13. Fahrt
Beim Rückwärtsfahren wird mir schlecht. Ist mir das erste Mal bei einem Ausflug als Kind aufgefallen, als ich mich auf einen Viererplatz gesetzt hatte und nach zehn Minuten mein Gegenüber vollgekotzt hatte.
Deswegen suche ich mir entweder stundenlang einen Sitz in Fahrtrichtung oder bleibe so lange stehen, bis einer frei wird.
Einmal stand ich mir eine ganze Stunde lang die Beine in den Bauch, bis eine dicke alte Dame endlich geruhte, aufzustehen.
Heute habe ich Glück. Wohl hauptsächlich deswegen, weil der Zug um diese Uhrzeit fast leer ist.
Nur Hartz4-Empfänger und Leute, die nichts zu tun haben (wie ich) reisen Mittags per Bahn.
Eine Sache gibt es, die ich aus der Schulzeit vermisse: Das Monatsabo für die Fahrkarten!
Ich habe es vorher gar nicht richtig zu schätzen gewusst, sondern es gütigerweise zur Kenntnis genommen aber jetzt wird mir wieder bewusst, wie gut ich es doch damals hatte.
Schon eine Einzelfahrkarte ist verdammt teuer!
Der Zug fährt an und ich hole meine 4-Fahrten-Karte heraus und warte auf den Schaffner.
Gleichzeitig sehe ich nach draußen.
Zwischen meiner Haltestelle und der nächsten gibt es die ominöse 'Teufelsbrücke'.
Sie ist bekannt dafür, dass die Leute da scharenweise Selbstmord begehen, indem sie vor die fahrenden Züge springen.
Einmal saß ich sogar drinnen, als es passierte.
Musste die Polizei anrufen, weil die Zugführerin entsetzlich geschrien hatte, sodass der Schaffner sie beruhigen musste.
Seitdem ist die Idee 'Teufelsbrücke' für mich gestorben. Sich umzubringen ist eine Seite. Dabei aber Unschuldige zu involvieren, die sich dann den Rest ihres Lebens schreckliche Vorwürfe machen, dass sie es hätten verhindern müssen, eine völlig Andere.
Vielleicht spielt aber auch mein spät geweckt Gewissen eine Rolle, die leise Stimme im Hinterkopf, die mich ständig drängt, weiter zu machen und nicht aufzugeben.
Sie macht mich wahnsinnig!
Endlich kommt die Schaffnerin und ich reiße deutlich meinen Arm hoch, um zu zeigen, dass ich bereit bin, auf meine Karte einen Stempel setzen zu lassen.
Sie nickt und läuft weiter.
Gut, dann eben beim nächsten Mal. Ich lehne mich zurück und sehe nach draußen.
Außerdem sah der Kerl oder das Weib, welchen Geschlechts die Person auch gewesen war, nicht sonderlich appetitlich aus.
Ne Menge roten Matsches wenn ihr mich fragt. Am ganzen Zug hat das geklebt!
Die Klamotten lagen in Fetzen umher und ich wäre fast auf ein Auge getreten. Deswegen konnte ich auch auf Anhieb nicht das Geschlecht ermitteln, da gab es einfach nichts mehr.
Ein paar Minuten habe ich überlegt, ob ich es mitnehmen sollte. Es war ein sehr schönes Auge. Die Iris war leuchtend blau und besaß silberne Linien, die sich von der Pupille nach außen zogen.
Andererseits wäre es auffällig gewesen, wenn das selbstmörderische Subjekt auf einmal ein Auge weniger hätte.
Ich höre die Absätze der Schaffnerin näher kommen und plötzlich innehalten. Als ich meine Körper auf fast akrobatische Weise verdrehe und hinter mich auf den Gang hinaus schaue, sehe ich sie an einem Schrank stehen und undefinierbare Sachen herausholen. Vermutlich das Zugessen.
Sie lässt das Rollo wieder runter rattern und schließt ab.
Als sie sich umdreht und zurückgeht, verdrehe ich Augen und lasse meinen Kopf auf den Boden fallen.
Wieder so ein Kunststück, das ich allerdings nur bringen kann, wenn niemand guckt. Denn es sieht so aus, als ob ich kotzen würde.
Und zum Protokoll, ich habe mir den Kopf nicht von den Schultern gerissen und auf den Boden geprellt wie einen Football und dabei "Touch Down" oder so gebrüllt.
Ich habe mich so schnell wie möglich weit nach unten gebeugt, bis meine Stirn den Boden berührt.
Der von Nahem betrachtet ziemlich ranzig aussieht. Obwohl der Anblick nicht annähernd so schrecklich ist wie der der Buchablagen unter den Tischen in der Schule. Mittlerweile wurden sie bei uns abmontiert. Endlich mal was Intelligentes von der Schulleiter. Ich bin froh, dass ich diese Bruchbude verlassen habe.
Langsam fängt mein Kopf an, sich merkwürdig schwer anzufühlen und ich richte mich wieder auf. Leider zu schnell.
"Ich muss kotzen!", murmel ich und stehe auf.
Ausgerechnet jetzt kommt die Schaffnerin wieder angekrochen.
"Muss aufs Klo!", teile ich ihr mit und schiebe mich an ihr vorbei.
Sie nickt wieder verständnisvoll.
"Ich komme dann nochmal!", sagt sie.
Nach drei Minuten in der Klokabine bin ich mir sicher, dass ich mein Mageninneres nicht freilassen muss. Die Toilette ist mir eh zu räudig.
Ich wasche mir die Hände und gehe zurück auf meinen Platz.
Weit und breit keine Schaffnerin in Sicht.
Mir soll's recht sein! Ich habe schon andere Sorgen.
Das Auge kommt mir wieder in den Sinn. Ich gehe anhand dieses Indizes davon aus, dass es sich um eine weibliche Person gehandelt haben muss.
Kein Mann hat so wundervolle Augen!
Die Stimme in meinem Kopf, die normale, die jeder hat, fängt an
"Behind this Hazel Eyes" zu singen. Ich weiß nicht einmal, woher sie das hat, abgesehen davon, dass das Auge blau gewesen ist.
Ich bin so in Gedanken versunken, um die Stimme zu stoppen, dass ich wieder völlig verpasse, wie die Schaffnerin wieder an mir vorbei sprintet. Egal, in zwei Minuten kommt meine Station.
Langsam stehe ich auf und stelle mich an die Tür.
Als der Zug in den kühlen Schatten der Bäume eintaucht, recke ich den Hals, um einen Blick auf die Teufelsbrücke zu erhaschen.
Orte, an denen viele Menschen gestorben sind, faszinieren mich.
Deswegen bin ich in den vergangenen Wochen, in denen ich keine Schule mehr hatte, die wichtigsten Schlachtorte und Kriegsstätten in Europa abgeklappert.
Nur in den KZ's bin ich nicht gewesen. Ich mag zwar herzlos sein, aber gefühlskalt bin ich nicht.
Es ist schon krank genug, dass ich von Massengräbern und dergleichen besessen bin, dass ich Gewalt anziehend finde, aber Genozid ist selbst für mich zu pervers.
Um Orte wie Auschwitz, Buchenwald, Dachau mache ich einen großen Bogen.
Ich glaube nicht, dass mich das früher abgeschreckt hätte, aber die verhasste Stimme in meinem Kopf, die so fürchterlich sanft und liebevoll sprechen kann, hat so ziemlich alles umgekrempelt, was ich bisher aufgebaut habe. Gestern habe ich sogar meiner Mutter ein 2-Cent Stück aufgehoben, das ihr runtergefallen war! Wir sind beide etwas sprachlos gewesen.
Der Zug wird langsamer und die Brücke kommt in Sicht.
Sie ist ziemlich alt, noch aus Gußeisen und sieht aus wie aus dem Märchen.
Langsam, um besser sehen zu können, gehe ich einen Schritt vor und versuche, mehr zu erkennen.
Allerdings macht mir der Zugführer einen Strich durch die Rechnung.
Die Notbremse geht los, die Räder kreischen und unwillkürlich beginnt der Zug sich in meinen Gedanken wie eine Raupe zu winden und aufzubäumen.
Ich krache gegen die Glaswand an der Seite, in der Flyer und Fahrpläne aushängen und spüre, wie sie zersplittert.
Gerade noch halte ich mich an einer Stange fest und ziehe mich hoch, da höre ich einen leisen Aufprall und rote Spritzer ziehen sich an den Zugfenstern entlang.
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Entschuldigt bitte das krasse Kapitel. Ich habe Gott sei Dank so etwas nie miterlebt und mir tun alle Menschen unendlich leid, denen so etwas zugestoßen ist, egal ob sie im Zug waren oder gesprungen sind. Aber in unserer Nähe verläuft eine Strecke, auf der das schon einige gemacht haben und auch die Teufelsbrücke ist nicht ausgedacht.
Ich hoffe, ich kann bald wieder updaten.
Bis bald:)
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