Kapitel 6
Endlose Flure und Treppen später wechselt es von schwummrigen Deckenlampen zu moderner Beleuchtung. Der Ganz wird breiter und auf einmal spuckt er uns ohne Vorwarnung in einer grossen Halle aus.
Zuerst muss ich ein wenig blinzeln, um mich an das helle Tageslicht zu gewöhnen, welches nicht zu vergleichen ist mit der künstlichen Belichtung. Meine Augen geben schliesslich ihr Einverständnis, mich umzublicken, und so befasse ich mich mit der kargen Ausstattung der Halle. Aber etwas anderes kann ich auch nicht erwarten, da es ja ein ehemaliges Gefängnis zu sein scheint. Nur noch die Empfangstresen stehen an der Wand.
Das Spannende spielt sich sowieso draussen ab, habe ich das Gefühl. Die anderen sind stehen geblieben und lassen mich teilweise bereitwillig und widerwillig ans Fenster treten, welches die gesamte Wand von vorne ausmacht. Was ich sehe, ist so tröstlich vertraut und anders zur gleichen Zeit, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Ich stosse die Eingangstüre auf uns trete nach draussen.
Auf der Strasse direkt vor mir ist dichter Verkehr. Nach den Geräuschen nach zu beurteilen sind die Autos und Fahrzeuge zu einer Hälfte elektrisch, zur anderen Hälfte immer noch benzinbedürftig. Einkaufsläden und Häuser säumen die Strasse, bilden Gassen in jede Richtung. Die Gebäude sehen so aus, wie ich sie kenne, plus ein Ticken sauberer, moderner. Sie sind gleichzeitig charmant und nützlich, gehen in die Höhe anstatt in die Breite, ohne aufdringlich zu wirken.
Und die Passanten. Ich glaube, die Leute, die ich hier sehe, sind am beeindruckendsten. Denn hier laufen Leute rum, die verschiedener nicht sein könnten. Dort sehe ich eine Frau, die mit einem Reh spazieren geht. Ein kleiner Junge jongliert während dem Gehen mit 8 Bällen gleichzeitig. Ein Mann rennt so schnell vorbei, dass ich ihn beinahe nicht erkennen konnte.
Und andere wiederrum sehen ganz normal aus. Doch ich bin davon überzeugt, dass sie eine versteckte Gabe besitzen, so wie Maddie und Kim.
Es ist eine ganz normale Strasse und doch bin ich so überwältigt. Von hinten kommen Anastasia, Seb, Maddie und Kim und stellen sich neben mich. Für eine Zeit lang stehen wir nur so da und sie lassen mich gewähren, alles in mir aufzusaugen.
«Das ist für euch normal», flüstere ich und blicke einem älteren Herr nach, der halb Hirsch und halb Mensch ist. «In der Tat», gibt Anastasia sanft zur Antwort. «Aber ich denke, für dich nicht. Und das bedeutet, dass wir beide nicht wussten, dass da mehr ist, als wir dachten.»
«Aber wenn das wirklich hier eure Realität ist ... wie nennt ihr sie?»
«Erde», lautet die schlichte Antwort von Maddie. Ich sehe ihr Seitenprofil mit den Zöpfchen an. «Erde? So heisst meine Welt auch.» Zuerst runzelt sie die Stirn, dann wendet sie ihren Kopf zu mir. «Was ist denn euer Ziel oder Zweck, so zu sein?»
Verständnislos schaut mich Maddie an. «Wir haben keinen Zweck ...? Wir sind einfach so. Hör mal, wir wissen es nicht und haben es bis jetzt auch nicht hinterfragt. Ich meine, für uns ist das echt. Für dich nicht, aber wir haben uns noch hie auch je Gedanken darüber gemacht, es könnte nicht so sein.» Irgendwie leuchtet das ein.
«Also habt ihr diese Begabungen seit Geburt», stelle ich fest. Maddie nickt. «Entweder wir haben Begabungen oder wollen die Zerstörung.» Bei diesen Worten verdunkeln sich ihre Augen.
Verwundert bemerke ich, dass auch dem Gesichtsausdrucke der anderen verändern. Sie sehen wütend aus. Seb seufzt und erklärt: «Mit Zerstörung meinen wir diejenigen, die in den Alben sind.» «Der Ort, von dem ihr dachtet, dass ich dort herkomme», schlussfolgere ich. Er nickt.
«Seit der Geburt haben wir Begabungen. Diese sind alle in ihrer eigenen Art stark und mächtig. Bis zum 18. Geburtstag kann man aber niemandem damit schaden. Doch sobald man die Mündigkeit erreicht, kann man sich dazu entscheiden, mit der Begabung zu schaden oder Gutes zu tun oder zumindest in einer Gemeinschaft zu leben. Und jene, die sich eben für die andere Seite entscheiden, werden aus dieser Welt verbannt.»
«Ich denke, das ist genug an Informationen zu den Alben für den Moment», meint Maddie, obwohl mir gerade tausend Fragen zu diesen Alben in den Sinn kommen. Ich sehe sie ein wenig verklärt an, nicke dann aber widerwillig und lenke das Thema auf etwas, das mich schon die ganze Zeit beschäftigt. «Schön und gut, ihr konntet mich davon überzeugen, dass das keine special effects sind, sondern einfach eine andere Welt, eine andere Realität. Aber was mache ich hier? Weshalb bin ich da?»
«Wenn wir das bloss wüssten», seufzt Kim leise. «Deshalb wollten wir dich ja verhören. Um herauszufinden, weshalb du bei uns gelandet bist. Und woher dieses merkwürdige Ding kommt.»
«Was für ein Ding?» Sie reagieren mit ratlosem Schulterzucken auf meine Frage.
«Das wissen wir eben nicht», antwortet Maddie. «Aber es gibt ein Beweisvideo von einer Passantin», fährt Maddie fort und beginnt auf ihrem Handy herumzutippen, bis sie es mir unter die Nase hält. Zögerlich greife ich danach und starte das Video, dessen Hauptrolle ich spiele, ohne die Erinnerungen daran zu besitzen.
Anzahl Wörter: 826
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