Kapitel 5
Mit diesen Worten löst sich der Druck um meine Hand- und Fussgelenke. Erstaunt blicke ich nach unten, nur um zu sehen, wie sich die Ranken widerwillig von mir lösen, zu Boden fallen uns reglos liegen bleiben.
Sogleich fühle ich mich zehnmal gelöster als zuvor, da ich nun meine Arme und Beine wieder bewegen kann. Ich stehe sofort auf und dies schein den drei Sebs gar nicht zu gefallen.
«Okay, aber für den Anfang werde ich ein Auge auf dich werfen», mahnt er und alle drei machen einen warnenden Schritt auf mich zu. Beflügelt von meiner neu gewonnenen Freiheit verschränke ich die Arme und erwidere: «Und wenn auch alle sechs Augen von euch auf mich gerichtet wären, könnte es mich nicht mehr kümmern.»
Seb und Maddie wechseln einen belustigten Blick und etwas sagt mir, dass sie den gleichen Gedanken teilen. Und im nächsten Moment befindet sich meine Kinnlade schon wieder unten.
Denn auf einmal ist da nur noch Seb. Seine zwei Brüder haben sich in Luft aufgelöst. Einfach so. Und dann sind sie plötzlich wieder da. Sie scheinen sich aus der Luft zu materialisieren. Aber da ist einer mehr. Noch einer. Ein sechster Seb taucht auf, bis es ein Dutzend sind.
«Was zur ...», entfährt mir und ich lasse mich zurück auf den Stuhl fallen. Entgeistert wandert mein Blick von einem Seb zum anderen und zum ersten Mal sehe ich Sebs Lachen. Das beängstigende dabei ist, dass mich zwölf Sebs angrinsen.
Das ist zu viel für mich.
Ich halte mir meine Hände vor Gesicht. «Bitte, hör einfach auf! Ich kann das alles nicht mehr!»
Ich höre ein Lachen, das sich nach Maddie anhört. Einige Sekunden warte ich ab, bis ich mich wieder hervortraue. Nur noch ein Seb steht dort, aber das genügt mir vollkommen.
«Wenn ihr also keine Entführer seid und mir vertraut, vertraue ich euch auch», stelle ich klar und füge hinzu: «Aber ihr müsst damit aufhören, unberechenbare Sachen aus dem Hut zu ziehen.»
Alle nicken, und so habe ich eben etwas beschlossen, dass völlig wahnsinnig ist: diesen Menschen, dessen Fähigkeiten eigentlich gar nicht existieren dürften, zu vertrauen.
«Der erste Schritt wird es wohl trotzdem sein, herauszufinden, was uns unterscheidet und was wir gemeinsam haben», sagt Kim leise und sieht mich freundlich an. «Ich muss dich zustimmen», antworte ich. «Wenn ich gleich beginnen darf: bei uns auf der Erde sind wir alle ... normal. Wir können solche Dinge nicht.»
«Was für Dinge?», Maddie sieht mich fragend an. «Unsere Begabungen?» Ich nicke. «Wie geht denn das? Leben ohne eine bestimmte Begabung?»
«Wir sind halt ... normal», lautet meine Antwort, die sich selbst in meinen Ohren etwas schwach anhört. Aber wie soll ich es sonst ausdrücken? «Wenn man es so betrachtet, könnte man sagen, dass wir keine übernatürlichen Dinge können.»
Die anderen tauschen schon wieder Blicke aus und Seb fragt nach: «Das ist übernatürlich?»
Ich starre ihn an. Mir wird bewusst, dass wir alle nicht dieselbe Denkweise haben. Was auch immer sie sind oder besitzen ... für sie scheint es normal zu sein. Das ist echt verrückt.
«Ich glaube, wir müssen es ihr zeigen», mischt sich die Waldlady ein. Seb und Maddie sehen zuerst so aus, als ob sie widersprechen möchten. Doch Kim kommt ihnen zuvor und stimmt ihr leise zu. «Ja, das finde ich auch.» Sie geben nach und nicken ebenfalls.
Die Augen von Waldlady finden meine. «Folge mir.» Damit schreitet sie davon und unter den wartenden Blicken der anderen stehe ich auf, um ihr hinterherzugehen. Und zum ersten Mal sehe ich die Rückwand dieses Betonkastens. Zwei riesige Lampen schicken genug Licht in den Raum, um ihn vollständig zu beleuchten. In der Mitte der Wand befindet sich die Türe, welche die Waldlady nun öffnet. Mit den anderen hinter mir trete ich hinaus in den Gang, der dahinter liegt und so schmal ist, dass man hintereinander gehen muss. Ein Luftzug spüre ich an meinen Händen, welcher mir verratet, dass es in der Nähe einen Ausgang nach draussen geben muss.
«Mein Name ist übrigens Anastasia», stellt sich die Waldlady vor. Ich betrachte ihren schönen Mantel und finde, dieser Name passt sehr gut zu ihr. «Aurelia Lynn Clarkson, aber ich werde Relly genannt.» «Schön, dass wir dich endlich beim Namen nennen können», ertönt die nette Stimme von Kim hinter mir. «Ich heisse Kim, falls du es vergessen haben solltest.» Ich muss lächeln.
«Maddison und alle sagen mir Maddie», meldet sich die selbstbewusste Blondine zu Wort, dicht gefolgt von Sebs Stimme: «Sebastian!»
Gerne würde ich sagen, es ist schön, sie kennenzulernen, aber eigentlich ist an der Sache ganz und gar nichts schön. Deshalb lasse ich es unkommentiert und wandere durch diesen schmalen Gang, der einige Kurven macht, bis eine Treppe folgt. Ab und zu sind an den Seiten einige dieser Türen, die gleich aussehen wie jene, die in meinen Betonklotz geführt hat. Oben an der Treppe geht der Gang einfach weiter und der Weg erscheint mir endlos.
«Das hier war früher ein Gefängnis. Die Insassen sind jetzt nicht mehr hier.» Aber dafür an einem anderen Ort, ist der ungesagte Satz, der Anastasia in der Luft schweben lässt. Ich muss hart schlucken. Plötzlich erscheint mir diese ganze Aktion wieder gefährlicher und ich frage mich, was ich hier eigentlich tue.
Endlose Flure und Treppen später wechselt es von schwummrigen Deckenlampen zu moderner Beleuchtung. Der Ganz wird breiter und auf einmal spuckt er uns ohne Vorwarnung in einer grossen Halle aus.
Anzahl Wörter: 857
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