14. Kleid
Für alle, die denken, dass man mit kontinuierlichem Kopf-gegen-die-Wand-schlagen Zeit und Probleme vertreiben kann, Fehlanzeige!
"Schatz! Komm endlich aus dem Badezimmer! Die Friseuse wartet!"
Ich höre mit meiner Verzweiflungstat auf und starrte wütend in den Spiegel.
"Nur wenn ich den Hoodie kriege!" Meine ach so engelsgleiche Mutter hat meinen dunkelblauen Lieblinbspullover irgendwo versteckt und will ihn nicht mehr herausrücken.
"Du trägst das Kleid, das wir ausgesucht haben! Es ist dein Abiball!"
Ich drehe mich um und verschränke die Arme:
"Wieso tun alle so, als wäre es das Wichtigste der Welt! Ich habe keine Lust, dabei zu sein, wenn die ganzen Schulschlampen sich in extraenge Kleider zwängen, die alle Kurven betonen, die sie eigentlich verdecken sollten und die einzigen Körperteile, die sie betonen sollen, nämlich Brüsten und Hintern, in ihren Falten versteckt halten..."
"Jetzt hör mir mal zu!", unterbricht mich meine Mutter und schlägt mit der flachen Hand gegen die Tür.
"Du hast dieses bescheuerte Schulssystem ertragen zwölf Jahre lang und jetzt wirst du gefälligst denen allen zeigen, was für eine perfekte junge Frau du geworden bist!"
Wütend trete ich gegen die Wand.
"Ich werde dieses Kleid nicht anziehen!", schreie ich.
"Ich brauche niemandem etwas zu beweisen und meiner Schule erst recht nicht!"
Meine Mutter schlägt noch einmal mindestens genauso wütend gegen die Tür, bevor sie wegstöckelt.
'Das war nicht nett!', sagt die Stimme leise.
"Fresse halten!"
'Sie ist unsere Mutter! Es ist schon schlimm genug, dass du sie die ganze Zeit wie Dreck behandelst!'
"Was heißt hier 'unsere'?", wütend sehe ich in den Spiegel vor mir. Besonders groß ist mein Bad ja nicht.
Irgendwie wirke ich aber nicht so verkniffen wie sonst, eher nachdenklich und als die Stimme wieder anfängt, sehe ich sogar viel sanfter und fast... traurig aus?
'Irgendwann wirst du schon drauf kommen!'
Ich rümpfe die Nase, aber habe keine Ahnung, was ich erwidern soll.
'Du hast recht! Rot ist schon nuttig! Du brauchst was anderes!', redet die Stimme weiter.
"Seid wann hast du solche Ausdrücke drauf?", frage ich spöttisch.
'Erinnerst du dich noch an das Grüne? Das, was unsere Mutter zum letzten Bankett getragen hat! Gib zu, es hat dir gefallen!'
Nachdenklich schürze ich die Lippen.
"Es sah schon nicht schlecht aus!", gebe ich zu.
Dann geschieht etwas, was mir seitdem in den Knochen sitzt.
Für etwa zehn Sekunden übernimmt die Stimme Kontrolle über meinen Körper.
Sie schließt die Tür auf, schaut nach draußen und ruft:
"Ich komme, wenn ich dein grünes Kleid kriege!"
Sofort schließe ich die Tür wieder, lehne mich dagegen und murmel: "Scheiße!"
"Aber natürlich, Schatz!", ruft meine Mutter. "Wenn du möchtest! Aber beeile dich!"
'Bitte! Da hast du es!'
"Ich hasse dich!"
Zwei Stunden später stehe ich im stickigen Theater auf der Bühne und starre geblendet in die Reihen vor mir.
Das Blitzgewitter ist grauenhaft!
'Wenigstens hast du das Rote nicht angezogen!', flüstert die Stimme. 'Die tragen ja alle rot! Oder dunkelblau! Grauenhaft!'
Unwillkürlich ziehe ich meinen Mundwinkel zu einem Schmunzeln hoch.
"Du fängst an, mir zu gefallen!"
'Und unsere Mutter freut sich auch!'
Tatsächlich sitzen meine Eltern in der vierten Reihe und strahlen um die Wette.
In diesem Moment fällt mir auf, wie glücklich meine Mutter aussehen. Es steht ihr, macht sie jünger.
Draußen auf dem Platz kommt auf einmal Luise zu mir.
"Du siehst echt heiß aus!", sagt sie.
"Danke." Das wusste ich selber schon!
'Die Sitte erfordert, dass du ihr jetzt ein Gegenkompliment machst!', dringt die Stimme in mir vor.
"Aber wow... wo hast du deine... Kette her?"
Sie errötet. Also habe ich hoffentlich was richtig gemacht.
"Ein Erbstück von meiner Urgroßmutter!", beginnt sie zu plappern und hört nicht eher auf, bis das Büfett eröffnet wird.
"Komm wir gehen was essen!"
Sie zieht mich mit sich.
"Du bist doch auch Vegetarier oder?"
"Nein!", zische ich gedämpft. "Ich esse Fleisch! Nur Fleisch!"
Luise schaut mich perplex an.
"Wie schaffst du es, so schlank zu bleiben?", haucht sie ehrfürchtig.
"Alkohol!" Mein Ausruf war nicht auf ihre Frage bezogen, sondern vielmehr auf das Tablett des Kellners, der sich in weniger Entfernung von uns befand.
"Okay!", lacht Luise auf. "Dann hole ich mir mal mein Kaninchenfutter!"
An diesem Abend verstehe ich das erste Mal, warum Frauen so tiefe Auschnitte tragen.
Innerhalb von dreißig Minuten sind mir etwa acht Drinks spendiert worden.
Nach weiteren dreizehn Cocktails bin ich gezwungen, meine Schuhe auszuziehen, weil mein Gleichgewicht sich langsam in den Ruhestand begibt.
Ich höre immer noch von jedem Jungen, der sich für erwachsen hält, wie "heiß", "sexy", "schön" oder "scharf" ich aussehe.
Dann willige ich auf den Drink ein und lasse sie etwa drei Minuten ungeniert auf meine Brüste starren, bevor ich dann weiterziehe.
Das Beste an der Situation ist das Verschwinden der Stimme. Nach dem dritten Campari Orange ist sie plötzlich verstummt.
Meine Mitmenschen nehme ich nur noch gedämpft wahr, überall sind diese nebligen Lichter und erst nach Minuten bemerke ich, dass ich auf der Tanzfläche stehe.
Die Lehrer und Eltern haben sich offenbar schon verabschiedet, sodass das Fest in eine große Orgie ausartet.
Die Tische werden beiseite geschoben und die ersten Abiturienten verschwinden mit vorgehaltener Hand auf den Toiletten.
Auch mir wird irgendwann mulmig und ich stolpere unsicher auf die Mädchenklos.
Gerade noch rechtzeitig beuge ich mich über die nächstbeste Kloschüssel, bevor sich meine teuren Getränke ihren Weg in die Freiheit bahnen und mit lautem Geplätscher im Wasser landen.
Na los! Findet Nemo!
Langsam richte ich mich auf, wische mir meinen Mund ab und lehne mich gegen die Wand.
Nach minutenlangem intensivem Nachdenken richte ich mich auf und laufe zum Spiegel.
Hätte mir eine alte, runzlige Hexe entgegen gesehen, wäre ich nicht überrascht gewesen. Genauso fühle ich mich nämlich gerade.
Aber ich bin immer noch ich.
Nur meine Wangen sind stark gerötet und an meinem Oberarm hatte sich aus unerfindlichen Gründen ein roter Händedruck gebildet.
Langsam atme ich ein und wieder aus und schmecke den bitteren Geschmack in meinem Mund.
Ein leises Lächeln schiebt sich über meine Lippen und ich laufe so gerade wie möglich wieder nach draußen in Richtung Bar.
Ein Entschluss ist gefasst.
Die letzte Zahl an Drinks, an die ich mich erinnere, betrug achtundzwanzig, wohlgemerkt nur die, die ich spendiert bekommen habe!
Jedenfalls habe ich genügend Alkohol im Blut gehabt, um nur noch einen schmalen, verschwommen Streifen zu sehen, der zunehmend dunkler wurde.
Nur gedämpft dringen die Sirenen des Notarztes in meinen Schädel.
Letztendlich wache ich mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens auf.
'WAS HAST DU GETAN?', schreit die Stimme in meinem Kopf. Oh, ich habe sie schon fast beerdigt!
'Ich will leben, hörst du? Ohne dich kann ich nicht leben!'
"Leben ist scheiße!", gebe ich murmelnd zur Antwort.
"Ruhmreiche letzte Worte!", kommt es spöttisch von der Seite her.
Mein Vater sitzt dort, ein Automagazin in der Hand. Er sieht zu mir herüber, was mir herzlich egal ist.
"Mach so einen Müll noch einmal und ich weise dich in die Psychiatrie ein!", sagte er drohend.
"Da kommst du achtzehn Jahre zu spät!", spotte ich.
"Manchmal wünsche ich echt, ich hätte es getan!" Mein Vater schlägt die Zeitschrift zu.
"Hätte deine Freundin nicht angerufen, wärst du tot gewesen!"
"Und ihr hättet eine Sorge weniger!"
Mein Vater schwieg.
"Dadrinnen haben wir uns schon einmal geirrt!", murmelt er für sich.
Sollte mich interessieren, was er damit meint? Wahrscheinlich.
Interessiert es mich? Nicht im Geringsten.
"Kannst du aus meinem Zimmer rausgehen?", knurre ich.
Er steht auf:
"Wir sind noch nicht fertig!", sagt er und geht zur Tür, nur um noch einmal einen klassisch Stop am Rahmen zu machen und sich dramatisch umzudrehen.
"Wir lieben dich!", sagt er. Gott, kann es noch wiederlicher werden?
"Also versuche bitte, uns zu verstehen!"
Ja, ich habe immer noch keinen Plan, wovon du laberst!
"Ciao!", sage ich und mein Vater schließt achselzuckend die Tür.
'Er redet von mir!', klingt die kleine Stimme in meinem Kopf.
'Und wenn du aufhörst, so zu tun, als ob du über allem stündest, würdest du mir schon auf die Spur kommen!'
"Ich gehe einfach davon aus, dass du es mir sagst!"
'Aber das würde keinen Spaß machen! Du hältst mich am Leben und damit auch dich. Wir brauchen einander!'
Ich grunze und drehe mich auf den Bauch.
"Jetzt brauche ich Schlaf! Du kannst solange Däumchen drehen!"
Die Stimme schweigt lange.
Erst als ich bereits wegdämmere sagt sie:
'Meine Eltern wollten mich Gloria nennen!'
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