Kapitel 2
Kapitel 2
Salina
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, donnerte mein Vater so laut, dass ich zusammenfuhr, als hätte er mich geschlagen.
Kaum dass ich nach Hause zurückgekommen war, hatten mich seine Sicherheitsleute entdeckt und zu ihm gebracht. Ich hatte es nicht mal mehr in mein Zimmer geschafft.
Nun befanden wir uns in Dads Büro, das an sein Schlafzimmer angrenzte. Der Raum wurde lediglich von ein paar Kerzen erhellt, die auf dem aus Stein gehauenen Sims standen. Es gab nicht viele Gegenstände außer einem kleinen Schreibtisch mit einem alten Holzstuhl, der jedes Mal gefährlich wackelte, wenn er sich darauf setzte. Die dunklen Steinwände waren nackt, was das Zimmer noch düsterer erscheinen ließ.
Doch in den anderen Räumen sah es nicht besser aus. Bei unserem Zuhause handelte es sich um das größte Versteck von Schattenwesen in der Gegend. Unsere Spezies hatte hier Zuflucht gefunden. Allerdings lebten wir in keinem Fünfsternehotel. Im Gegenteil. Es war ein altes, stillgelegtes Bergwerk unweit von London im Süden Englands.
Da die Lichtwesen immer mehr Schattenwesen aufspürten, wuchs die Zahl der Geflüchteten monatlich, sodass wir kaum mehr Zimmer hatten.
Schon jetzt war es erdrückend. Die engen Gänge, der Platzmangel, die Angst um Nahrungsmittelknappheit, die andauernde Furcht, entdeckt zu werden. Oft gab es kein warmes Wasser und die Luft war stickig. Zwar gab es Schächte, um frischen Sauerstoff zu erhalten, dennoch roch es oft muffig. Wir hatten nicht genügend Strom und mussten mit Solaranlagen vorliebnehmen, mit denen wir Energie speicherten. Mein Vater war sehr sparsam, weshalb spätestens um neun Uhr abends die Lichter ausgingen. Die Sicherheitsleute, die auch nachts auf Patrouille gingen, hatten meistens geklaute Taschenlampen, da es uns an Geld fehlte. Allgemein waren die meisten Sachen, die wir besaßen, geklaut oder selbst zusammengebaut aus Materialien, die wir in der Umgebung gefunden hatten. Wir hatten uns an unsere Heimat gewöhnt. Doch auch wenn die Finsternis zu uns passte, war sie auf Dauer ungesund und ließ viele depressiv werden.
»Mit deinem rücksichtslosen Verhalten gefährdest du uns alle. Ist dir das klar, Salina?«
Statt zu antworten, kaute ich auf meiner Unterlippe herum. »Ich war vorsichtig«, gab ich schließlich zurück.
»Du wiegst dich zu sehr in Sicherheit. Ein kleiner Fehler und dann war es das!« Mein Vater rannte aufgewühlt hin und her, wobei er aufgrund der Enge nur wenige Schritte gehen konnte. Voller Verzweiflung reckte er die Hände in die Luft. Fehlte nur noch, dass er sich die Haare raufte. »Was mache ich nur mit dir?«
Reumütig zog ich den Kopf ein. Ich fühlte mich schlecht, wenn er enttäuscht von mir war. In dem Moment klopfte es an der Tür und kurz darauf trat einer unserer Schattenwächter in den Raum. Hinter ihm erkannte ich einen zweiten jünger aussehenden Wächter. Sie trugen alle dunkle, zerschlissene Klamotten.
»Gerard, entschuldige die Unterbrechung.« Der ältere von beiden fuhr sich durch die kurzen, leicht ergrauten Haare und bedachte mich mit einem forschenden Blick, ehe er wieder zu Dad sah, der auffordernd nickte.
»Was ist los?«, fragte Dad.
»Einer unserer Späher kam gerade von seinem Streifzug zurück und hat berichtet, dass sich die Lichtwesen vermehrt in London und Umgebung herumtreiben. Sie scheinen immer mehr Schattenwesen anzugreifen und Geheimverstecke aufzuspüren«, antwortete der jüngere Wächter mit sorgenvoller Miene. »Momentan konzentrieren sie sich auf die umliegenden Dörfer, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie womöglich ...«
»Hier ankommen«, beendete Dad den Satz ernst. Er war über ihr Erscheinen sichtlich unzufrieden, kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick zu Boden. In seinem Kopf arbeitete es.
»Ich komme sofort«, sagte er mit finsterem Blick und nickte den Wächtern zu, die daraufhin nach draußen gingen.
Dad fuhr sich über das Gesicht. Seine Stirn war so gerunzelt, dass ich schon glaubte, die Falten würden nie mehr verschwinden. Dann massierte er sich die Nasenwurzel, wie er es immer tat, wenn er aufgewühlt war. Die Last als Anführer zeichnete ihn sehr. Er lachte nicht mehr so viel wie früher, seine kurz geschorenen Haare ergrauten allmählich und die Schatten unter seinen glanzlosen, blauen Augen wurden immer länger. Ich machte mir Sorgen um ihn, aber jetzt wäre es mir lieber gewesen, wenn er den Wächtern direkt gefolgt wäre. Wenn sie uns unterbrachen, musste es ernst sein. Und diese Tatsache jagte mir eine Heidenangst ein. Die erhöhte Aktivität der Lichtwesen konnte ich bestätigen. Ich hatte dennoch nicht vor, den Lichtjungen zu erwähnen. Mein Vater würde durchdrehen und dann würde ich gar nicht mehr hinausgehen dürfen. Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. Ich brauchte meine Freiheit. Sie war alles, was ich noch hatte. Alles, was mich noch am Leben hielt.
Außerdem würde mir mein Vater sowieso nicht glauben. Von einem Regierungstypen auf frischer Tat ertappt und dann nicht zu den Lichtwesen verschleppt zu werden, war schier unmöglich. Das klang nach einem Witz. Ich konnte es ja selbst kaum glauben.
Das Gesicht des Jungen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Seine dunkelbraunen Augen, die mich überrascht angesehen hatten, als könnte er nicht glauben, was ich getan hatte. Und damit meinte ich nicht die Tatsache, dass ich ihn beinahe umgebracht hätte, sondern dass ich ihn hatte leben lassen, obwohl ich doch genau wusste, wie sehr uns die Lichtwesen verabscheuten. Sie waren schuld an dem Tod meiner Mutter, an meinem Schmerz, den ich seit ihrem Ableben verspürte. Und Dad ging es nicht anders. Er hatte die große Liebe seines Lebens verloren und später seinen Sohn, meinen Bruder. Aus diesem Grund hatte ich nur wenige Freiheiten. Ich war sein Ein und Alles, das einzige Familienmitglied, das er noch hatte. Aber ich hielt es hier nicht mehr aus.
Er schien immer noch ganz in Gedanken versunken, als ich einen Fuß zurück setzte.
»Ich geh dann mal«, murmelte ich in der Hoffnung, der Streit sei vergessen.
»Salina! Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, dann werde ich ...«, schimpfte mein Vater.
»Keine Sorge«, unterbrach ich ihn erschöpft. »Ich gehe nur in meine Gefängniszelle«, schob ich hinterher, weil sein Kopf sofort in meine Richtung geschnellt war.
Dad sah mich lange an. Schließlich sackten seine Schultern nach unten, als hätte er einen harten Kampf verloren. Er seufzte schwer, dann trat er auf mich zu und legte mir seine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass die Situation nicht einfach für dich ist. Das ist sie für keinen von uns. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Bisher hat dich niemand entdeckt, aber das kann sich schnell ändern. Du musst nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein und sie könnten dich schnappen. Wenn sie dich in die Finger kriegen ...« Er brach ab und schüttelte den Kopf, als wollte er sich das gar nicht vorstellen. »Das würde ich mir nie verzeihen.«
Der Schmerz in seiner Miene tat mir im Herzen weh. Er litt. Zwar versuchte er seine Trauer vor mir zu verstecken, doch in Momenten wie diesen gelang ihm das nicht.
»Du kannst mich nicht ewig beschützen, Dad«, gab ich leise zurück und dachte an Mum. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich musste schlucken.
»Ich weiß. Aber solange ich lebe, versuche ich es«, versprach er mir und nahm mich in die Arme. Ich schmiegte mich an ihn und atmete seinen vertrauten Duft nach Leder ein, während das Loch in meinem Herzen immer größer wurde. Wie sehr wünschte ich mir, Carter und Mum wären hier. Bei uns. Mit ihnen war dieses Leben erträglicher gewesen.
***
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen lief ich die Gänge des Untergrunds entlang. Immer wieder musste ich mich mit dem Rücken an die Wand stellen, um entgegenkommende Schattenwesen vorbeilaufen zu lassen. Die Lichter flackerten schwach. Teilweise wurden die Gänge durch Fackeln ausgeleuchtet, die in notdürftig in die Wände gehauenen Halterungen steckten. Sie warfen Schatten an die Wände, die mich zu verfolgen schienen. Manchmal bildete ich mir sogar ein, dass sie nach mir greifen wollten. Für Menschen war unser Unterschlupf so gut wie unerreichbar, weil das Bergwerk als einsturzgefährdet galt und der Zutritt offiziell verboten war. Einige der Gänge waren bereits eingestürzt, andere mussten notdürftig gestützt werden.
Auch wenn dies mein Zuhause und mein Leben war, hasste ich es. Ich verabscheute die finsteren, kalten Gänge, die einem schlechten Horrorfilm entsprungen sein könnten. Ich verabscheute die dunklen Zimmer. Denn ich kam mir vor wie Ungeziefer, das wir in den Augen der Lichtwesen auch waren.
In meinem Zimmer setzte ich mich mit brennenden Augen auf mein Bett und wischte schluchzend die Tränen weg, die sich rücksichtslos einen Weg über meine Wangen bahnten. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die kalte Felswand hinter mir. Wie so viele unserer Betten war auch meines aus dem Stein der Wände gehauen worden. Als Kissen musste ein gefaltetes Handtuch herhalten, weswegen ich oft Nackenschmerzen hatte. Damit ich nicht fror, besaß ich eine große, wenn auch alte, Decke, die bereits müffelte und stellenweise gerissen war. Doch solange sie mich warm hielt, konnte ich damit leben. Ich wickelte mich in sie ein, als wäre sie mein Schutzumhang. Manchmal stellte ich mir vor, ich wäre Harry Potter und meine Decke sein Tarnumhang. Damit hätte mich der Lichtjunge nicht entdeckt. Wie sehr wünschte ich mir einen Brief aus Hogwarts zu bekommen, um diesem Elend zu entfliehen. Auch wenn es unrealistisch war, stellte ich mir vor in dieser Fantasiewelt zu leben. Wenn ich mich in die Welt der Bücher flüchten konnte, vergaß ich für kurze Zeit alles um mich herum. Meine Probleme, meine Sorgen, meine Ängste. Es half mir, mich zu beruhigen.
Sowie die letzten Schluchzer verebbt waren, kramte ich das Parfüm aus der Tasche. Ich litt nicht an Kleptomanie, doch manchmal überwog der Drang, etwas mitgehen zu lassen. Wir hatten kein Geld für solche Luxusgüter. Wir hatten ja kaum Geld für alltägliche Dinge. Smartphones, Fernseher, PCs, Bücher oder was auch immer andere Jugendliche in unserem Alter hatten, besaßen wir nicht.
»Bleibst du jetzt hier oder muss ich dich anketten?«, riss mich eine mir wohlbekannte Stimme aus den Gedanken.
Vor lauter Schreck zuckte ich zusammen und hätte beinahe den rechteckigen Flakon fallen lassen. Ohne Isaac anzusehen, den ich nicht kommen gehört hatte, sprühte ich das Parfüm auf den Kragen meines Kapuzenpullovers. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sich der Eindringling lässig an meinen Zimmereingang lehnte und die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkte. Die meisten Zimmer hatten keine Tür. So wie meins. Nur mein Dad besaß eine Stahltür für sein Büro, das früher einmal das des Bergwerkleiters gewesen war.
»Als würde mich das abhalten«, antwortete ich gleichgültig auf seine Stichelei. »Außerdem leben wir nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert, Isaac.« Mein Beschützer und bester Freund neigte neckisch den Kopf, sodass ihm vereinzelte Strähnen seiner kurzen, schwarzen Haare in die Stirn fielen. »Wenn ich mich recht entsinne, beherrschst du keine Pyrokinese, ergo könntest du die Ketten nicht schmelzen«, meinte er mit erhobener Braue. Logischerweise nicht. Nur Lichtwesen besaßen diese Gabe. Wie der Junge heute.
»Du weißt, dass dein Vater es nicht gern sieht, wenn du dich unter Menschen aufhältst, Salina«, erinnerte mich Isaac. Im Gegensatz zu mir hielt er sich strikt an Dads Regeln.
»Soll ich mich etwa für immer unter der Erde verkriechen?«, erwiderte ich. Ich wollte raus, weil mich diese Wände einengten und erdrückten.
»Du ziehst es also vor, von Lichtwesen gejagt und gefoltert zu werden? Schlimm genug, dass sie die Regierung bilden und – «
»Ich weiß«, stöhnte ich und zog das letzte Wort theatralisch in die Länge. Wieder ereilte mich der Gedanke, dass ich heute beinahe in die Fänge der gefürchteten Regierung geraten wäre. Mich schauderte bei der Vorstellung, von ihnen in einem dunklen Raum gefoltert zu werden.
Isaac runzelte die Stirn, beugte sich nach vorn, roch an mir und rümpfte die Nase, ehe er sich wieder zurückneigte. »Wo hast du dich denn wieder herumgetrieben? Du riechst wie eine alte Menschenfrau, Sally.«
Ich verdrehte die Augen, weil ich wusste, er zog mich nur auf. Isaac war mehr Bruder für mich, als mein richtiger Bruder es nach Mums Tod gewesen war. Auch wenn ich ihn öfter, als mir lieb war, vermisste. Da war die beständige Ungewissheit in meinem Hinterkopf, nicht zu wissen, was mit Carter geschehen war. Hatte ihn die Regierung geschnappt? Wurde er gerade gefoltert? War er bereits tot? Oder noch schlimmer: Hatten ihn womöglich die Seelenlosen?
Wurde einem Schattenwesen die Seele geraubt, verwandelte es sich in einen Seelenlosen. Aus einem bislang unerklärlichen Grund geschah das nicht mit Lichtwesen, was für sie und damit die Regierung Grund genug war, uns zu jagen.
»Vielleicht vertreibe ich damit ja Lichtwesen«, feixte ich.
»Nicht nur die«, entgegnete Isaac trocken.
Daraufhin verpasste ich ihm einen Schlag gegen die Schulter, den er gekonnt abfing. Er umschloss meine Hand mit seiner und zog mich in eine warme Umarmung. Ich legte meine Hände an seine Brust und vergrub den Kopf an seinem Hals. Atmete seinen wohligen Duft nach Minze ein. Bei ihm fühlte ich mich sicher und geborgen.
Es fühlte sich so gut an, gehalten zu werden. Jemanden zu haben, der für mich da war, wenn es mir schlecht ging. Wir beide hatten Ähnliches durchgemacht, weshalb wir uns so gut verstanden. Wir teilten den gleichen Schmerz.
»Hau bitte das nächste Mal nicht einfach ab, sondern sag mir Bescheid, damit ich mir keine Sorgen um dich machen muss.« Eindringlich sah er mich an. »Versprichst du mir das?«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Würde ich das wirklich tun, dann könnte ich meinen Hintern darauf verwetten, dass er – wenn er es meinem Dad nicht petzte – mitkommen und wie ein Kindermädchen auf mich aufpassen würde.
Ich schwieg, während ich nach einer Antwort suchte.
»Sally?«, sprach Isaac mich alarmiert an.
»Was war noch mal die Frage?«, sagte ich ausweichend.
Ich wollte mich von ihm lösen, als er plötzlich nach meinem Handgelenk griff. Schnell trat er um mich herum und drehte meinen Arm auf den Rücken.
Als Isaac vor ungefähr einem Jahr damit begonnen hatte, mich regelmäßig überraschend anzugreifen, war ich jedes Mal so überfordert und perplex gewesen, dass ich mich gar nicht mehr rühren konnte. Diese Hemmschwelle war nun verschwunden. Jetzt machte es sogar Spaß, solange Isaac mein Gegner war. Ich traf ihn mit der Ferse am Schienbein. Allerdings mit so wenig Kraft, dass ich ihn nicht verletzte.
»Streng dich an, Sally«, versuchte er mich zu motivieren. Das Grinsen war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.
»Kann ich gern tun, aber dann endet es für dich sehr schmerzhaft«, meinte ich, während sich auch auf meinen Lippen ebenfalls ein Grinsen ausbreitete.
Ich wollte mich gerade von ihm losreißen, als ich plötzlich etwas unter mir Knistern hörte. Kälte drang in meine Füße. Als ich nach unten sah, kletterte eine dünne Eisschicht über meine Schuhe.
Isaacs Fähigkeit war Kryokinese, was bedeutete, dass er Wesen und Objekte gefrieren lassen konnte. Diese Gabe hatte mich schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen begeistert. Ich war fasziniert davon, was er damit alles anstellen konnte.
Da ich so viel Schwung genommen hatte, aber sein Eis meine Füße am Boden hielt, ruderte ich verzweifelt mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann fiel ich nach vorn und konnte mich mit den Händen gerade noch abfangen. Die fror Isaac sogleich ebenfalls am Boden fest, sodass ich weder meine Hände noch meine Füße bewegen konnte.
Er ging neben mir in die Knie. »Du machst jedes Mal den gleichen Fehler«, meinte er halb schmunzelnd, halb ernst.
»Du hast gemogelt!«, gab ich beleidigt zurück und funkelte ihn an. »Ich dachte, wir benutzen ohne Absprache keine Kräfte.«
Isaac sah mich eindringlich an. »Im echten Kampf warnt dich dein Gegner auch nicht vor. Man muss unfair kämpfen, um zu überleben.«
»Sei nicht so melodramatisch. Ich habs kapiert, Isaac. Lektion gelernt. Würdest du mich jetzt bitte wieder enteisen? Ich frier mir sonst meine Hände und Füße ab«, bat ich ihn mit klappernden Zähnen. Sofort löste sich die Eisschicht auf.
Isaac erhob sich und hielt mir seine Hand hin. Ich griff danach und lächelte siegesgewiss, als wir uns in die Augen sahen. Er keuchte und wollte sich von mir lösen, da hatte ich ihn schon mit einem Ruck zu mir nach unten gezogen, sodass er auf allen vieren neben mir landete. Ich sprang auf und fixierte die Luft um ihn herum. Dann entzog ich ihr Wasserpartikel und ließ einen kleinen Sprühregen auf Isaacs Hinterkopf nieder. Der drehte sich verblüfft zu mir um.
»Das könnte jetzt Wasser aus deinem Körper sein«, erinnerte ich ihn. »Im echten Kampf warnt dich dein Gegner auch nicht vor. Man muss unfair kämpfen, um zu überleben.«, äffte ich ihn nach.
Isaac schnaubte belustigt und stand auf. »Du hast deine Lektion tatsächlich gelernt, Salina.«
Mein Vater und er nahmen das Verteidigungstraining furchtbar ernst. Ich musste schon von klein auf mehrmals pro Woche trainieren, um meine Fähigkeit, aber auch meine Kraft und Ausdauer zu verbessern. Früher hatte ich es als unnötig angesehen, doch das harte Training hatte sich im Kampf gegen den Lichtjungen ausgezahlt.
»Aber jetzt mal im Ernst, Sally: Wo hast du dich wieder herumgetrieben? Dein Dad und ich machen uns jedes Mal Sorgen um dich«, schob er kopfschüttelnd hinterher und griff nach meinen Händen. »Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustieße. Und deinem Dad geht es genauso.« Ich schwieg. Schuldgefühle machten sich in mir breit.
»Ich war in London. Ich hatte Lust, einkaufen zu gehen«, gab ich betont locker zurück, wenngleich mir bei dem Gedanken, was danach geschehen war, übel wurde. Die Begegnung mit dem Lichtjungen hätte böse für mich enden können, wäre er nicht allein und so überheblich gewesen.
Ich überlegte, ob ich Isaac davon erzählen sollte. Auf der einen Seite wollte ich seinem Beschützerinstinkt nicht noch mehr Futter geben. Andererseits musste ich es jemandem erzählen und mein Vater war diesbezüglich keine Option, da seine Sorge stets doppelt so schlimm war wie Isaacs.
Ich knetete meine ineinander gefalteten Hände, die vor meinem Körper hingen, und sah zu Isaac hoch.
»Auf dem Nachhauseweg ging ich in eine Seitengasse, um unbemerkt mit den Schatten zu wandeln, als mich wie aus dem Nichts ein Lichtjunge angriff«, gestand ich ihm leise.
»Dich hat ein Lichtwesen angegriffen?«, donnerte mir die Stimme meines Dads entgegen. Isaac und ich fuhren erschrocken herum. Mein Vater stand im Eingang und starrte mich ungläubig an.
»Ich ... Ehm ...«, stotterte ich überrumpelt. So viel dazu, dass er von meinem Zusammentreffen mit dem Lichtwesen nichts erfahren durfte. Das hatte ja gut geklappt.
Er kam hereingestürmt und baute sich vor mir auf. »Isaac, verschwinde sofort«, befahl er, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Mein Freund kam seiner Forderung wortlos nach. Anweisungen meines Vaters befolgte er, ohne zu murren. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er an einem sicheren Ort lebte. Aber ich ahnte, dass er im Laufe des nächsten Tages wieder bei mir vorbeischauen würde, um mich über den Lichtjungen auszufragen.
Unter dem wütenden Blick meines Dads wurde ich immer kleiner. Vor dem Lichtjungen hatte ich selbstbewusst gewirkt, aber wenn mein Vater so zornig war, fiel mir nichts mehr ein.
»Ich rede mit dir!«, erinnerte Dad mich unnötigerweise. »Was ist passiert? Warum hast du mir das verheimlicht?« Seine Stimme troff nur so vor Zorn und ich sah die Ader an seiner Schläfe pulsieren. Um einer Strafe zu entgehen, beschloss ich es abzustreiten.
»Das habe ich mir ausgedacht, weil Isaac etwas Spannendes hören wollte«, erklärte ich.
»Unsinn«, meinte Dad kopfschüttelnd und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Lüg mich nicht an, Salina.«
Ich stieß hilflos die Luft aus. »Wenn du mich nicht einsperren würdest, müsste ich mich nicht im Dunklen rausschleichen.« Nicht gerade die beste Argumentation, aber besser als nichts.
»Du könntest tot sein! Denk an deine Mutter.«
Reflexartig fuhren meine Finger zu meinem Hals und berührten die kühle Kette, die dort hing. Der Anhänger bestand aus einem fingerlangen scharfen Dolch, der am Ende gebogen war – meine Verteidigung gegen Seelenlose und die einzige fassbare Erinnerung an meine Mutter, die ich noch hatte. Sie hatte mir die Kette geschenkt, damit ich mich verteidigen konnte. Das war kurz vor ihrem Tod gewesen und nun fast zwei Jahre her. Doch ich wollte nicht länger darüber nachdenken, weil ich wusste, dass ich sie dann nur noch mehr vermissen würde.
»Hast du ihn erledigt?«, wechselte Dad abrupt das Thema.
Ich schwieg. Verbissen kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Ich traute mich nicht meinen Dad anzuschauen. Es erforderte keine weitere Erklärung. Er wusste auch so die Antwort auf seine Frage.
»Salina, bist du von allen guten Geistern verlassen? Ist dir klar, was das bedeutet? Was, wenn er dich verfolgt hat oder Jagd auf dich macht?«, warf mir mein Vater vor.
Dieser Gedanke ließ mich erschaudern. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Erst jetzt wurde mir bewusst, was mein Handeln für Auswirkungen haben könnte. Nicht nur für mich, sondern für uns alle.
»Er kann mir unmöglich gefolgt sein«, versuchte ich meinen Dad – aber auch mich – zu beruhigen. »Als ich geflohen bin, war er ... Er war verletzt. Er weiß nicht einmal, wohin ich geflohen bin. Er hat mich bestimmt schon wieder vergessen.«
Fassungslos starrte mein Vater mich an. »Ich dachte, du wärst klüger, Salina. Ich bin hergekommen, weil ich mich für meinen harten Ton vorhin bei dir entschuldigen wollte. Stattdessen zwingst du mich dazu, dich zu bestrafen. Ich verbiete dir hiermit auf unbestimmte Zeit einen Fuß aus unserem Unterschlupf zu setzen. Du hast Hausarrest und wirst auch niemanden empfangen. Weder Isaac noch sonst jemanden. Die Trainingsstunden sind fürs Erste ausgesetzt. Ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein und dich zur Besinnung bringen, damit du endlich verstehst, was alles auf dem Spiel steht.«
»Das kannst du nicht machen!«, fuhr ich ihn an. Mein Leben hier erdrückte mich ohnehin schon, aber das, was er da von mir verlangte, raubte mir jeglichen Atem. »Bitte, Dad«, flehte ich in der Hoffnung, ihn doch noch umzustimmen, seine Strafe abzumildern.
Doch mein Dad blieb knallhart. Mit eiserner Miene schüttelte er den Kopf. »Ich habe dir so viele Freiheiten eingeräumt, wie es mir möglich war. Ich habe sogar zugelassen, dass du hin und wieder an die Oberfläche durftest, obwohl ich jedes Mal tausend Tode starb aus Angst, dich zu verlieren. Aber du hast diese Freiheiten ausgenutzt und unser aller Leben gefährdet. Du hast mich enttäuscht, Salina«, sagte er tonlos, machte auf dem Absatz kehrt und ging.
Seine Schultern hingen herab. Er wirkte alt und gebrochen. Nicht mehr wie der Vater von früher, als Carter und Mum noch da gewesen waren. Er war nicht mehr der Vater, der mich in den Arm genommen und getröstet hatte, wenn ich wieder einmal wegen der miserablen Umstände, in denen wir lebten, geweint hatte.
Mums Tod und Carters Verschwinden hatten ihn verändert.
Ich schlang die Arme um den Oberkörper und ließ mich wieder auf mein Bett sinken.
Ich fühlte mich schrecklich. Dass er wütend auf mich war, konnte ich noch verkraften. Aber seine Enttäuschung zu sehen, brach mir das Herz.
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