1: Jedes Ende ist ein neuer Anfang
Sicht von Roana:
Ich schreie vor Schmerzen auf, als mein Koffer auf meine Zehen fällt. Heute ist einfach nicht mein Tag.
Zuerst vergisst meine Oma mich am Flughafen abzuholen, dann stelle ich fest, dass ich kein Geld dabei habe. Ich musste eine Frau um Geld bitten und ein Taxi nehmen. Gott sei Dank habe ich die Adresse meiner Grossmutter auswendig gelernt: Strasse Ende 72B. Keine Adresse, die man so schnell vergisst, am aller wenigsten, wenn es sich anfühlt, als ob es wirklich das Ende wäre. Wie tief bin ich doch gesunken! Von New York, der Stadt die niemals schläft, nach Merentahl. Ein kleines Dorf inmitten von Nirgendwo in Deutschland. Ein Wunder, das es hier in der Nähe überhaupt einen Flughafen gibt.
Während ich ein Jahr in diese Ödnis verbringen muss, machen meine ach so großartige Eltern eine Reise durch ganz Asien. Das sie mein Leben dadurch ganz durcheinander bringen, scheint ihnen nicht eingefallen zu sein.
Da der Taxifahrer keine Anzeichen macht, mir zu helfen hebe ich mein Koffer selbst aus den Kofferraum, nur um es auf meine Zehen fallen zu lassen. Ich hätte am liebsten angefangen zu heulen. Es reicht nicht, dass meine Grossmutter am Ende der Welt wohnt, nein sie lebt noch in einer dunklen, schmutzigen Wohnung, die genau das Gegenteil von einladend ist.
Was habe ich getan, um das zu verdienen? Wieso hasst mich das Schicksal so sehr? Missmutig nähere ich das Wohnhaus und suche die Klingel. Frau Rosin, das ist sie! Meine schusselige Grossmutter an der ich mich fast nicht erinnere. Das letzte Mal, dass meine Eltern und ich sie besucht haben war ich sechs. Das ist jetzt also zwölf Jahren her.
Überraschend schnell öffnet mir jemand die Tür.
«Meine Liebe Roana! Ach, wie gross du doch geworden bist!», meine Grossmutter ist eine kleine pummelige Frau mit einer riesigen rote Brille und ein Blümchenkleid. Ihre Augen haben was Gütiges an sich. Ihr Lächeln ist so strahlend, es lässt sie jünger wirken. Trotz des Alters erkennt man, das sie eine schöne Frau war. Sie ist ein Mensch, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ihre Ausstrahlung, Gang, Haltung, das alles lässt sie unmöglich nicht auffallen. Ja, obwohl es seit meinem letzten Besuch viele Jahren vergangen sind, habe ich Oma nicht vergessen. Sie hat sich damals in mein Gedächtnis für immer eingebrannt. Wie unterschiedlich wir doch sind! Sie mit ihre silberne glatte Haare, ich mit meine widerspenstige rote Locken. Sie hat eine olivenfarbene Haut, ich sehe aus wie ein Geist mit Sommersprossen auf der Nase. Sie hat meerblaue Augen, ich giftgrüne. Kein fremder Mensch würde uns für Verwandte halten.
Ruckartig zieht sie mich in einer Umarmung und kneift meine Wange.
«Hallo Oma. Schön dich zusehen», schnell mache ich ein paar Schritte zurück und bringe mich vor ihr in Sicherheit. Sie sieht so glücklich aus, dass ich es nicht über mir bringe zu motzen, wieso sie mich nicht abgeholt hat.
«Komm rein liebes! Ich habe Chips und Gummibärchen gekauft! Das ist doch was ihr Jugendliche heutzutage esst, nicht wahr?», sie packt mich am Arm und schleift mich in das dunkle Gebäude. Das ich mit sieben aufgehört habe Gummibärchen zu essen und dass mir von Chips übel wird verschweige ich ihr. Ein unangenehmer Geruch liegt an der Luft. ich traue mich nicht, an das Treppengeländer zu halten. keine Ahnung wie viele Bakterien sich da befinden.
«Grossmutter gibt es hier eine Disco?», frage ich. Sehnsüchtig denke ich an die vielen wilde Partys in meiner Heimat.
Oma kichert:,, Also bitte Liebes! Sei doch nicht lächerlich! Du bist in Merentahl! Sei froh, dass wir ein Kino haben!"
Meine Laune sinkt in den Keller. Super, wie soll ich bitte schön meine Zeit vertreiben? Zum Glück habe ich ein paar Bücher mitgenommen. Aber auch sie habe ich irgendwann fertig gelesen. Meine einzige Hoffnung ist, dass ich Freunde finde.
Omas Wohnung ist im fünften Stock und da es kein Lift gibt müssen wir all die Treppenstufen steigen. Während ich schon im zweiten Stock ausser Atem bin, sieht meine Oma aus, als ob sie noh ein Marathon laufen könnte. Sie erzählt mir pausenlos von ihrer Freundin die schlecht hört, aber sich weigert ein Hörgerät zu kaufen. «Arme, Arme Linda! Zum Glück höre ich gut! Meine Augen sind vielleicht nicht die besten, aber es gibt niemand der so ein gutes Ohr hat wie ich! Nichts entgeht mir!» ich höre nur mit halben Ohr zu, ich bin viel zu beschäftigt ein Ehepaar zu belauschen, die sich heftig streiten.
«Wieso bist du so ein Egoist!»
«Ich Egoist? Ich probiere doch nur unsere Ehe zu retten!»
«Indem du mir nach spionierst? Es ist mein gutes Recht mit meinen Freundinnen in der Nacht abzuhängen so viel ich will! Ich bin eine freie Frau!»
«Du gehst jede Nacht aus!»
«Na und? Das ist mein gutes Recht! Wir leben in 21 Jahrhundert! Ich muss nicht zuhause bleiben und für dich dein Süppchen kochen! Wenn ich ausgehen will, dann werde ich das auch!»
Mit unverhohlene Neugier beobachte ich das junge Ehepaar. Beide sind gut aussehende Menschen. Ich denke, dass der Ehemann mit seine breite Schultern und schlanke Gestalt ein Athlet ist. Er macht einen verzweifelten, wütenden Eindruck. Seine Ehefrau könnte glatt als Top Model durchgehen. Lange wellige Haare, schlanker, aber kurviger Körper. Mit ihren mini roten Kleid und riesige Absätze sieht sie bereit für einen Fotoshooting aus. Ihre Gesichtszüge müssen sicher wunderschön sein, wenn sie nicht wütend verzogen sind.
Ich würde gerne sehen wer den Streit gewinnt. Ich wette eine ganze Million, dass die Frau als Siegerin ausgehen wird. Leider werde ich aber nie erfahren, ob ich eine Million gewonnen habe, denn meine Grossmutter schleift mich weiter. «Ich bin so froh, dass du da bist! Seit dem Tod deines Grossvaters fühle ich mich manchmal so einsam! Zum Glück habe ich dich und Bernhard!»
Sie hat jetzt meine vollkommene Aufmerksamkeit. «Wer ist Bernhard?», frage ich. Mir gelingt es nicht, meine Neugier zu verstecken.
«Mein neuer Nachbar! Ein tüchtiger Mann, ich sag es dir! Obwohl er nicht mehr der Jüngste ist, hilft er mir immer mit meine Einkäufen und bringt mir immer die Post. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne ihn tun würde!»
Enttäuscht stelle ich fest, dass Oma keine romantischen Gefühle für ihren Nachbarn hegt. Es ist freundschaftliche Zuneigung aus ihrer Stimme zuhören, mehr nicht.
Endlich sind wir im fünften Stock angekommen. Während meine Grossmutter den richtigen Schlüssel für die Haustür sucht beobachte ich einen Mann in Feuerwehrkleider, der mit einer Flaschen Bier neben sich, vor seiner Haustür sitzt und seine schwarze Katze streichelt. «Du lässt mich nicht allein! Nein, nein. Du bleibst bei mir!», lallt der Mann und schaut seien Katze zärtlich an. Diese Szene ist so seltsam, ich kann einfach nicht den Blick abwenden. Ist das ein schlechter Traum? Bin ich in eine fake Alice in Wunderland Version geraten?
«Ach, hier ist der richtiger Schlüssel!», ruft Oma auf einmal. Endlich kann ich weg schauen. Schnell betrete ich das Haus. Komische Leute hier! Ich erschaudere. Hoffentlich sind nicht alle in Deutschland so.
Omas Haus ist nicht ganz das, was man sich unter einem Haus für eine ältere Dame vorstellt. Über das schwarze Ledersofa hängt ein eingerammtes Beatles- Plakat. Auf den Esstisch ist eine Packung Chips und eine Schüssel voller Gummibärchen. Die Wände sind weiss gestrichen und ich kann nirgendwo eine Blümchentapete oder Strickzeug erkennen. Stattdessen hat Oma einen riesigen Fernseher. Anscheinend bemerkt sie, dass ich das riesige Ding anstarre. «Ich sehe nicht so gut, weiss du liebes? Da brauch ich halt was grosses!»
Ich nicke benommen. Endlich in mein (Hoffentlich provisorisches) Zimmer trete, stelle ich mein Koffer auf den Boden ab und lasse mich auf mein Bett fallen. Die Bettdecke riecht leicht nach Staub. Das ganze Haus riecht nach Staub. Wahrscheinlich sieht Oma den Staub nicht.
In meinem Kopf mache ich mir eine Liste von Dingen, die ich erledigen muss:
Mein Stundenplan für die Schule holen.
Koffer auspacken.
Haus aufräumen.
Mom, Dad und Mia anrufen.
Brownies für die Nachbarschaft backen.
Bernhard kennen lernen. (Vielleicht hat er romantische Gefühle für meine Oma?)
Heraus finden ob es hier eine Bibliothek gibt.
Das Kinoprogramm unter der Lupe nehmen.
Müde schliesse ich meine Augen. Ich habe das Gefühl, das wird ein langes Jahr.
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