Kapitel Fünfzehn
Im Kreis saßen oder lagen wir auf der karierten Decke.
Die Sandwiches waren fast alle aufgefuttert und der Tag neigte sich dem Ende zu.
»Gib mir mal den Jack Daniel's«, forderte Kai Peter auf. Anschließend hielt er mir die Flasche. Zögernd nahm ich sie und trank einen Schluck.
Die Flüssigkeit kratzte in meiner Speiseröhre und ich musste Husten.
»Hast du nochnie Whiskey getrunken?«, fragte Tess, die mir auf den Rücken klopfte. Röchelnd schüttelte ich den Kopf.
Langsam spürte ich, wie mein Körper ganz warm wurde und ich tiefenentspannt war. Kai nahm einen kräftigen Zug aus der Whiskeyflasche.
»Das ist ein Wundermittel. Es betäubt schlechte Gefühle und lässt dich schweben.« Es war schwer zu sagen, ob Kai angetrunken war oder einfach gut drauf. Tess leerte ihre Bierflasche ohne Probleme.
Wir alle waren auf eine seltsame Weise verbunden, und wenn es nur der Alkohol war. Wir alle betäuben den Schmerz.
»Einfach nur rumhocken und saufen ist langweilig«, meldete sich Peter zu Wort. »Wie wärs mit "Ich hab noch nie"?«
Das war eines der wenigen Trinkspiele, die ich von meinem Bruder kannte. Ich wusste, dass ich traurig war, nur spürte ich es nicht. Kai hatte recht, es betäubt schlechte Gefühle.
Peter fing an. »Ich hab noch nie mir einem Jungen rumgeknutscht.«
Nathan verdrehte die Augen und kippte einen Schluck Whiskey runter. Dann gab er Kai die Flasche, die er ohne zu trinken mir gab. Ich setzte an, die Flüssigkeit floss meinen Rachen herunter. Diesmal brannte es nicht so sehr wie beim ersten Mal. Auch Tess schüttete den Alkohol in ihren Körper.
»Ich hab nochnie die Unterhose eines Mädchens getragen«, sagte Tess und richtete ihren Blick auf Nathan, der sie entsetzt anstarrte.
Ich war vollkommen im Spiel. »Die Story will ich hören.«
Nathan nahm einen großen Schluck, der Whiskey war nun zur Hälfte leer.
»Ich war bei Caleb, hab bei ihm gepennt. Du Süße warst im Memorial Hospital. Du weißt ja selbst, wie klein das Bett von Caleb ist, also haben wir in deinem Bett geschlafen. Am nächten morgen war ich ein wenig schlafgetrunken und dachte, wir seien in seinem Zimmer. Also hab ich Schublade aufgemacht um mir ne Unterhose von deinem Bruder anzuziehen. Tja...«Er nahm noch einen Zug, bevor ich mich auf ihn stürzte. »Du Schwein!«, lachte ich.
Wir spielten noch solange, bis die Sonne unterging und der Jack Daniel's leer war. Tess schlief, die Jungs machten das Bier leer.
Ich lief auf den Steg zu, setzte mich. Meine nackten Zehenspitzen berührten leicht die Wasseroberfläche. Gänsehaut überzog mich von Kopf bis Fuß.
Gedankenversunken bestaunte ich den Sternenhimmel in seiner vollen Pracht. Ich blendete alles um mich herum aus, war ganz bei den Sternen.
»Wunderschön, nicht?« Entsetzt stellte ich fest, dass Kai neben mir saß und ein halbleeres Bier in der Hand hielt. Er stellte die Flasche hinter sich, lächelte mich an.
»Wie lange bist du schon da?«, fragte ich nach. Auf meine Frage ging Kai nicht ein, sondern betrachtete weiter den Himmel. »Hast du so etwas schönes schonmal gesehen? Im Ganzen gehen Einzelne unter. Doch nur zusammen leuchten sie so schön«, schwärmte Kai.
»Irgendwie kitschig«, entgegnete ich.
»Vielleicht«, meinte er, drehte sich um und nahm die Flasche.
»Ich liebe dich.«
»Ich glaube eher, dass du ein wenig zuviel getrunken hast«, behauptete ich und nahm ihm das Bier weg, er leistete keinen Widerstand.
»Nein, ich liebe dich!«, protestierte Kai.
Ich lachte auf. »Wie kannst du mich lieben, ohne den Menschen zu kennen, der in mir steckt?« Jetzt war ich diejenige, die sich kitschig anhörte.
»Stimmt. Das alles bisher war nur Fassade. Im Inneren bist du einkalt und gefühlslos«, neckte Kai mich.
Mein Herz pochte. Ja, ich wusste, dass er mich mochte, aber dass er mich wirklich liebt...
Kai schaute mir tief in die Augen. Selbst in der Nacht war sein Blick intensiv, sodass ich ihm nicht ausweichen konnte. Wollte ich auch nicht.
»Ich habe schon viele Mädchen kennengelernt. Sie waren alle hübsch. Und nett. Aber ihnen fehlte etwas. Ein Ausdruck in den Augen, der einen Menschen von der Menge abhebt. Wie der Nordstern, der heller strahlt als alle anderen.« - Kai legte seine rechte Hand auf meine Wange - »Ich sehe mir gerne deine Augen an. Ihnen fehlt nichts. Sie leuchten heller, wie alle anderen. Du bist mein Nordstern.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte das Gefühl, zu schweben. Alles wurde leicht und trennte sich von mir. Ob das an Kai oder dem Whiskey lag, wusste ich nicht. Meine Ohren glühten, mein Herz pochte. Kai beugte sich zu vor und küsste mich.
Jede seiner Berührungen kam mir doppelt so intensiv vor. Kein Detail blieb mir unbemerkt. Von Peter, Nathan und Tess hörten wir nichts mehr.
In diesem Moment begriff ich, was es heißt, Erinnerungen zu sammeln.
Mein Bruder war ein sehr sentimentaler Mensch. Er redete oft in Metaphern, früher verstand ich oft nicht, wie er die Dinge meinte, die er sagte.
Erst mit seinem Tod machten sie sich Kenntlich.
Bis zur Beerdigung waren es nur noch vier Stunden und ich lag wach in meinem Bett, konnte nicht schlafen.
Also rief ich Kai an. Zu meinem erstaunen hob er sofort ab.
»Warum rufst du mich um 4:39 Uhr an?«, fragte Kai. Ich konnte sein Grinsen förmlich hören.
»Warum erreiche ich dich im wachen Zustand um 4:39 Uhr?«
»Punkt für dich«, schmunzelte er. »Nun, warum rufst du an?«
»Kannst du ein Gedicht vorlesen?«, schoss aus aus mir. Am anderen Ende wurde es still.
»Ein Gedicht also? Das Einzige, was ich hier habe, ist Eintönig.«
»Lies«, forderte ich Kai auf. Er räusperte sich.
»Eintönig / rieseln um mich die grauen Tage. / Eintönig sinken auf mich die schwarzen Nächte. /Eintönig / spinnt sich um mich
mein / totes, leeres, taubes / Dasein.
In / dunkele Träume / heult / der Wind; / schwere, dumpfe, / hohl auffallende / Tropfen, durch die Regenrinne, / zählen die Zeit / ab.«
Seine Stimme war beim Vorlesen rau und zum Umfallen sexy und wog mich sanft in einen kurzen Schlaf.
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Eintönig von Arno Holz · 1863-1929
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