5. Nemo
Kennt ihr diese perfekten Familien in den amerikanischen Teeniefilmen, bei denen der Vater absolut verständnisvoll und die Mutter die beste Freundin überhaupt ist und das Haus einen Pool hat und so weiter und so fort.
Genauso läuft das bei meiner Familie. Nur gibt es da, wie auch in allen anderen, einen kleinen Unterschied:
Diese ganzen Stellungen hatten meine Eltern nicht bei mir, sondern bei Basti.
Er war für sie der Sohn, den sie nie hatten. Was mir im Großen und Ganzen egal wäre, wenn mein allerliebster Papi und meine bezaubernde Mami nicht dauernd auf die Idee kommen würden, dass er überall dabei sein müsste. Einfach überall!
Vielleicht haben sie auch ein schlechtes Gewissen, weil ich damals versucht habe, mich in seinem Zimmer aufzuhängen.
Laut Psychologen prägt das Einen.
Aber das dieser Eine dann die arme Person, die versucht hat, sich in seinem Zimmer das Leben zu nehmen, dann ununterbrochen verfolgt, davon haben sie nichts gesagt.
Auf alle Fälle gibt es seitdem ein ungeschriebenes Gesetz, dass Basti überall hin mitkommen darf, wohin wir fahren. Und das ist in der Regel weit, weit weg.
Ich bin dann sowas wie das vielgeliebte Haustier, eine weiße Langhaarkatze mit Diamanthalsband, die von allen umsorgt und bemuttert wird und hin und wieder auch von Basti in den Pool geworfen werden darf.
So in etwa sehen meine Ferien aus. Jedes Jahr. Naja, manchmal ändert sich der Ort, aber ansonsten blieb es herzlich eintönig.
Aber diesmal hatten sich meine Eltern etwas ganz Besonderes ausgedacht:
Tauchen an der Adria!
Toll! Als gäbe es nichts Schöneres, als zehn Meter unterhalb unseres natürlichen Lebensraum in einer nicht für uns bestimmten, herrlich unberührten Umgebung sich auf eine Art fortzubewegen, für die unsere körperlichen Konditionen gänzlich ungeeignet sind.
Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, aber jetzt sitzen wir auf einem Boot, mit zwei von diesen hässlichen Sauerstoffdingern auf dem Rücken, die für anderthalb Stunden reichen sollen und von denen ich wette, das sie für meine späteren Bandscheibenvorfälle verantwortlich sein werden!
Basti sitzt mit einem seiner typischen dümlichen Grinsen mir gegenüber, während mein Vater verzweifelt seine wenigen Armmuskeln trainiert, indem er die Ruder in einem Kreis durch die Luft fliegen lässt.
Meine Mutter versucht, mit ihrem altmodischem Badeanzug, dem Sonnenhut mit der breiten Krempe und den übergeschlagenen Beinen so viel Sex-Appeal auszustrahlen, wie es ihr möglich ist.
Es ist mir egal.
Sie ist nicht mehr die Jüngste, also kann sie meinetwegen noch die letzten Jahre als Strandschönheit auskosten.
"Wir sind da!", verkündet mein Vater mit freudenstrahlender Miene. Uns ist allen klar, dass er nur keine Kraft zum weiterrudern hat und es deswegen aufgegeben hat.
"Macht euch bereit!", ruft er enthusiastisch.
Bereit wofür?
"Vera, Basti, ihr zuerst!"
Was? Sekunde, ich wollte doch nicht... ein gnadenloser Stoß von meinem allerbesten Freund und mein Gedankengang bricht beim Aufprall ins Wasser ab.
Wäh nass! Hätte Gott gewollt, dass wir schwimmen, hätte er uns Schwimmhäute und Kiemen gegeben!
Basti hindert mich am Auftauchen und zieht mich an sich. Nach einigen Sekunden bemerke ich, dass ich die Luft angehalten habe.
Vernünftiger Körper! Wasser ist böse!
In wenigen Mengen ertragbar aber ansonsten absolut tödlich.
Wasser ist unser Feind!
Plötzlich stößt Basti mir unsanft in den Bauch und ich schnappe automatisch nach Luft.
Danke, Basti, ich hasse dich auch!
Inzwischen sind auch die werten Eltern in die gefährlichen Tiefen abgetaucht und schwimmen händchenhaltend vor uns her.
Ich könnte kotzen. In Anbetracht der Tatsache, das mein Mageninhalt dann meine Tauchmaske füllen würde, keine gute Idee.
Basti lässt mich fast los und zieht mich nur mit einer Hand mit sich.
Wenn ich könnte, würde ich ihm jetzt einen Vortrag über Freundschaft und ihre Grenzen halten, aber es wäre sowieso vergeudete Zeit.
Wie Raupen mit Flossen bewegen wir uns durch die Flüssigkeit, die ungefähr zwei Drittel der Erdoberfläche bedeckt und so ziemlich das Einzige ist, was den Menschen Ehrfurcht gelehrt hat.
Heil Poseidon!
Bald haben wir das Korallenriff erreicht und verschwinden mehr oder weniger von der Bildfläche. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es hier Haie geben soll, aber gefunden habe ich noch keine.
Und während mein Vater meiner Mutter Seeblumen in die Haare steckt und Basti was-weiß-ich- wo ist, tauche ich tiefer.
Mittlerweile ist es kälter geworden und als ich mich auf den Rücken drehe, kann ich kaum noch das Tageslicht sehen.
Deprimierend!
Also drehe ich wieder um und starre stattdessen in die dunkelblaue, schier endlose Tiefe unter mir.
Wie ist es wohl da unten? Wenn man hinabgezogen wird und nicht mehr die Kraft hat, nach oben zu schwimmen, sondern nur noch die letzten Schimmer der brechenden Sonnenstrahlen auf den Wellen sieht... oder in meinem Fall die pinken Schwimmflossen meiner Mutter.
Ich sehe nachdenklich zwischen meinen Zehen hindurch und starre in das unter mir. Wie weit kommt wohl ein Ertrinkender, bevor ihm die Luft ausgeht? Kann er dort noch etwas sehen? Der Druck spielt natürlich auch noch eine entscheidende Rolle!
Und die Kälte.
Was, wenn er von irgendetwas in die Tiefe gerissen wird? Sieht er dann mehr als derjenige, der gemächlich nach unten gleitet? Oder weniger, weil der Körper Druck und Temperaturunterschiede nicht schnell genug ausgleichen kann.
Ob er noch lange genug bei Bewusstsein bleibt, um andere vor ihm zu sehen? Irgendwelche Gerippe, die an den Klippen hängen, teilweise mit Seetang oder anderen Knochen verhedert.
Ein harter Ruck an meinem Arm reißt mich aus meinen Gedanken.
Irgendwer schwimmt über mir und zerrt mich nach oben.
Verdammter Bastard! Ich schreie ihn durch meine Maske an, dass er aufhören solle, aber er ignoriert es und zieht mich weiter an die Oberfläche.
Verdammt ist das hell!
Ich kneife die Augen zusammen und realisiere erst danach, dass ich rücksichtslos über die Reling eines Bootes gestossen werde.
"Alter! Macht das Licht aus!", stöhne ich und reiße mir die Maske und das Atemgerät vom Kopf.
Schatten! Halleluja!
Aber als ich sehe, von wem der Schatten kommt, fangen meine Augen an, imaginäre Laserstrahlen abzufeuern.
"Verdammt Basti! Irgendwann töte ich dich!"
Das Salzwasser tropft aus seinem Gesicht und seinen Haaren mir direkt in die Augen. Er schaut mich unendlich besorgt an:
"Mensch Vera!", flüstert er fassungslos. "Du warst über zwei Stunden weg!"
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