3. Sturmflut
Es gibt ungefähr sieben Milliarden Menschen auf dem Planeten.
Ich kenne vielleicht fünzig von diesen Idioten. Davon haben zehn das zweifelhafte Vergnügen mit mir verwandt zu sein.
Bleiben also noch vierzig.
Davon kenne ich dreißig aus der Schule, inklusive die Lehrer.
Die nächsten neun sind die Nachbarn und der Postbote.
Und der Einzelne, der zum Schluss noch übrig bleibt, das ist Basti, der größte Idiot von allen!
Nicht das er schlecht in der Schule wäre, er ist sogar knapp über dem Durchschnitt.
Aber er ist die einzige Person, die selbst nach mehreren tausend eindeutigen Hinweisen nicht verschwunden ist.
Manchmal erinnert er mich an einen Hund, auf dem ich kurze Zeit aufpassen sollte, bis die Besitzer bemerkten, dass ich nachts mit ihm draußen war, um Wölfe zu jagen.
Normalerweise ist das kein Problem, es sei denn, der Hund ist stolze 35 Zentimeter groß und die Gegend, in der ich war, ist bekannt für die Drogenumschlagplätze und die Zuhälter.
Offenbar gibt es auch in einer Spießerstadt wie meiner spannende Viertel.
Jedenfalls kam dieser Hund, immer wenn ein Stock geworfen wurde, schwanzwedelnd zurück und setzte sich genau vor mich um mich mit seinen braunen Augen anbetend anzugucken.
Genauso war Basti.
Nur hatte er blaue Augen.
Und war etwas größer.
Aber egal, was ich machte, irgendwann stand er neben mir und beobachtete mich ganz genau.
Vielleicht lag es daran, dass ich, als wir Kinder waren, mich zum Spaß an einem Springseil aufgehängt hatte.
Eigentlich war das nicht geplant gewesen. Ich wollte nur von einem Stuhl auf einen Anderen springen und weil ich Angst hatte, runterzufallen, habe ich mich an dem Seil festgebunden.
Basti hatte mich sofort an beiden Beinen hochgehalten und solange geschrien, bis jemand gekommen war.
Es könnte aber auch wegen dem Tag gewesen sein, als wir das alte Haus erkundet haben und ich über die morschen Balken balanciert bin.
Zu meiner Verteidigung, ich habe die Höhe wirklich nicht abschätzen können und dass da schon ganze Steinhaufen am Boden lagen, habe ich auch erst zum Schluss gesehen.
Auf jeden Fall scheint er mir bis heute nicht mehr von der Seite zu weichen.
Sollte mich nicht stören.
Ich stopfe mir meine Kopfhörer in die Ohren und schalte die Musik ein.
Ed Sheeran.
Es hätte schlimmer sein können.
Basti läuft schweigend neben mir her, die Hände in die Taschen gesteckt.
Ich glaube, wir sehen aus, wie zwei Zombies, wie wir so durch den Wald stiefeln.
Mir egal.
Ich weiß noch nicht mal, warum wir hier lang laufen. Aber irgendwo werden wir schon herauskommen.
Es scheint letzte Nacht geregnet zu haben.
Jedenfalls ist der Weg, den wir laufen, ziemlich durchgeweicht.
Ich überlege kurz, ob ich mit Basti Platz tauschen sollte, schließlich habe ich nur Ballerinas an.
Aber was solls. Dazu bin ich zu faul.
Also laufe ich weiter und lasse zu, dass sich meinen Ballerinas langsam mit Wasser füllen.
Irgendwie ein angenehmes Gefühl.
Das Basti mich von der Seite ansieht, ignoriere ich gekonnt.
Rein theoretisch könnte ich mich mit ihm unterhalten.
Aber nein!
Zu anstrengend.
Also lasse ich ihn starren.
Mittlerweile kommt der Weg mir bekannt vor.
Richtig, gleich kommt ein Bach mit einer Brücke.
Und da ist der Bach.
Ohne Brücke.
Ich bleibe automatisch stehen.
"Gabs hier nicht mal eine Brücke?", frage ich. Möglicherweise zu laut, weil ich immernoch die Musik anhabe.
Ich warte auf eine Antwort. Aber die bleibt aus.
Gerade als ich nochmal fragen will, ruckte es in meinem linkem Ohr unangenehm und ein paar Sekunden später merke ich, dass Basti mir den Kopfhörer herausgezogen habe.
Ach, deswegen habe ich ihn nicht gehört!
"Wenn du was wissen willst, dann sorg auch dafür, dass du es hören kannst!", murrte Basti.
"Bist du sauer?" Warum habe ich das gefragt? Das interessiert mich doch gar nicht! Ist wohl Macht der Gewohnheit.
"Es regnet gleich!", meint Basti mit Blick zum Himmel.
Tatsächlich scheint es sich da was zusammengezogen zu haben.
Jedenfalls sieht es ziemlich schwarz aus.
"Na und? Bis dahin sind wir eh zuhause!"
Ich gehe bis dicht ans Ufer und schaue nach beiden Seiten.
Keine Brücke!
"Die Brücke ist weggeschwemmt!" Basti stellte sich neben mich.
"Seit wann das denn?" Wieso frage ich auf einmal so viel? Es wäre jetzt normalerweise Musikzeit!
Also noch mehr Ed Sheeran!
Aber Basti hält den Kopfhörer immernoch in der Hand.
"Seit dem letzten Unwetter!"
Als Basti bemerkt, dass ich ihn genervt anstarre, fügt er hinzu:
"Letzte Woche hats nachts ordentlich geschüttet! Hast du nichts bemerkt?"
"Ich schlafe nachts!"
Normale Menschen tun so etwas nämlich! Und wenigstens in dieser Hinsicht bin ich das.
Basti reagiert nicht, sondern streckt nur seine Hand raus.
Will er den Bach spalten?
Aber nein, er fängt nur Regentropfen.
Oh, es regnet.
Wasser fällt vom Himmel.
Interessant.
Hätte ich es nicht schon tausendmal gesehen.
"Warum stehst du hier?"
"Weil die Brücke nicht da ist!"
Als ob ich das nicht selber sehen könnte!
Plötzlich krachte es einmal laut über uns und im nächsten Moment schüttete es, als würde der Wetterriese den ganzen Magen auskotzen.
Toller Vergleich.
Basti war zusammengezuckt und hatte mich automatisch ein paar Schritte nach hinten gezogen.
Und wie gesagt, ich habe die Motorik eines Stephen Hawking. Nur leider nicht sein Genie.
"Wieso springen wir nicht?" Ich stecke heute mal voller Ideen.
"Bist du verrückt? Der Bach ist viel zu breit. Außerdem guck dir mal die Strömung an!", brüllte Basti zurück. Ich gebe zu, mittlerweile ist es tatsächlich etwas laut geworden. Aller zwei Sekunden knallt es, dass uns die Zweige um die Ohren fliegen.
Ich ignoriere Bastis Einwurf und stelle mich ans Ufer.
"So weit ist das doch gar nicht!", murmel ich. Ich schätze kurz ab, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich noch nasser werden und wie lange wir noch in diesem Wald feststecken würden.
Das heißt, eigentlich starre ich nur sinnlos vor mich hin, während vor meinem geistigen Auge Bilder von Basti und mir im strömenden Regen aufgetaucht sind, konkurierend dazu eine Vision von einer Tasse heiße Schokolade.
Die Schokolade hat eindeutig was für sich.
Also springe ich.
Während dem Sprung denke ich sekundenlang nach, ob nicht doch ein Anlauf nötig gewesen wäre, dann schießt auch schon das Wasser in meine Schuhe.
Es ist doch weiter als gedacht. Und tiefer!
Das merke ich auch erst, als mein Kopf unter Wasser gedrückt wird.
Und bedauerlicherweise hat Basti auch mit der Strömung recht. Die ist wirklich ziemlich fies.
Und deshalb realisiere ich erst ein paar Sekunden später, dass ich gewaltsam mitgerissen werde und öfters gegen ein paar unhöfliche Hindernisse knalle.
Plötzlich werde ich festgehalten. Nett ausgedrückt.
Eigentlich schlingen sich von oben zwei Arme um mich, was einen ordentlichen Ruck gibt, als ich mitten in der Strömung zum Stillstand komme und mühsam aus dem Wasser gezogen werde
Als ich wieder halbwegs an die Welt über dem Wasser gewöhmt habe, sehe ich Basti keuchend neben mir knien. Neben mir ist nicht ganz richtig, genau genommen hält er mich auf seinem Schoß.
Es regnet immernoch in Strömen, aber Bastis über mich gebeugter Oberkörper ist ein relativ guter Regenschirm.
Auch wenn er mir leidtut, wie seine blonden Haare klatschnass auf seiner Stirn kleben und die Ärmel bis zu den Schultern völlig durchweicht sind, weil er anscheinend weit in das Wasser hineingegriffen hat, um mich herauszufischen.
Also ist diese Situation eigentlich noch beschissener als davor.
Mein allerbester Freund guckt mich wütend an:
"Ich hab dir doch gesagt, dass ist zu weit!", schimpft er, aber nach all den Jahren, die er mir schon hinterher läuft, höre ich den sorgenvollen Unterton heraus.
Aus irgendeinem Grund bin ich sozial gestimmt, möglicherweise, weil er sich nicht scheuen wird, mich wieder reinzuschmeißen, schenke ich ihm eine hochgezogene Augebraue und recke ihm Zeige- und Mittelfinger entgegen:
"Peace!", murmle ich.
Basti stöhnt auf und sein Kopf sackt nach unten.
In Erwartung eisiger Bäche von oben schließe ich die Augen. Aber sie bleiben aus.
Offenbar hat Mutter Natur uns genug gewässert und es tropft nur noch von den Bäumen.
Halleluja.
"Es hat aufgehört zu regnen!", meine ich mit dem Enthusiasmus einer Fliege, die gegen die Fensterscheibe fliegt.
Basti schweigt.
"Wir können nach Hause!"
Keine Reaktion.
Ist er tot?
Aber dann steht er auf und zieht mich mit nach oben.
"Komm!", sagt er nur.
Ich streike. "Wohin?"
Ohne sich umzudrehen zieht er mich mit.
"Wir gehen zur Straße!"
"Das dauert Ewigkeiten!"
"Du kriegst ne heiße Schokolade von mir!"
Ich höre schlagartig auf mich zu wehren und wir lassen den Bach und sein maulendes Geplätscher hinter uns.
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