Das Weihnachtsgeschenk
Inge schaltete den Fernseher aus. Es lief einfach nichts, was sie interessiert hätte. Zumindest hatte sie nicht die Ruhe, um sich gemütlich eines der Weihnachtsmärchen anzusehen, die in den letzten Tagen sehr zahlreich ausgestrahlt wurden. Kein Wunder. Denn morgen war bereits Heiligabend.
Etwas wehmütig schaute Inge auf das Telefon. Noch immer hatte niemand angerufen. Zur Sicherheit stand sie langsam auf, um noch einmal nachzusehen. Das achte Mal an diesem Tag, wobei die Uhr erst drei geschlagen hatte. Die müden Knochen wollten nicht so recht. »Wo ist denn nur der dusselige Stock?«, fragte sie leise und sah sich um. Nur eine Handbreite neben ihrem Sessel hatte sie den Stock mit dem Hundekopf, der einst Jürgen, ihrem verstorbenen Mann gehörte, an der Kante des Beistelltisches aufgehängt. Als sie ihn fand, schüttelte sie nur den Kopf.
»Die Augen werden alt.«
Mit langsamen und sehr kleinen Schritten ging sie zum Telefon. Sie rückte ihre Brille zurecht und schaute auf das Display. »Vielleicht bin ich ja doch eingeschlafen«, dachte sie hoffnungsvoll, denn dann hätte ja vielleicht doch jemand angerufen und sie hatte das Telefon nur nicht gehört. Sie wünschte sich so sehr, dass eines ihrer Kinder sie anrufen würde. Die Stimmen zu hören, die sie nun schon über einen Monat nicht mehr gehört hatte. Ihr Sohn lebte in Amerika und kam sie schon lange nicht mehr besuchen. Ihre Tochter hatte sich mit ihr zerstritten, weil Inge sich vehement dagegen wehrte in ein Heim zu gehen. Warum denn? Sie kam noch sehr gut allein zurecht, worauf sie auch sehr stolz war.
Keine neuen Nachrichten!
Inge seufzte mit schwerem Herzen. Es juckte sie in den Fingern eines ihrer Kinder anzurufen. Doch sie riss sich zusammen. Auf keinen Fall wollte sie sich aufdrängen oder stören.
Als sie zu Bett ging, betete sie, dass ihre Kinder ein schönes Fest feiern würden und gesund blieben.
Am nächsten Morgen warf sie erneut einen Blick auf das Telefon.
Keine neuen Nachrichten!
Inge nahm ihre Tasche und ging einkaufen, um sich ein leckeres Weihnachtsessen zu kochen. Auf den Straßen war viel los, denn der Weihnachtsmarkt war gut besucht und mit Lichterketten hell erleuchtet.
Sie ging in den Laden um die Ecke. Da fiel ihr im Regal eine Spieluhr ins Auge. Eine runde Dose mit einer Tänzerin darin. Sie tanzte zum Lied »The First Noel«, was Inge sehr entzückte. Auf ihrem faltigen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, als die schöne Melodie erklang und die Tänzerin zu tanzen begann. Sie gluckste vor Vergnügen, als sie sich erinnerte, dass sie früher eine ähnliche Spieluhr hatte. Zwar mit einer anderen Melodie, aber auch eine Tänzerin, wie diese. Vielleicht war es auch die Erinnerung an das Gefühl der Geborgenheit, die ihr die Spieluhr gab. Oder die schönen Erinnerungen, die sie mit ihr hatte. Egal. Diese Spieluhr sollte ihr Weihnachtsgeschenk an sie selbst werden. Sie wollte auch ohne ihre Kinder einen schönen Heiligabend verbringen.
Zuhause bereitete sie sich ein kleines Essen zu. Schweinemedaillons in Kräuterkruste mit Kartoffelgraten. Da sie es gewohnt war mittags warm zu essen, wollte sie auch an Heiligabend keine Ausnahme machen. Sie zündete alle Kerzen am Adventskranz an, legte eine Weihnachtsserviette neben ihren Teller und schaute aus dem Fenster. Draußen fielen, wenn auch ganz sachte, ein paar Schneeflocken. »Wie schön!«, dachte Inge zufrieden. Doch als sie den ersten Bissen ihres Weihnachtsessens zu sich nahm, musste sie feststellen, dass sie viel zu viel Salz genommen hatte. Wie konnte denn das passieren? Es tat ihr in der Seele weh, das Fleisch wegzuwerfen, aber es war ungenießbar. Heute musste wohl eine Clementine ausreichen.
Nach dem enttäuschenden Essen verpackte sie das Geschenk. Ihre zittrigen, weißen Finger gaben ihr Bestes. Doch dann, als sie gerade die Spieluhr auf das zugeschnittene Papier legen wollte, gab die Kraft in ihren Händen nach und die Musikdose fiel auf den Tisch, rollte von der Kante und stürzte zu Boden. Dabei zerbrach die Tänzerin.
Inges Unterlippe begann zu beben und in ihren kleinen Augen bildeten sich Träne. Verzweifelt drückte sie ihre Hände aufs Gesicht und gab sich ihren Gefühlen hin.
Benommen blickte sie aus dem Fenster. Der Schnee war ihr ein kleiner Trost an diesem schlimmen Tag, wo einfach nichts gelingen wollte. Sie überlegte, ob sie jemals ein schlimmeres Weihnachten erlebt hatte. Doch ihr fiel keines ein, das so einsam und traurig war, wie dieses.
Langsam wurde es draußen dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Straßen. Es war wunderschön. Am liebsten wäre sie raus gegangen und hätte mit weit aufgerissenen Armen und dem Gesicht gen Himmel gestreckt die Schneeflocken empfangen. Doch leider sah die Realität nun anders aus. Wann war das nur passiert? Wann ist sie so alt geworden? Wo es ihr doch wie gestern vorkam, als sie mit ihrem Mann und ihren Kindern im Schnee herumgetollt hatte.
Irgendwann im Laufe des Abends fühlte sie sich in ihrer Wohnung sehr unwohl und einsam. Alles wirkte so düster. Kein Schimmer von einem weihnachtlichen Gefühl der Geborgenheit und Wärme. Die Erinnerungen an schöne Weihnachtsfeste plagten sie so sehr, dass sie ihre Tür öffnete und sich auf ihren Rollator setzte, der neben der Haustür im Treppenhaus des vier Parteienhauses stand. Ihr Blick schweifte die Haustür ihrer Nachbarn. Dort wohnte das kleine zehn-jährige Mädchen Sara mit ihren Eltern. Die Tür war mit einem großen, leuchtenden Kranz verziert. Weihnachtsmusik drang ihr in die Ohren und ein sachtes Lächeln stahl sich über ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, wie das kleine Mädchen mit leuchtenden Augen vor dem Christbaum stehen würde.
Da öffnete sich die Tür und Inge zuckte erschrocken zusammen. Sara kam heraus. Sie hatte eine dicke Jacke, Schal, Mütze und Handschuhe an. Bereit draußen im Schnee zu tollen. Doch als sie ihre Nachbarin auf ihrem Rollator sitzen sah, hielt sie inne. Inge sah sehr traurig aus, auch wenn sie das Mädchen freundlich anlächelte.
»Hallo!«, rief Sara fröhlich. »Warum sitzt du denn hier im Flur?«, wollte sie wissen. Inge wusste nicht, wie sie ihr das erklären sollte. Je mehr sie selbst darüber nachdachte, umso alberner kam sie sich vor.
»Ich bin heute sehr alleine und konnte meine Wohnung einfach nicht mehr sehen.«
»Du bist ganz alleine heute? Hast du niemanden, mit dem du Weihnachten feiern kannst? Das ist traurig. Schade, dass der Weihnachtsmann nur Geschenke bringt und sich nicht zu dir setzt. Aber der hat ja auch nicht so viel Zeit«, sagte Sara und seufzte schwer.
Das liebe Mädchen wollte der alten Dame eine Freude machen. »Warte bitte kurz. Ich bin gleich wieder da!« Sie stürmte zurück in die Wohnung, warf achtlos ihre Kleidung auf den Boden und rannte in ihr Zimmer. Sie hatte für ihre Großeltern, die sie am ersten und zweiten Weihnachtstag besuchen würde, eine Weihnachtskarte gebastelt. So eine wollte sie ihrer lieben Nachbarin schenken. Sie schrieb »Für die liebe Omi nebenan«, da sie den Namen nicht kannte, und verzierte sie noch mit einem Weihnachtsbaum. Damit stürmte sie hinunter und traf auf ihre Mutter.
»Wolltest du nicht hinaus in den Schnee?«, fragte ihre Mutter verwundert. Sara zögerte kurz. »Doch, aber die Omi nebenan ist ganz alleine und sieht sehr traurig aus. Da wollte ich ihr ein Geschenk machen.«
Saras Mutter stutzte kurz. Dann flüsterte sie ihrer Tochter etwas zu. Diese konnte gar nicht schnell genug aus der Wohnung hinaus eilen, um es Inge zu erzählen.
Freudestrahlend reichte sie ihr die Karte und sie konnte an den leuchtenden Augen sehen, wie schön die alte Dame diese fand. Inge war gerührt und bedankte sich. »Meine Eltern und ich wünschen uns sehr, dass du mit uns Weihnachten feierst. Bitte komm rein ins Warme. Du wirst dich hier noch erkälten!« Das kleine Mädchen war so freudig und duldete keine Ausreden.
Da kam auch ihre Mutter und steckte den Kopf durch die Tür und bat Inge, mit ihnen den Heiligabend zu verbringen.
»Bitte, liebe Omi! Niemand sollte alleine sein am Heiligabend!«, sagte Sara und blickte sie so flehend an, dass Inge gar nicht anders konnte, als diese Einladung anzunehmen. Zwar war sie nie in den Genuss gekommen eine Omi sein zu dürfen, doch, dass dieses kleine Mädchen sie so nannte, wärmte ihr das Herz. Ihre Nachbarin reichte ihr einen Arm und half ihr in die Wohnung. Hier war es warm und weihnachtlich. Es roch nach Zimtplätzchen und frischen Tannenzweigen. Viele schöne Lichter erhellten die Wohnung und gaben Inge ein Gefühl von Wärme. Als sie die Stube betraten, zog der rotgoldene Weihnachtsbaum ihren Blick in seinen Bann. Er leuchtete und glänzte so schön und hell. Unter ihm waren bereits viele bunte Päckchen verteilt und Sara fiel es schwer, sie noch nicht anzurühren.
Der Esstisch war bereits gedeckt und ein Kerzenständer erhellte die perlweiße Tischdecke mit den roten Servietten. Edle Kristallgläser waren bereitgestellt. Inge staunte.
Der Vater stellte gerade einen gefüllten Braten in einem Gemüsebett auf den Tisch zu den Klößen und der Pflaumenmussoße. Saras Mutter brachte Inge zu ihrem Platz, an dem schon alles für sie gedeckt war. Alle saßen zusammen und genossen das festliche Essen zur leisen Weihnachtsmusik. Es wurde viel gelacht und sich unterhalten. Inge erzählte von den Weihnachten aus ihrer Kindheit und bald kam dieses altbekannte Gefühl der Liebe und Wärme in ihr auf.
Nach dem Essen war sich Inge sicher, dass sie schon lange nicht mehr so gut gegessen hatte. In einem weichen, gemütlichen Sessel neben dem Baum durfte sie Platz nehmen und lauschte dem Weihnachtsgedicht, das Sarah mit Herz und Seele vortrug. Dann durfte das Mädchen ihre Geschenke auspacken. Drei Bücher kamen nach und nach zum Vorschein, über die sie sich besonders freute. Die Kleine liebte es, zu lesen. Inge lächelte die ganze Zeit, so sehr erfreute sie sich an den leuchtenden Augen des fröhlichen Kindes und des liebevollen Ehepaares, das den Anblick ebenso genoss wie sie. Ein schönes Familienfest.
»Es tut mir leid, dass wir kein Geschenk für Sie haben, Frau Schmitt«, sagte die Mutter. Doch Inge schüttelte den Kopf.
»Sie haben so viel für mich getan und ich habe schon das Schönste genießen dürfen, das Weihnachten so besonders macht. Die Liebe eines Kindes, ihrer Eltern und Sie haben mich den Geist von Weihnachten spüren lassen. Das ist mehr, als man mir schenken könnte.«
Da klopfte es an der Tür. Die Mutter öffnete und ließ die Gäste herein. Inge beobachtete Sara dabei, wie sie sich über ihre neuen Acrylfarben freute und aufgeregt erzählte, welche Bilder sie damit malen würde.
Da ließ ein bedrücktes »Hallo, Mama!«, die Zeit für einen Augenblick still stehen. Inge blickte auf. Direkt in das Gesicht ihrer Tochter. Sie konnte es nicht fassen. Stand sie wirklich dort vor ihr? Schneeflocken lagen ihr auf den brünetten Haaren. Die Wangen und Nase rot leuchtend von der Kälte.
»Frohe Weihnachten«, sagte ihre Tochter leise und trat näher, als auch ihr Bruder hereinkam. Inge schlug sich vor Freude die Hände vor den Mund. Beide ihre Kinder waren gekommen.
»Hallo Mama, tut mir leid. Mein Flug hatte Verspätung!«, entschuldigte sich ihr Sohn und umarmte sie innig. Inge war so glücklich, dass sie vor Freude laut schluchzend weinte.
»Mir tut es auch leid. Ich hätte nicht darauf bestehen sollen, dass du in ein Heim gehst. Verzeih mir!«, entschuldigte sich ihre Tochter und fiel ihr ebenfalls um den Hals.
»Aber wahrscheinlich hast du recht. Gerade heute habe ich gemerkt, dass ich langsam doch zu alt werde«, meinte Inge und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Ihre Tochter strich ihr liebevoll über die Wange.
»Wir haben eben auf die Schnelle ein Geschenk für dich ausgesucht«, meinte ihr Sohn. »Bis fünfzehn Minuten vor dem Flug stand es noch nicht fest, ob ich kommen kann. Dann habe ich meine Schwester geschnappt und sie überzeugt mitzukommen. Sie wollte sich schon lange bei dir entschuldigen, wusste aber nicht wie. Dies ist nun die beste Gelegenheit. Deswegen haben wir uns zusammengetan und dir das hier besorgt.« Er reichte seiner Mutter ein kleines Päckchen.
»Wir dachten uns, dass es dir sicher gefallen würde.« Alle waren gespannt, was sich darin verbarg. Als Inge sah, dass es die gleiche Spieluhr war, wie die, die sie sich selbst schenken wollte, war ihre Freude nicht mehr zu bändigen. Sie umarmte ihre Kinder so oft und so fest, wie sie nur konnte. Zum Glück hatte Saras Mutter die Handynummer von Inges Kindern und konnte ihnen Bescheidgeben.
Ein Weihnachtswunder, an das Inge nicht mehr geglaubt hatte. Beide ihre Kinder waren bei ihr. Sie hatten einen so schönen Abend, dass Inge später erschöpft, aber glücklich und zufrieden ins Bett ging und noch einen Moment an diesen schönen Abend zurückdachte, ehe sie in den tiefsten und erholsamsten Schlaf ihres Lebens fiel.
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