44. Halsband
»Ihr habt noch sieben Minuten.«
Ich seufzte und vergrub mein Gesicht in den Händen. Warum mussten wir ausgerechnet heute einen unangekündigten Test schreiben? Ob man es sich vorstellen konnte oder nicht, ich hatte die letzten Tage wirklich andere Dinge zu tun gehabt, als für so ein unwichtiges Fach wie Philosophie zu lernen. Dementsprechend keine Ahnung hatte ich aber auch. Ich hatte vielleicht vier, fünf Zeilen auf mein Blatt gekritzelt. Immer noch starrte ich auf das Angabenblatt und verstand einfach gar nichts. Egal. Ich gab es auf. Es war nur ein Test. Es gab durchaus schlimmeres. Ich faltete mein Antwortblatt, legte die Angabe hinein und schob es an den Rand des Tisches, bevor ich die Arme verschränkte, mich in meinem Stuhl zurücklehnte und den Blick über die Klasse schweifen ließ. Die meisten schienen schrieben noch, doch ein paar schienen, wie ich, entweder die Hoffnung schon aufgegeben zu haben, oder bereits fertig zu sein. Ich spürte den Blick zweier Alpha auf mir, doch was die konnten, konnte ich schon lange. Die nächsten zwei Minuten verbrachten wir damit, uns ein grimmiges Blickduell zu liefern, bis die Stimme des Lehrers, der die verbleibende Zeit ansagte, uns gleichzeitig wegsehen ließ. Stattdessen beobachtete ich jetzt Tobi, der sich gerade zufrieden seinen geschriebenen Text noch einmal durchlas. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er leicht, bevor er auch seinen Aufgabenbogen weglegte. Nervös nestelte mein bester Freund an dem Lederband um seinen Hals herum, bevor er mit den Fingern den Verschluss suchte und es öffnete. Als er seine Hand von seiner Haut löste und das schwarze Leder um seinen Hals entfernte, sah ich ihn fragend an. Er zog einen Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns hoch, bevor er sich über meinen Tisch beugte und aus meinem Federmäppchen eine Schere zog. Er legte das Halsband mit der Innenseite nach oben vor sich auf den Tisch und begann, vorsichtig ein Stück überstehenden Stoff abzutrennen, bevor er prüfend mit dem Finger darüber fuhr und lächelte. Ich verstand, dass dieser überstehende Stoff ihn wohl gekratzt haben musste und er ihn deswegen entfernt hatte. Er legte das Leder wieder um seinen Hals und versuchte vergeblich, den Verschluss in seinem Nacken zu schließen. Als er zum wiederholten Mal daran scheiterte, griff ich wortlos nach seinen Händen und hielt sie fest, bevor ich ihm das Leder aus den Fingern nahm. Ich musste zugeben, dass das warme Material sich tatsächlich besser anfühlte als befürchtet. Ich schloss das Halsband auf einer für Tobi angenehmen Stufe des größenverstellbaren Verschlusses und grinste meinen Banknachbarn zu. Er lächelte dankbar.
Als ich wieder in die Klasse sah, konnte ich jedoch erkennen, dass einige der Alpha nicht so erfreut darüber zu sein schienen. Gleich vier paar grimmige Augen funkelten uns entgegen und sogar der Lehrer, auch ein Alpha, schien nicht sonderlich erfreut zu sein, seiner Mimik nach. Ich musste schlucken und sah zu Tobi, der den Ärger in den Blicken der Alpha auch bemerkt zu haben schien. Viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb uns jedoch nicht, denn im selben Moment erklärte der Lehrer, dass wir noch eine Minute hätten. Ich mein Blatt noch einmal zu mir heran und öffnete es, bevor ich mit Kuli eine Notiz unter meine nicht sehr ausführlichen Lösungsansätze kritzelte: Philosophie ist nicht das Wichtigste der Welt.
Ich wusste jetzt schon, dass unser Lehrer austicken würde deswegen, er verstand nicht besonders viel Spaß und betonte sowieso immer wieder, wie wichtig sein Fach doch wäre. Wie jeder Lehrer eigentlich. Aber es war mir in diesem Moment egal. Gerade als ich den letzten Buchstaben schrieb, kam von vorne die Anweisung, die Stifte wegzulegen (Die »letzte Minute« war natürlich wie immer weitaus weniger als eine Minute gewesen) und die Blätter zur Mitte durchzugeben. Sofort brachen in der Klasse mehr oder weniger leise Gespräche aus, wie es wem gegangen war und wer wo was geschrieben hatte. Mich interessierte das alles nicht, ich würde eh keine Punkte erzielen. Natürlich dachte keiner mehr auch nur im Traum daran, den Rest der Stunde noch Unterricht zu machen und so schickte der Lehrer uns ein paar Minuten früher als üblich in die Pause und verließ das Klassenzimmer. Das sollte sich jedoch als unser Verhängnis herausstellen, denn sobald die Tür hinter dem Lehrer zugefallen war, bauten sich drei Alpha vor uns auf. Alle drei gehörten zu Max' Gruppe, Max selbst jedoch war heute nicht in die Schule gekommen. Ich wollte nach Tobis Arm greifen, um ihn von den drei Größeren wegzuziehen, doch noch ehe ich irgendwie reagieren konnte, wurde mein Kopf unsanft zur Seite geschleudert. Meine Wange brannte und ein fester Griff um meinen Kiefer zwang mich, dem Alpha mir gegenüber direkt ins Gesicht zu sehen. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass es Tobi nicht besser ging. Einer der anderen Alpha hatte seine Hand in Tobis Haar gekrallt und zog so seinen Kopf schmerzhaft in den Nacken.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, zischte der Alpha bei Tobi gerade gefährlich und ich konnte erkennen, wie sehr mein bester Freund ein ängstliches Zittern unterdrücken musste. Die Wut in mir stieg und ich versuchte, um mich zu treten und zu schlagen, um irgendwie aus dem Griff des Alpha freizukommen. Damit bewirkte ich allerdings nur, dass der dritte Alpha, der bis jetzt nur zugesehen hatte, ebenfalls zu mir trat und mir die Arme hinter den Rücken verdrehte. Ich zischte schmerzerfüllt auf und funkelte wütend in das breit grinsende Gesicht des Alpha vor mir. Noch ehe dieser realisieren konnte, was geschah, spuckte ich ihm verächtlich mitten ins Gesicht.
Im Hintergrund läutete die Schulglocke zum offiziellen Pausenbeginn und unsere Mitschüler begannen, den Raum zu verlassen, doch keiner der Alpha vor uns machte Anstalten, darauf zu reagieren. Stattdessen holte der Alpha, dem ich ins Gesicht gespuckt hatte, aus und erneut spürte ich den brennenden Schlag seines Handrückens auf meiner Wange, dicht gefolgt von dem Knie, das sich in meinen Magen rammte. Ich krümmte mich vor Schmerz zusammen und schnappte nach Luft. Undeutlich hörte ich, wie der dritte Alpha Tobi anschrie, für wen er sich eigentlich halten würde, dass er es wagen würde, das Halsband abzunehmen und wem er den gehören würde. Ich konnte sehen, wie Tobi Tränen über die Wangen liefen, während er Rafis Namen stotterte.
Im nächsten Moment wurde ich wieder auf die Beine gezerrt und eine feste Hand schloss sich so um meinen Nacken, dass ich mich gezwungenermaßen in gebückter Haltung von den Alpha aus dem Raum schieben lassen musste. Neben mir hatte der dritte Alpha Tobi am Ohr gepackt und zog ihn ebenfalls mit sich.
Ich hätte schreien können vor Wut und Verzweiflung, doch ich war machtlos.
Und das alles nur wegen diesem beschissenen Halsband.
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