Der Brief
In dem beschaulichen, gutbürgerlich anmutenden Vorort von Wien hielt das Taxi.
Ein älterer Herr entstieg als Passagier dem Mercedes und forderte den Fahrer auf, doch bitte die halbe Stunde vor der Zufahrt zum Anwesen zu warten.
Der Fahrer lehnte sich zurück und schob sich die Schiebermütze tiefer ins Gesicht. Mit der Aussicht auf ein gutes Trinkgeld und einem Fahrgast, der schnell zurück zum Flughafen gebracht werden wollte, war es dem Taxifahrer wohl augenscheinlich recht, diese Wartezeit zu geben.
Der ältere Herr mit sehr gut geschnittenem Anzug und der kleinen, braunen Aktentasche prüfte noch einmal die Adresse, welche auf einen gesiegelten Umschlag in seiner Hand stand. Ungläubig blickte er das große schmiedeeiserne Tor der Zufahrt an.
An der rechten Säule des Tors wurde er fündig- eine Klingel. Mehrere Kameras überwachten die Zufahrt und die langen Zäune zur Straße hin.
Kurzentschlossen klingelte der Mann im Anzug.
Nach kurzer Zeit antwortete die Stimme einer Frau im Wiener Dialekt. „Schönen guten Tag der Herr. Sie wünschen?"
„Andreew ist mein Name. Ich bin Rechtsanwalt aus Burgas. Bulgarien. Ich habe einen Umschlag an einen Herrn Gäbler gegen Empfangsbekenntnis zu überreichen."
„Eine postalische Sendung?"
„Nein, gute Frau. Keine postalische Sache. Eher eine- nun ja, wie soll ich Ihnen dies begreiflich machen- eine Nachlass- Angelegenheit. Nur wegen dieser Nachlass- Sache bin ich hierher geflogen. Und ich wäre Ihnen verbunden, wenn ich schnell das Empfangsbekenntnis erhalten könnte, denn mich erwartet ein zeitnaher Rückflug-Termin."
„Einen Moment bitte. Ich öffne Ihnen. Bitte gehen sie die Auffahrt herauf zum Haus."
„Ja. aber... ?"
Eine weitere Antwort gab es für den Herrn Rechtsanwalt nicht. Ohne weitere Worte öffneten sich jedoch die hohen Metall- Tore der Zufahrt mit leisem Geräusch.
Auch der Taxifahrer blickte kurz auf, wohin sein Fahrgast nun ging. Es beruhigte ihn, das der Gast nun dort in das Anwesen eintrat. So hatte er die richtige Anschrift gefunden und sein Gast würde alsbald zurückkommen.
Die grob gepflasterte Zuwegung im Grundstück führte im weiten Bogen zu einer Villa. Vor der Villa schloss sich der Bogen als ein Kreis an einem kleinen Platz davor. Zwei Garagen waren in einem kleineren Bediensteten- Haus verbaut. Ein Mann putzte dort eine schwere, große Limousine Audi A8, die wohl dem Anschein nach auch gepanzert war.
Der Fahrer oder auch Hausmeister blickte interessiert und aufmerksam nach dem Gast.
Rechtsanwalt Andreew kannte derlei große Anwesen auch aus Bulgarien. Einige neureiche Mandanten oder Geschäftsleute hatten solche Grundstücke in besten Wohnlagen. Aber auch zwei Mandanten, von deren 'Geschäften' man lieber nichts wissen sollte als Anwalt.
Im langsamen Schritt ging Herr Andreew direkt zum Eingangsportal des Hauses- stets beobachtet von dem Fahrzeugpfleger und einigen Kameras.
Eine junge Frau- wohl eine Hausangestellte- erwartete den Rechtsanwalt dort und bat ihn mit freundlichem Lächeln ins Haus.
Ein leises Piepsen beim Betreten verriet Herrn Andreew, dass soeben ein nicht erkennbarer Metall- Detektor angeschlagen hatte. Die Hausangestellte überprüfte seitlich einen kleinen Bildschirm, bevor sie mit einem Zifferncode das Piepsen abstellte.
„Bitte Entschuldigen Sie diese Unannehmlichkeit, der Herr. Herr Gäbler erwartet sie im Salon. Bitte folgen sie mir."
Rechtsanwalt Andreew ging hinter der jungen Frau her. Eine angenehme Parfüm- Note ging von der Angestellten aus, deren schlanke und weibliche Rundungen unter dem schwarzen Kleid bebten.
Herr Gäbler saß in einem Sessel des großen sonnendurchfluteten Wintergarten, der wohl als 'Salon' geschmackvoll an die Villa angebaut war.Herr Gäbler erhob sich, als der Gast herein geführt wurde.
Andreew wollte keine Zeit verschenken. „Herr Gäbler? Wolfgang Gäbler? Mein Name ist Andreew. Ich bin Rechtsanwalt aus Burgas, zugelassen in Bulgarien. Wir haben auch diverse Niederlassungen der Kanzlei in anderen Ländern- und ich hätte auch einen Kollegen aus Budapest schicken können. Doch die Sachlage scheint- nun ja- wohl auch persönlicher Art zu sein. Daher habe ich mich selbst heute bemüht und bitte um Verzeihung, dass ich unangekündigt bin."
„Ja? Ich bin Wolfgang Gäbler. Meine Hausdame sagte mir, sie wollen mich in einer Nachlass- Angelegenheit sprechen? Verzeihen Sie meine Neugierde- welche Nachlasssache sprechen sie an? Weshalb suchen sie mich hierzu auf? Nehmen sie doch bitte Platz. Wünschen sie etwas ? Kaffee, Tee?"
Rechtsanwalt Andreew holte den dreifach von seiner Kanzlei gesiegelten großen Umschlag hervor, der die Anschrift und den Namen Gäbler's auswies.„Nein. Danke vielmals für die Offerte. Ich benötige nichts. Nur jedoch eine Unterschrift unter dieses Schriftstück. Als Empfangsbekenntnis- nicht mehr.", sprach Andreew in förmlicher Rechtsanwalt- Pose. Fordernd und sich dabei leicht höflich verbeugend hielt Andreew ein Schriftsatz vor sich und hatte auch schon einen Kugelschreiber vorzuzeigen.
Obwohl Herr Gäbler misstrauisch war gegen den Anwalt und sein Anliegen, so war es wohl die menschliche Neugier, welche ihn das Schriftstück unterschreiben ließ.
Erst jetzt, da es bislang noch nicht offenbart wurde im Gespräch, laß Gäbler das Schriftstück, welches in drei Sprachen vorgelegt wurde deutsch, englisch und bulgarisch.
„Entschuldigung, Herr Andreew? Hier steht: in der testamentarischen Nachlass- Sache des Herrn Juri Welnikov. Ist das richtig? Welnikov, Juri? Sind sie sich da ganz sicher?", hinterfragte Herr Gäbler. Hierbei wurde sein Gesicht fast kreidebleich- als hätte sich vor ihm das Gespenst der Vergangenheit in feinem Schleier erhoben.
„Ja, Herr Gäbler. Juri Welnikov. Nachlass- Angelegenheit Welnikov. In dieser Sache bin ich hier und habe Ihnen diesen Umschlag persönlich auszuhändigen.", antwortete Rechtsanwalt Andreew pflichtbewusst.
Gäbler unterschrieb die drei Exemplare.
„Wünschen Sie, dass ich Ihnen schriftlich einen Kopiensatz zukommen lasse? Kostenfrei versteht sich. Ich würde dies in der Kanzlei für Sie veranlassen?" Andreew hatte es eilig. Je schneller er diesen Umschlag übergab und sich hier entpflichten konnte, desto besser. Das Taxi wartete und der Rückflugtermin war avisiert. Da wäre eine Verzögerung durch Zaudern des Adressaten der Sendung unangenehm.
„Ja. Gerne. Tun sie dies.", sprach Herr Gäbler fast beiläufig und fern des Momentes wirkend.
„Sehr schön." Mit diesen Worten nahm Rechtsanwalt Andreew die unterzeichneten Sachen an sich und legte den gesiegelten Umschlag auf dem kleinen Tisch beim Sessel ab. „Mit Verlaub. Ich möchte mich damit schon verabschieden. Habe die Ehre, gnädiger Herr Gäbler. Auf Wiedersehen."
Gäbler stand immer noch steif und wie vom Blitz gerührt vor seinem Sessel- den Blick mehr in ein Nichts, als in den Garten gerichtet.„Ja. Auf Wiedersehen, Herr Andreew. Meine Angestellte wird sie hinaus begleiten."
Aufmerksam und freundlich lächelnd machte die Hausdame eine Geste, die zum Ausgang zeigte und aufforderte erneut in ihrem Parfümduft dorthin zu folgen.
Der Rechtsanwalt ging damit schon hinaus.
Wolfgang Gäbler sank in seinen Sessel zurück.
Sein Blick legte sich auf den Umschlag, welcher ihm soeben überlassen wurde.
Aus dem Nachlass von Juri Welnikov. Wer hätte das gedacht.
Wolfgang Gäbler hätte dies jedenfalls niemals erwartet- alles andere, doch so etwas...?
Gäblers Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. In seine und auch die Vergangenheit des Absenders.
Feinde- so konnte man ihr Verhältnis beschreiben. Feinde. Widersacher. Gegenspieler in Zeiten des kalten Krieges. Er selbst für die Guten im Westen- Welikov für den Osten.
Juri Welnikov war seinerzeit Generalleutnant. Chef der Spionageabwehr der Volksrepublik Bulgarien- und wohl der zweitmächtigste Mann in diesem südosteuropäischen Land. Er war geheimnisumwittert, wie kaum ein anderer Mann auf der Balkan- Halbinsel. Foto's von ihm gab es nur von Auftritten auf Tribünen oder Sitzungen des bulgarischen Staatsrates- naja, und hier und dort noch Aufnahmen, welche von eigenen österreichischen Agenten von dem Mann gelungen waren. Urlaubsfotos vom Schwarzem Meer und einem Aufenthalt auf der Halbinsel Krim in der Sowjetunion. Mehr wusste man damals nicht von ihm- und kaum privates.
Doch war man damals nicht nur Gegenspieler. Bei zwei Angelegenheiten musste man auch zusammen arbeiten.
Die Sache in Istanbul- und ja, auch bei dem Wirrwarr in Budapest, kurz vor dem Fall des 'Eisernen Vorhanges'.
Nach der Öffnung des Ostens und mehreren Gerichtsverhandlungen gegen die alten Genossen Bulgariens verlor sich Welnikov's Spur vollkommen für die Österreicher. Man hatte Welnikov abgeschrieben als bedeutungslosen und damit auch wertlos gewordenen Mann.
Nun war der Widersacher alter Tage also gestorben.
Nach einer Öffnung klagend, lag der große gesiegelte Briefumschlag vor Gäbler.
„Wir sind zurück.", rief nach geraumer Zeit die Stimme einer älteren Frau durch das Haus. Eine Kinderstimme mischte sich dazu.
Wie aus seinen Gedanken gerissen, schreckte Wolfgang Gäbler aus seinem Sessel hoch und schaute auf die Uhr. Was? Schon Siebzehn Uhr? Hatte er jetzt tatsächlich fast drei Stunden hier gegrübelt? In Gedanken an alte Geschichten?
„Opa! Hallo." Ein kleiner Junge hüpfte freudestrahlend durch den Wintergarten. Der Knabe drückte Gäbler kurz und fest an sich- dann entsprang er schon hinaus in den Garten hinter der Villa, um zu einer Schaukel an einem Baum zu rennen.
„War sehr schön, Wolfgang." Die graugelockte Maria Gäbler betrat lächelnd den Salon und stellte eine kleine Papiertasche ab. „Der Felix ist aber auch ein ganz lieber. Du hättest ruhig mitkommen können. Es hätte dir..."
Maria Gäbler hielt inne, als sie ihrem Mann so sah. „Was ist mit Dir? Geht es Dir nicht gut?"
„Doch, Doch. Alles gut. Ich freue mich, wenn ihr Spaß hattet."
„Aber?"
Wolfgang Gäbler zeigte auf den gesiegelten Nachlassbrief. „Ich hatte Besuch. Ein Rechtsanwalt aus Bulgarien."
„Bulgarien? Aber wieso?"
„Alte Geschichten. Von früher! Die Arbeit. Du verstehst?"
Maria Gäbler schüttelte den Kopf. Was ihr Wolfgang vor dem Ruhestand machte, dies war ihr bekannt, doch auch seit dem Ruhestand und Abschied waren schon viele Jahre ins Land gegangen. Schon sehr lange hatte 'seine frühere Arbeit' sich nicht mehr im Leben des Paares eingemischt. Man hatte Abstand gefunden. Sie waren jetzt nur noch ein älteres Paar für die Leute hier.„Und? Was ist das für ein Anschreiben?"
„Kein Anschreiben! Ein Nachlass. Aus einem Testament. Um genau zu sein- aus dem Testament eines meiner 'alten Gegenüber'!"
Maria Gäbler war ebenfalls mit einem Male verunsichert. Ihr Blick flog hinaus in den Garten zu ihrem Enkel und schien zu fragen: 'Müssen wir uns Sorgen machen?'
„Und worum geht es?", hakte sie besorgt nach.
Wolfgang Gäbler schüttelte nur den Kopf. „Er ist noch zu. Ich getraue mich gar nicht, ihn zu öffnen."
„Warum? Hast du Sorge, dein alter Widersacher will dir noch einen 'Abschiedsgruß der besonderen Art' machen? Denkst du etwas in dieser Richtung? Die Leute im Amt könnten sofort den Brief durchleuchten, wenn du es forderst- Du weißt, dass sie dies tun würden."Maria Gäbler hatte Recht- das Amt hatte derlei zugesichert- auch um die Sicherheit ihres alten Chefs zu gewährleisten.
„Nein. Ich denke nicht, dass dieser Welnikov 'so einer' ist. Doch irgendwie- keine Ahnung warum- getraue ich mich nicht, ihn zu öffnen.", sprach Wolfgang Gäbler offen.
„Dann wirf ihn weg! Und lass die 'Alten Sachen' damit ruhen. Egal was drin steht!", forderte seine Frau.
Vielleicht war dies klug. Doch dann würde Wolfgang Gäbler niemals erfahren, was für Juri Welnikov so wichtig erschien, dass dies erst im Nachlass an seinen ärgsten Widersacher aus alter Zeit mitteilen musste. Doch eine Bombe? Nein- dies wäre nicht Welnikov's letzte Nachricht an ihn.
Und überhaupt- selbst der Rechtsanwalt und sein Handgepäck wären doch auf dem Flughafen überprüft und durchleuchtet worden. Gefährliche Sachen hätten die Gendarmen von Zoll und Sicherheitspersonal doch sofort ausgesondert.
Und der Rechtsanwalt?
Hatte er geflunkert? War auch er vielleicht nur ein Zahnrad im Getriebe der Spionagewelt?
Sicher – Wolfgang Gäbler kannte Geheimnisse. Und nicht wenige wären auch heute noch ein brisanter Zündstoff. Doch Verschwiegenheit war immer sein Geschäft. Auch das von Generalleutnant Welnikov.
Maria Gäbler stand immer noch mit forderndem Blick vor ihrem Mann. „Also gut! Ich seh schon, wohin das führt. Ich lasse dich kurz allein und gehe zu Felix in den Garten. Du öffnest den Umschlag- hast deine Gewissheiten! Dann vernichtest Du die Sachen darin! Machen wir das so?"
Fast abwesend nickte Gäbler.
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