
III Sensenmann
Jurassic World flimmert über den Fernseher. Ich bekomme von dem Film aber nicht viel mit, weil ich zu sehr mit meinem Fluchtplan beschäftigt bin.
Wie ich Dad kenne, wird er nicht ewig durchalten und einnicken. Wenn ich mich aus dem Haus schleiche, während er vor sich hin schnarcht, werde ich wahrscheinlich erst um Mitternacht auf der Party sein. Das ist zwar spät, aber besser als nichts.
Ich könnte mich auch durch das Fenster im Gästeklo quetschen. Unter dem Vorwand, dass ich Bauchschmerzen habe, wird er nicht sofort nach mir sehen. Und wenn er es tut, werde ich weit genug weg sein. Die Frage ist nur, wann er sich zusammenreimt, dass ich auf Phils Party bin. Vor versammeltem Jahrgang bloßgestellt zu werden, ist deshalb keine Option.
„Jetzt kommt meine Lieblingsszene." Dad stößt mich mit der Schulter an und wedelt hektisch Richtung Bildschirm, bevor er sich eine Handvoll Popcorn in den Mund wirft.
„Mhm", bestätige ich, doch Dad ist zu sehr in die Flucht vor dem Monster-Dino vertieft und reagiert nicht. Vielleicht kann ich mir seine Unauferksamkeit zunutze machen.
Lautlos stehe ich auf und laufe Richtung Hausflur. Als ich zurücksehe, hat Dad auch das nicht registriert. So vorsichtig wie möglich, schlüpfe ich in meinen Wollmantel und die Wildlederboots. Mein Smartphone habe ich bei mir, den Schlüsselbund ziehe ich vom Haken und nehme vorsorglich auch noch Dads Autoschlüssel mit.
Angenehmen Fußmarsch, wünsche ich ihm still, bevor ich aus dem Haus verschwinde.
Die Luft ist diesig und so kalt, dass sie auf meiner erhitzten Haut sticht. Dichter Nebel hat die Kleinstadt verschlungen. Graue Schleier hängen zwischen den Tannen, die unsere Einfahrt säumen. Sie verschlucken das Licht der flackernden Laternen und des Vollmondes, der über den Ziegeldächern schwebt.
Zum Glück habe ich meinen verbeulten Golf am Straßenrand statt in der Garage geparkt. In sicherer Entfernung zum Haus starte ich den Motor. Mein PKW begrüßt mich mit sanftem Brummen und Anfangsakkorden von Let It Be. Bevor ich losfahre, drehe ich das Radio voll auf, bis der wummernde Bass sich mit meinem Herzschlag vermischt. Ich lasse den Motor aufheulen und schieße mit quietschenden Reifen los.
Die blasse Wand, die meine Scheinwerfer kaum durchdringen, kann mich genauso wenig stoppen wie meine Eltern.
Fröhlich summe ich während der Fahrt mit und trommle arhythmisch auf das Lenkrad. Phil macht sich jedes Mal über meine Gesangskünste lustig, aber ein verbaler Seitenhieb bleibt heute aus. Den Weg zu meinem besten Freund kenne ich blind. Ich habe den Alaska Highway schon dutzende Male überquert. In dieser Nacht liegt die Hauptverkehrsader verlassen da.
Auch der Chamberlain Park, der tagsüber voller Familien und Wanderer ist, ist jetzt ein verwaistes Stück Land. Die kahlen Äste der Chamberlain-Eichen stechen durch den Nebel wie gebrochene Knochen durch Haut. Ein Windstoß lässt sie auf und ab wippen, als ich am Park vorbeifahre. Sie winken mir zum Abschied zu.
Die alte Scheune liegt hinter einem Wall aus beleuchteten Kürbisfratzen. Ihre Augen blitzen durch den Schleier zu mir rüber. Verfolgen mich, während ich um das Grundstück kreise und verzweifelt nach einem Stellplatz suche. Auf dem Grünstreifen reihen sich die PKWs so dicht aneinander, dass ihre Stoßstangen sich berühren.
Vor Ungeduld packe ich das Lenkrad fester, aber auch die fünfte Ehrenrunde bringt mir kein Glück. Ich schalte einen Gang runter, trete aufs Gas. Der heulende Motor klingt, wie ich mich fühle. Frustriert und verzweifelt. Vielleicht nehme ich die Linkskurve, die zurück zum Park führt, deshalb schärfer als sonst. Ein Schlagloch teilt den Asphalt vor der Motorhaube. Ich holpere ungebremst darüber, nehme keine Rücksicht auf den betagten Wagen.
Bis es plötzlich knallt.
Ein schwarzer Umriss steht mitten auf der Straße. Der Aufprall reißt ihm die Füße unter dem Körper weg. Er kracht auf das Blech, rollt quer über die Windschutzscheibe. Ich trete auf die Bremse. Mein Herz rast, pumpt Adrenalin durch meine Adern. Noch bevor der Wagen ausgerollt ist, reiße ich die Tür auf. Ich strauchle, als ich in die Vertiefung im Asphalt trete. Kralle mich am Außenspiegel fest und taumle vorwärts.
Jemand streckt sich quer über meine Motorhaube. Ein weites, schwarzes Gewand umhüllt den Körper, der sowohl einem übergewichtigen Mann als auch einer zierlichen Jugendlichen gehören könnte. Es sieht aus wie die Kleidung, die auf Mittelaltermärkten getragen wird. Ein schwerer, rauer Leinenstoff.
„Hallo?" Der brummende Motor verschluckt meine Worte. „Sind Sie bei Bewusstsein?"
Trotzdem wurde ich gehört. Ein Stöhnen hallt durch die Nacht. Gefolgt von einem wüsten Fluch. Ruckartig hebt die Person den Kopf, das Gesicht von einer Kapuze verdeckt. Stößt sich mit den Händen vom Blech ab, winkelt die Beine an und macht einen Satz. Wie eine Katze landet sie auf allen Vieren, stellt sich auf die Beine. Und dreht sich langsam zu mir.
Der milchige Schleier, der auf der Welt liegt, lässt die Konturen verschwimmen. Leuchtende Augen starren mich an und ich denke sofort wieder an eine Raubkatze. Instinktiv weiche ich zurück. Mein Atem geht ruppig und stoßweise. Ich bin bereit, ins Auto zu springen und davon zu rasen. Erste-Hilfe hin oder her. Ich habe ein ungutes Gefühl und ich werde nicht warten, bis mein Gegenüber sich auf mich stürzt.
Ein Ruck geht durch die Gestalt, meine Finger streifen den Türgriff. Doch die Bewegung richtet sich nicht vor- sondern abwärts. Metall schleift über Stein. Meine Nackenhaare sträuben sich. Der Atem stockt, als die Gestalt sich aufrichtet und ich den Gegenstand in ihren behandschuhten Fingern erkenne.
Sie hält eine Sense mit obsidianschwarzer Klinge. Mit der Waffe in der Hand kommt sie auf mich zu. Das Gewand fließt um ihren Körper wie Rauch. Ich stehe da, starr und bewegungslos. Mein Herz hämmert panisch gegen meine Rippen, doch mein Gehirn ist leergefegt. Ich bin leichte Beute für einen Serienmörder.
Was für ein Klischee. Langsam und zäh quält sich die Erkenntnis durch meinen Verstand. Was für eine Ironie, dass ich an Halloween durch die Hand des Sensenmannes sterben werde.
Ich werde sterben.
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