
IV Faden
Das denke ich, obwohl mir der Tod immer unvorstellbar weit entfernt vorgekommen ist. So weit weg wie Australien oder Schweden. In meinem Leben hat er bisher keine Rolle gespielt. Ich bin mit topfitten Großeltern gesegnet, die im hohen Alter noch mehrtägige Wandertouren durch den Nahani National Park unternehmen. Und von Schicksalsschlägen, Krebs oder anderen tödlichen Krankheiten bin ich verschont geblieben.
Offenbar hat das Schicksal nun andere Pläne mit mir.
Ich mache einen kläglichen, wimmernden Laut und hebe abwehrend die Hände. Der Sensenmann kommt näher, immer näher. So nah, dass ich einen Arm ausstrecken und ihm die verdammte Sense aus der Hand reißen könnte. Vielleicht sollte ich das tun?
Meine Finger zucken. In dem Moment hebt der Vermummte die Hand und schiebt die Kapuze vom Kopf. Silberweißes Mondlicht trifft auf kalkweißen Knochen. Dort, wo ein menschliches Auge sein sollte, klafft bloß die leere Höhle. Eine Kopfhälfte ist skelettiert, als wäre die Person in Salzsäure gestürzt, die die Haut vom Knochen trennt.
Der andere Teil des Kopfes ist menschlich. Der Wangenknochen schimmert hellrosa vom Rouge. Der Teil des Mundes mit Lippen lächelt mich an. Es ist ein vertrautes Lächeln, das schmale Gruben am Mundwinkel formt. Der Sensenmann ist eine Frau. Und sie ist ...
„Mum?" Meine Stimmbänder beben.
Ich weiß nicht, was ich erschreckender finden soll. Dass meine Mutter als sensenschwingende Gruselgestalt verkleidet durch die Straßen von Dawsons Creek streift und ihren Mitmenschen fast einen Herzinfarkt beschwert. Dass sie einen Look kreiert hat, der täuschend echt aussieht. Oder, dass sie mir verboten hat, heute auszugehen, um selbst ihre komische Horror-Show abzuziehen.
„Was zur Hölle machst du hier? Ich dachte, du wärst im Krankenhaus? Und was soll die gruselige Verkleidung? Macht es dir Spaß, deinen Mitmenschen einen Herzinfarkt zu bescheren?" Die Fragensalve quillt aus mir raus und mit jeder einzelnen wird Mums Lächeln schwächer. Sie lässt die Sense langsam sinken, sodass die Klinge nicht mehr auf den Kopf ihrer Tochter zeigt.
„Mel", murmelt sie, während ihr menschliches Auge hektisch über meine Züge huscht. „Geht es dir gut? Hab' ich dich erschreckt?"
„Ja, dumme Frage. Ich hatte Todesangst", entgegne ich ruppig. „Erst dachte ich, dass ich einen Menschen totgefahren hätte. Und dann, dass besagtes Opfer sich mit einer verfluchten Sense auf mich stürzen will!"
„Das wäre nicht passiert, wenn du auf uns gehört hättest", reagiert Mum ungewohnt schnippisch. „Und das, was gleicht kommt, auch nicht."
Mit wehendem Umhang läuft sie an mir vorbei. Ich wirble herum, starre ihr sekundenlang entgeistert nach, bevor ich ihr mit schnellen Schritten folge.
„Wo willst du hin?"
Mum antwortet nicht. Sie geht stoisch weiter, mit gehobenem Kopf, den sie wieder mit ihrer Kapuze verdeckt hat.
„Was hast du vor?"
„Ich arbeite", sagt sie und biegt in die Straße, an deren Ende Phils Scheune steht. „Nachtschicht, schon vergessen?"
Ihr Skelett-Gesicht dreht sich halb zu mir, bevor sie wieder den unebenen Asphalt vor uns fixiert. Ein Schäferhund wirft sich bellend in den Maschendrahtzaun. Ich zucke zusammen, Mum reagiert überhaupt nicht.
„Was soll das heißen?", keuche ich. Ich muss fast joggen, um mit Mum Schritt zu halten. „Führst du ein Doppelleben als Horror-Party-Clown, oder was?"
„Du solltest wirklich nicht hier sein. Fahr wieder nach Hause, Mel."
Ich packe sie an der Schulter, zwinge sie anzuhalten. Ihr spitzer Schulterknochen bohrt sich in meine Handfläche, als würde nur der Stoff ihn verdecken. Ich spüre keine Sehnen, keine Muskeln, kein Fleisch.
„Was ist das für ein krankes Kostüm?", zische ich. Eine Mischung aus Wut und Entrüstung bringt mein Blut zum Kochen. „Erklär's mir, sonst gehe ich nirgendwohin."
Der brodelnde Emotionscocktail brennt sich durch meinen Körper. Ich zittere, als Mum sich zu mir dreht. Bevor sie mir eine weitere Lüge auftischen kann, hebe ich die Hand. Meine Finger gleiten erst über die warme, weiche Haut ihrer Stirn, bevor sich die Struktur verändert. Die bleiche Oberfläche ist rau und eiskalt. Nicht glatt wie Kunststoff, nicht schmierig wie eine zentimeterdicke Makeup-Schicht. Der Knochen ist echt.
Die Erkenntnis schlägt ein. Ich springe zurück, als hätte ich mich verbrannt. Mein Magen krampft sich zusammen, ich kämpfe mit aller Macht gegen die Schwindel und Übelkeit, die mich würgen lassen.
Plötzlich prasseln Bilder auf mich ein. Erinnerungen, die mir seltsam fremd vorkommen. Mum steht in ihrem Halloween-Outfit über mir, ihr Knochenfinger liegt auf meiner Stirn. „Schlaf, mein Schatz", wispert sie und augenblicklich versinke ich in der Dunkelheit. Als nächstes taucht eine Szene in unserer alten Küche in Vancouver auf. Meine Eltern am runden Esstisch, diesmal sieht Mum aus wie sie selbst. „Du musst es ihr sagen." Dad beugt sich vor, umschließt die Hände seiner Frau mit seinen eigenen. „Sag ihr, wer du bist."
Mums Antwort geht in dem Strudel unter, der die Erinnerung erfasst. Die Farben wirbeln durcheinander, vermischen sich, ergeben ein neues Bild. Ich sitze auf der Tribüne der hiesigen Sporthalle und höre mich selbst heiser rufen; Phils Namen und die seiner Teamkollegen. So laut und inbrünstig wie möglich feuere ich das Eishockey-Team an.
Es ist ein Spiel, das ich dutzende Male gesehen habe. Der Ton ist rau, die Spieler rempeln und stoßen sich mit vollem Tempo an, um die Oberhand zu gewinnen. Ein Kollege von Phil ist am Zug. Er schießt so schnell über das Eis, dass seine Umrisse vor meinen Augen verwischen. Dem ersten Angreifer weicht er geschickt aus. Den zweiten aus dem Hinterhalt sieht er nicht kommen. Ein Schläger trifft ihn am Knie, reißt ihn von den Füßen. Bäuchlings schlittert er über das Eis. Ein Mitspieler kann nicht rechtzeitig bremsen, rast in den Gefallenen. Das Knäul aus zuckenden und strampelnden Gliedmaßen kracht in die Bande.
Wieder wechselt die Kulisse. Diesmal bin ich im Krankenhaus, am Bett des verletzten Eishockeyspielers. Unzählige Schläuche ragen aus dem Mund, der Nase und anderen Körperstellen. Sein Brustkorb hebt sich mechanisch, der Puls geht langsam.
Aus den Augenwinkeln registriere ich eine Regung. Eine schwarzgekleidete Gestalt mit Sense steht neben mir im engen, stickigen Krankenzimmer vor dem Bett.
„Schau. Seine Seele."
Die Stimme meiner Mutter ist leise, fast zärtlich. Atemlos sehe ich dabei zu, wie eine leuchtende Kugel aus der Stirn des Mannes tritt. Sie steigt einen halben Meter hoch in die Luft, verbunden mit dem Körper nur durch einen hauchdünnen Faden. Ich verliere mich in den tanzenden Lichtern, die von der Kugel ausgehen. Sie strahlt in allen Facetten des Regenbogens. Bunt und wunderschön.
Bis Mum die Sense schwingt und den Faden durchtrennt.
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