, als würde es ihm mehr bedeuten, als nur ein Bierchen zu zischen – so wie er es formuliert hatte.
Ich schlenderte zu ihm hinüber und nickte ihm zu. Überschwänglich umarmte er mich, drückte mich fest an seine Brust. Vollkommen überfordert blieb ich steif stehen und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte.
Sein warmer Oberkörper presste sich an meinen und ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken. Er löste sich von mir, griff nach meiner Hand und schlug ein.
»Mensch Loan, deine Finger sind ja eiskalt«, witzelte er. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das sind die Hände eines Toten.« Er grinste mich schief an.
Meine Mundwinkel hoben sich leicht. »Niedriger Blutdruck«, erwiderte ich.
Sein Lächeln wurde breiter und er bot mir den Barhocker neben sich an. Ich setzte mich zu ihm, behielt meinen Trenchcoat aber an. Der Innenraum war zwar beheizt und die meisten Menschen saßen im Pullover oder sogar im T-Shirt da, aber in mir herrschte eine ewige Kälte. Der Mantel war nur ein trauriges Hilfsmittel, damit ich nicht fror, aber selbst die dickste Jacke hätte mir keine Wärme geschenkt.
Eine Blondine kam breit grinsend auf uns zu und hatte dabei einen unglaublichen Hüftschwung drauf. Ihre prallen Brüste waren in ein enges, weißes Shirt gepresst und ihre langen Beine lugten unter einer knappen Hotpants hervor. Sie sah verdammt scharf aus und, wenn sie gewollt hätte, hätte ich nicht nein gesagt. Aber natürlich hatte sie keine Augen für mich, sondern nur für John.
»Was kann ich euch zwei hübschen Jungs denn bringen?«, flötete sie und klimperte dabei auffallend mit den Wimpern. Ich schnaubte amüsiert auf, woraufhin sie mir einen verwirrten Blick zuwarf, der sich schnell in Ekel umwandelte. Ich starrte ungerührt zurück. Die Reaktion des weiblichen Geschlechts auf meine Erscheinung war mir nicht fremd, ich kannte sie zur Genüge und war es gewohnt, missachtet und abgewiesen zu werden.
Für wenige Sekunden hielt sie den Kontakt aufrecht, schaute dann aber schnell wieder zurück zu John und schmachtete ihn regelrecht an.
Obwohl er in den Vierzigern war, hatte er seine Attraktivität noch nicht verloren. Seine Haare waren braun und kurz geschnitten, seine Augen funkelten jeden fröhlich an und sein Lächeln brachte selbst eine Salzsäule zum Schmelzen. Noch dazu kam, dass er sehr auf sein Äußeres achtete und regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Er hatte mich bereits mehrmals dazu eingeladen, mitzukommen, aber wofür sollte ich schon trainieren? Manchmal hasste ich ihn für seine gutmütige Art.
»Wir nehmen zweimal doppelten Whiskey«, bestellte John, doch ich fügte hinzu: »Nur Wasser! Für mich!« Warum sollte ich zehn Dollar oder mehr für ein Getränk ausgeben, dass ich eh nicht genießen konnte? Dann konnte ich es genauso gut für andere nutzlose Dinge ausgeben wie zum Beispiel für Bräunungscreme.
»Mein Freund neigt zu scherzen, zwei Whiskey, bitte!«, erkläret John und schlug mir dabei kameradschaftlich auf die Schulter. Ich zuckte unter der Berührung zusammen, doch er schien es nicht bemerkt zu haben, denn er sah immer noch die Blondine an.
»Darf ich deinen Ausweis sehen?«, fragte die Barkeeperin und blickte mich das erste Mal direkt an. Ich atmete hörbar aus und kramte nach meinem Portemonnaie. Da war ich schon ein unsterbliches Wesen und über hundert Jahre alt, sah aber nicht so aus. Mein Körper war mit gerade mal achtzehn Jahren verwandelt worden und hängengeblieben. In einem europäischen Land wäre ich vielleicht davongekommen, aber hier in Amerika durfte man erst mit einundzwanzig Alkohol trinken.
John lachte amüsiert auf, legte seine warme Hand auf meine und drückte zu.
»Kannst du das bitte lassen?«, brummte ich, doch er hörte mich nicht. Dafür war das Gemurmel in der Kneipe einfach zu laut.
»Glaub mir, wenn ich dir sage, Schätzchen, dass wir beide alt genug sind.«
Schätzchen. Selbst mir stellten sich bei diesem Kosenamen die Nackenhaare auf. Dieses Mädchen könnte seine Tochter sein und er nannte sie so?
Ich linste zu ihr hoch und starrte in ein vergnügtes, aber aufgesetztes Lächeln. »Geht klar, Opa«, erwiderte sie, legte den Kopf schief und drehte sich um.
Innerlich musste ich lachen, doch nach Außen drang kein Ton. Ich mochte die Kleine. Sie hatte meinen Humor.
John drehte sich mir zu und rief: »Hast du das gehört? Sie hat mich Opa genannt.« Er lachte, schüttelte den Kopf.
Ich zuckte leicht mit den Schultern und endlich zog er seine Hand zurück.
»Wusste gar nicht, dass ich schon eine Enkeltochter habe«, brabbelte er weiter.
Ich schwieg. Schon jetzt bereute ich es, gekommen zu sein. Die Umgebung war mir zu laut, der Gestank von Zigaretten zu stark und der Whiskey würde mir vermutlich auch nicht schmecken.
»Weißt du, ich hatte fast erwartet, dir würde wie immer irgendeine Entschuldigung einfallen, wieso du mal wieder nicht kannst.«
»Hätte ich mal lieber«, flüsterte ich. Alles in mir schrie danach, diesen lärmenden und nach Menschen stinkenden Ort zu verlassen.
»Aber ich bin wirklich froh, dass du heute hier bist. Das meine ich ernst, Mann!«
Ich sah zu ihm auf. Er grinste von einem Ohr zum anderen. Falten bildeten sich um seinen Mund, doch sie machten ihn nicht älter, nur attraktiver. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht, sie wirkten traurig und leer.
»Ich auch«, log ich und zog einen Mundwinkel hoch.
Die Barkeeperin kam zurück und knallte uns zwei Gläser mit einer goldenen Flüssigkeit vor die Nase.
»Das macht zwanzig Mäuse«, rief sie uns zu, lächelte dabei höflich. Doch ich hörte die Abneigung in ihrer Stimme. Ich war ihr vermutlich zu hässlich und John zu aufdringlich. Ihr anfängliches Interesse an ihm war vollkommen verflogen.
Ich kramte erneut nach meiner Geldbörse, doch John legte seine Hand auf meine.
»Schon gut. Ich mach das.«
Ich hielt inne, sah ihn an.
In seinen Augen hatte ein flehender Ausdruck Einzug gehalten, verschattete sein Gesicht. Es schien, als wäre es für ihn ein wichtiges Anliegen, mich einzuladen.
Daher nickte ich und zog meine Hand zurück. John zückte sein Geld und drückte der Barkeeperin noch Trinkgeld in die Hand.
»Kauf dir davon was Schönes.«
Die Barkeeperin starrte auf die Scheine und erwiderte: »Definitiv! Von dem Geld gehe ich mir direkt Kopfschmerztabletten kaufen.« Immer noch lächelte sie uns an, aber spätestens jetzt sollte doch selbst der gutgläubige John verstanden haben, dass sie kein Interesse mehr hatte. Oder?
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging mit wiegenden Hüften davon. Sie warf aufreizend ihre Haare nach hinten und ihr billiges Parfüm traf mich. Rosen und Alkohol.
»Prost«, richtete John das Wort an mich und wir stießen an. Der Whiskey schmeckte rauchig, wog schwer auf meiner Zunge. Heiß rann er mir die Kehle hinab und setzte meinen Magen in Brand. Nun war ich doch froh, etwas anderes als Wasser genommen zu haben. Zwar schmeckte ich kaum etwas von dem Aroma – ich hätte genauso gut Chlorreiniger trinken können, der Geschmack wäre derselbe gewesen – dafür wärmte mich das Getränk von innen, vertrieb etwas von der Kälte. Ich hasste die Kälte und noch mehr hasste ich den November.
»Heute ist wirklich kein leichter Tag für mich, weißt du?« Johns Stimme ließ mich aufhorchen. Er klang wie ein gebrochener Mann und sein Anblick versetzte mir einen Stich. Der sonst so fröhliche Kerl war verschwunden und hatte einen zerschlagenen und ermüdeten Geist zurückgelassen.
»Was ist los, Kumpel?«, fragte ich ihn, versuchte so viel Mitgefühl in meine Stimme zu legen, wie ich aufbringen konnte.
»Heute genau vor einem Jahr war der Unfall.«
»Oh«, erwiderte ich und stierte nun ebenfalls in mein Glas, schwenkte es hin und her, sodass die Eiswürfel gegen die Wände klirrten.
»Wie geht's dir damit?«, fragte ich nach, wollte ihn so zum Reden bringen, dann musste ich es nicht tun.
»Es gibt gute und schlechte Tage. Heute ist ein schlechter Tag. Ich habe bei der Trauerrede geweint. Wusstest du das?«
Ich schielte zu ihm hinüber. Seine Miene war ausdruckslos. Er starrte auf sein noch volles Glas und schien in Gedanken versunken, als wäre er ganz woanders, oder bei wem anders. Kurz sah er zu mir auf und in seinen Augen spiegelte sich seine Trauer wider. Seine sonst grünen Iriden waren nahezu pechschwarz und Tränen verschleierten ihm die Sicht.
Ich schüttelte als Antwort mit dem Kopf.
»Nein, woher auch«, sprach er mehr zu sich selbst als zu mir. »Du bist ja direkt nach Hause gegangen.«
Es folgte eine lange Pause voller Schweigen. Unruhig drehte ich den Whiskey hin und her, beobachtete die Eiswürfel beim Schmelzen. Ich hätte heute wirklich nicht mitkommen sollen, ich war die letzte Person auf Erden, die ihm bei seiner Trauer helfen konnte.
»Ich vermisse ihn«, flüsterte er.
Ich nickte stumm. »Ich weiß«, antwortete ich, etwas Besseres fiel mir nicht ein. Hatte ich nicht schon erwähnt, dass ich für sowas nicht gemacht war? Reden, Menschen, Konversation, Gefühle. Das lag mir alles nicht. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass ich all diese Dinge hasste. Ich lebte seit Jahren allein, nur für mich, und fuhr bisher sehr gut damit. Es kümmerte keinen, wie es mir ging, also kümmerte es mich auch nicht, wie es anderen ging. Eine Art quid-pro-quo-Situation.
»Er war meine große Liebe und wurde mir so plötzlich genommen. Manchmal wache ich auf und könnte schwören, den Geruch von Kaffee in der Nase zu haben.« Seine Stimme wog schwer vor Trauer.
Selbst mir schnürte es die Kehle zu und ich hatte bisher nur ein einziges Mal geliebt. Dass sie mein Verhängnis gewesen war, sei hier mal so dahingestellt.
»Er hat mir morgens immer welchen gekocht, weißt du? Doch dann blinzle ich, gehe in die Küche und mir wird schlagartig klar, dass er nicht mehr da ist. Nie wieder da sein wird!«
Ich schwieg. John schwieg.
Jemand stieß mir gegen die Schulter und ich verschüttete beinahe mein Getränk. Wütend funkelte ich die Person an, die mich angerempelt hatte. Es war eine hübsche Brünette mit üppigem Vorbau, den sie in ein beiges Top gequetscht hatte. Sie wedelte mit einem Geldschein und wollte so vermutlich die Aufmerksamkeit der Kellner auf sich ziehen.
Mit einer Hand berührte ich sie am Arm und sie zuckte zurück, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Verschwinde«, zischte ich ihr zu, zog dabei die Augenbrauen zusammen und funkelte sie wütend an.
Schock verwandelte sich in Panik und so schnell, wie sie gekommen war, stolperte sie auch wieder davon.
»Freak«, hörte ich sie noch rufen, bevor sie in der Masse der feierwütigen Anwesenden verschwand.
Gleichgültig drehte ich mich um und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Boss. Der war in der Zwischenzeit in sich zusammengesackt und bettete sein Kinn auf dem Tresen. Seine Schultern hingen durch, sein Rücken war gebeugt und Tränen liefen ihm stumm über die Wangen.
»Auf den Abend«, prostete er mir halbherzig zu. Er besaß nicht einmal mehr genug Kraft, um sein Glas zu heben.
Ich entschied, ihn aufzumuntern. Ein Trauerkloß reichte! Ich wollte nicht, dass er sich genauso fühlte wie ich. Er war doch der Optimistische von uns beiden.
»Erzähl mir von ihm«, forderte ich ihn auf, hoffte so, ihn aus der Reserve zu locken und aufzumuntern.
Sein Blick huschte zu mir, er schien abzuschätzen, ob ich es ernst meinte.
Ich stupste ihm mit dem Ellenbogen gegen die Schulter, setzte mein falsches Lächeln auf und ermunterte ihn: »Komm schon! Ich will es wissen.«
Ein Mundwinkel hob sich und er richtete sich auf. Der alte John kehrte langsam zurück und seine Miene hellte sich auf. Kurz fuhr er sich durch die langsam ergrauenden Haare und setzte dann an: »Brandon war so ein Chaot. Ständig musste er seine Sachen rumliegen lassen. Du glaubst nicht, wo ich überall seine Socken gefunden habe.« Kaum fing er zu erzählen an, blühte er auf. Er berichtete von ihrem Kennenlernen, wie er ihn in einem Schwulenclub aufgegabelt hatte und es Liebe auf den ersten Kuss gewesen war. Danach kehrten sie nie wieder in diese Diskothek zurück.
Seine Erzählung bot mir die Möglichkeit, zu schweigen. Ich hörte ihm zu, nickte an den richtigen Stellen, stieß erstaunte Laute aus und stellte kurze Zwischenfragen. So blieb es mir erspart, über mich und mein verkorkstes Leben zu sprechen. Denn wer wollte das schon hören? Selbst ich fand es langweilig und hasste es.
Mehrere Gläser Whiskey und einen Liter Bier mit Schuss später war John am Limit und schaffte es nicht mal mehr, sich korrekt zu artikulieren.
»Er war so ein toller Mann! Du hättest ihn mal im Bett erleben sollen!«, nuschelte er.
»Lieber nicht«, erwiderte ich. »Stehe mehr auf Frauen.«
»Ach, wenn du einmal einen richtigen Mann gehabt hast, willst du nie wieder eine Frau! Also, das soll nicht heißen, dass ich sie nicht mag.« Er fuchtelte mit seinem Finger vor meiner Nase herum. Ich packte seine Hand und drückte sie auf die Theke. »Aber, ich sag dir, ein Mann weiß, was ein Mann will!«
»Wenn du es sagst«, erwiderte ich. Nichts lag mir ferner, als mit einem Betrunkenen über die Vorzüge von einem Mann als Geschlechtspartner zu diskutieren.
»Du bist wirklich ein toller Freund. Nein! Der Beste!« Er schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter. Sein von Alkohol geschwängerter Atem stieg mir in die Nase und ich hielt die Luft an. Er stank fürchterlich.
»Weißt du, warum ich wollte, dass du mitkommst?« Die Frage überraschte mich und ich sah ihn verdutzt an.
John hob seinen Kopf und sah mich geradeheraus an. Seine Augen hatten wieder einen natürlichen Grünton angenommen und sein Mund war zu einem zarten Lächeln verzogen. »Weil du der Einzige bist, der mich versteht.« Seine Stimme brach zum Schluss hin und ein Schluchzen drang aus seiner Brust.
Verunsichert sah ich ihn an, wusste keine Antwort auf seine Worte und erwiderte seinen Blick stumm.
»Denn auch du hast einen geliebten Menschen verloren«, flüsterte er und musste schlucken.
Irgendwo stimmte das. Man konnte zwar nicht immer von verlieren sprechen, denn wie konnte man einen Menschen verlieren, den man nie kennengelernt hatte? Schließlich war mein Vater irgendein dahergelaufener Wicht und meine Mutter eine Dirne gewesen. Eigentlich war es ein Glück, dass ich sie nie kennengelernt hatte. So musste ich nicht um sie trauern. Aber dafür gab es andere, die mir wichtig gewesen waren.
»Da hast du wohl recht«, murmelte ich und wandte mich von ihm ab. Ich hatte keine Lust, weiter über mein erbärmliches Leben nachzudenken und stürzte stattdessen den letzten Rest des Biers hinunter.
Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass es mir John gleichtat und anfing, gefährlich auf dem Barhocker zu taumeln. Er verlor das Gleichgewicht und drohte, zur Erde zu stürzen. Im letzten Moment konnte ich ihn noch am Arm packen, bevor er mit dem Stuhl zusammen auf den Boden gekracht wäre.
Der Schlag der Lehne hallte in der nun fast leeren Kneipe laut wider. Es war schon spät und die meisten Gäste hatten sich bereits verabschiedet.
»Ich glaube, wir sollten gehen!«, erklärte ich ihm.
»Nein«, protestierte John und schüttelte meine Hand ab. »Ich will noch nicht!«
Ich seufzte. Wie hieß es so schön? Betrunkene waren wie kleine Kinder? Der lebende Beweis wankte gerade vor mir.
»Na, komm schon, John! Du bist völlig betrunken. Ich rufe dir ein Taxi.« Ich ließ heute nicht mit mir diskutieren, dafür war ich nicht in der Stimmung. Wenn ich es recht betrachtete, war ich nie in der Stimmung für unnötige Diskussionen.
Ich stand prompt vom Stuhl auf und hakte mich bei John unter. Er stützte sich mit seinem gesamten Gewicht auf mir ab, ich ätzte unter ihm.
»Wie viel wiegst du, Alter?«, fragte ich ihn.
»Ich liebe dich auch, Mann«, murmelte John und kam mir mit seinem Mund gefährlich nahe. Ich drehte mein Gesicht weg und hielt ihn eine Armlänge von mir entfernt. Schlaff sackte er an meiner Schulter zusammen und sabberte meinen Mantel voll. Angewidert verdrehte ich die Augen. Ich vermisste viel, aber vom Alkohol völlig benebelt zu sein, gehörte zu den wenigen Dingen, auf die ich verzichten konnte.
Um ihn besser tragen zu können, legte ich mir seinen Arm über die Schulter. Welch ein Glück, dass ich so klein war. Einer der wenigen Vorteile. So schleifte ich ihn regelrecht zum Ausgang. Hinter uns hörte ich, wie die Stühle auf die Tische gestellt wurden.
Seine weiteren Proteste ließ ich an mir abprallen wie Kugeln an einem Panzer. Als wir endlich in die kalte Nachtluft traten, verstummte er und wurde etwas klarer.
»Ich glaube, du hast recht. Ich sollte nach Hause fahren.« Er stieß überraschend auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich befürchtete, dass er sich gleich übergeben würde. John schwankte bedrohlich und sein Gesicht färbte sich grün.
»Reiß dich zusammen, John!«, befahl ich ihm und funkelte ihn böse an.
Meine Worte fruchteten und er richtete sich auf, als wäre er gerade auf dem Exerzierplatz.
»Jawohl, Herr General! Alles gut, nichts passiert«, verkündete er selig grinsend.
Skeptisch sah ich ihn an. Sein Gesicht war immer noch recht blass, aber sonst sah er ganz vorzeigbar aus. Ich wandte mich von ihm ab und streckte einen Arm aus. An dieser vielbefahrenen Straße sollte es ein Leichtes sein, ein Taxi anzuhalten. Und so kam es auch. Ich musste keine Minute warten, da blinkte bereits ein Fahrzeug und fuhr zu uns an den Straßenrand.
»Komm!« Ich fasste John am Handgelenk und zog ihn zu dem Wagen.
»Nein, ich will nicht allein. Komm mit. Komm mit zu mir.« Er klammerte sich an meinem Kragen fest, zog mich mit sich. Energisch löste ich seine Finger von meinem Trenchcoat und bugsierte ihn ins Wageninnere. Ich nannte dem Fahrer Johns Adresse und murmelte eine kurze Verabschiedung. Dann schlug ich die Tür zu und das Taxi fädelte sich in den regen Verkehr von New York City ein.
Ich war erleichtert, den Abend so gut überstanden zu haben und im Nachhinein konnte ich behaupten, dass es ganz okay gewesen war. Zumindest hätte es schlimmer kommen können.
John hatte wohl einfach nur einen Freund zum Reden gebraucht. Ich konnte ihn verstehen. Er musste Brandon wirklich sehr geliebt haben.
Wie sehr ich mir das für mich wünschte. Aber wer könnte schon jemanden wie mich lieben? Ich war klein, unansehnlich, pessimistisch und – ach ja – faktisch tot. Man könnte mich auch als wandelnde Leiche bezeichnen, die nur durch das Blut von Menschen aufrechtgehalten wurde. Oh, wie ich mein Leben hasste.
Das Auto war schon lange aus meinem Sichtfeld verschwunden, doch ich stand noch immer da und starrte ins Leere. Ich hatte es nicht eilig, wo sollte ich auch hingehen? Niemand wartete auf mich, niemand vermisste mich, da war einfach keiner, zu dem ich hätte heimkehren können.
Kälte kroch meinen Körper hinauf und ließ mein Herz zusammenziehen. Sehnsucht fraß sich durch mein Fleisch und schnitt tiefe Wunden in meinen Körper. Ich zog die Schultern hoch und wandte mich von der Straße ab. Mir stand eine einsame Nacht bevor, eine Nacht ohne Schlaf und ohne Wärme.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro