Kapitel 8
«Es ist ein Spiegel», sage ich leise und renne ohne Vorwarnung auf ihn zu. «Und nicht nur ein Spiegel; er ist identisch wie der Spiegel aus meinem Zimmer!»
Schon von weitem erkenne ich ihn sofort. Und sobald ich vor ihm stehe und mich selbst im Spiegelbild sehe, bestehen kein Zweifel mehr. Oben ist er geschwungen und hat rechts und links kleine Kugeln aus dem massiven, braunen Holz, voraus der ganze Rahmen besteht. Schnitzereien zieren das Holz und ich spüre schon in meinen Fingern, wie ich über das Holz streichle, wie ich es schon so oft getan habe, und an meine Mutter denke.
Und plötzlich fluten Bilder von ihr hoch. Ich selbst kann mich nicht mehr an sie erinnern, doch ich habe unzählige Stunden damit verbracht, mit meinem Vater Fotoalben anzugucken und seinen Erzählungen zu lauschen.
Eine Hand an meiner Schulter reisst vom Spiegel weg und hilflos stolpere ich zur Seite. Ich drehe mich um und da steht Seb, die Augen weit aufgerissen.
«W-weshalb bist du plötzlich doppelt?», fragt er beinahe atemlos und sieht wieder zum Spiegel, wobei seine Augen sich noch mehr weiten. «A-aber wo ist dein Doppelgänger jetzt?»
Ich würde fast lachen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass irgendetwas faul ist an dieser Sache. «Das ist keine Doppelgänger, das ist mein Spiegelbild. Auch du hast ein Spiegelbild.» Schnell packe ich ihn am Arm, ziehe ihn mit mir zum Spiegel und bleibe vor ihm stehen. Und dann verstehe ich die Welt nicht mehr.
Denn dort, wo eigentlich Seb stehen würde, ist im Spiegel nichts. Seb hat kein Spiegelbild. Meine Hand an seinem Arm sieht im Spiegelbild aus, als würde ich etwas Unsichtbares in der halten.
Langsam drehe ich mich um und sehe, dass die anderen hinter uns stehen und beunruhigt auf mein Spiegelbild starren. Alle sind da, aber niemand hat ein Spiegelbild.
«Das ist echt verrückt», murmle ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Seb nickt. «Ja, das ist es», haucht er. «Aber dieses ... Bild, welches man nicht mit einer Kamera aufnehmen muss, macht ja die genau gleichen Bewegungen wie du!»
«Das ist die Funktion eines Spiegels», erkläre ich. Dass ich das mal tun müsste, hätte ich nie gedacht. «Ein Spiegel reflektiert das, was vor ihm steht. Aber warum das für euch nicht gilt, weiss ich auch nicht.» Ich runzle die Stirn. «Habt ihr wirklich noch nie einen Spiegel gesehen? Ich meine, es gibt auch natürliche Spiegel, wenn eine Oberfläche ganz glatt ist, wie zum Beispiel Wasser. Oder Eis.» Fragend schaue ich in die Runde.
«Wasser tut das nicht», sagt Kim wie hypnotisiert. «Wasser ist matt. Alles ist matt.»
Ich schüttle den Kopf. «Das ist so verrückt», flüstere ich. «Dann ist die einzige Möglichkeit, euch selbst zu sehen, ein Bild zu machen.» Niemand antwortet, aber ich weiss, dass ich recht habe.
Ich muss meine Gedanken zuerst sortieren, bevor ich etwas anderes tue. Dazu drehe ich mich um und entferne mich einige Schritte vom Spiegel. Irgendetwas in meiner Welt muss passiert sein, dass mein ganz normaler Zimmerspiegel, der der Familie meiner Mutter gehört hat, zu einem Portal wurde und sich in diese andere Welt öffnete. Ich bin durch das Portal in diese Welt gereist, habe einen Teil meines Gedächtnisses verloren und über die Existenz einer Welt erfahren, in denen alle übernatürlich sind.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Leute hier einen höheren Zweck haben.
Nachdenklich lasse ich den Blick schweifen. Zuerst übersehe ich die Person, die dort zwischen den Bäumen steht. Doch dann stutze ich. Und schaue noch einmal genauer hin.
Eisblaue Augen durchbohren mich. Ich starre zurück und bin wie starr, denn ich kenne diesen Mann, der dort steht. Nur allzu gut kenne ich ihn.
Er sieht eins zu eins aus wie jemand, den ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit oder zur Uni am Bahnhof sehe. Wir warten auf den gleichen Zug, steigen beide ein und an der gleichen Station wieder aus. Doch früher oder später verschwindet er in einer Menge und ist unauffindbar.
Dies geht schon seit Monaten so. Und irgendetwas an ihm fasziniert mich ungemein. Vielleicht sind es die verstrubbelten, braunen Haare, die ihn so attraktiv machen, oder die mandelförmigen Augen, die geschwungenen Lippen, seine Ausstrahlung ... ich kann es nicht sagen. Aber es löst etwas in mir aus, das Bedürfnis, diesen fremden Menschen kennenzulernen. Ihn anzusprechen habe ich mir trotzdem noch nie getraut.
Und jetzt steht er einfach dort, zwischen den Bäumen, eine Hand an einem Baum abgestützt.
Was macht er hier?
Wie ferngesteuert weiche ich nach hinten aus, möchte Distanz zwischen uns bringen, aber kann meinen Blick trotzdem nicht von ihm lösen.
Und dann geschieht etwas, dass ich nicht beabsichtigt habe. Ich stosse gegen etwas, das am Boden liegt, wahrscheinlich ein Stein. Dadurch komme ich ins Stolpern, kann noch den Kopf wenden und sehe, wie ich seitlich direkt auf den Spiegel hinfalle. Die anderen realisieren zu spät, was passiert und können nur erschrocken ausrufen. Ich bereite mich innerlich auf den Aufprall vor, doch der kommt viel später als gedacht. Genauer gesagt, tauche ich in den Spiegel und lande auf meinem Zimmerboden.
Anzahl Wörter: 812
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