13
In einer mondhellen Nacht im Juni war es soweit. Die Ebbe würde gegen elf Uhr nachts eintreten, Hinrichs Bruder und sein Vater waren auf Nachtfischfang, die Großmutter war krank und hütete schon seit Tagen das Bett.
Als Hinrich am Abend nach Hause kam - seit einigen Wochen arbeitete er als Handlanger auf dem Bau, um ein wenig Geld dazu zu verdienen - stellte Anna ihm nach dem Abendessen einen großen Becher mit warmem Kakao auf den Tisch. Er sah sie ein wenig verwundert an, aber als sie nichts weiter sagte und anfing das Geschirr abzuräumen, nahm er den Becher und trank ihn in einem Zug aus.
Anna ließ das Geschirrtuch fallen, als die im Lexikon beschriebene Wirkung des Gifts einsetzte, und lief in die Schlafkammer. Sie starrte auf die Wiege, die für das tote Baby gedacht gewesen war und in der bald ein lebendiges Kind liegen sollte, während sie sich die Ohren zuhielt, um die Geräusche aus der Küche nicht hören zu müssen. Als alles still war, öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte hinein. Hinrich lag in verkrampfter Haltung auf dem Boden, beide Hände am Hals, den Mund weit aufgerissen, die Augen verdreht. Atemlähmung, hatte im Lexikon gestanden. Anna horchte auf seinen Herzschlag. Nichts. Er war tot.
Noch heute hatte Anna jede Einzelheit vor Augen von dem, was nun folgte. Sie wickelte den Körper in ein Bettlaken und hievte ihn auf die Schubkarre, die sie durch die Haustür bis zur Küche geschoben hatte. Über eine Sandbank, die einen einigermaßen festen Untergrund bot, schob sie die Karre mit der Leiche samt einem Spaten hinaus aufs Watt, so weit sie konnte. Am Himmel trieb der Nordwestwind unablässig Wolken ins Land und der Halbmond tauchte das Wattenmeer in ein gespenstisches silbriges Licht. An Land war alles dunkel. Keine Menschenseele war zu sehen.
Als sie glaubte, weit genug aufs Watt hinaus gefahren zu sein, hob Anna eine Grube aus, die tief genug war, um den leblosen Körper aufzunehmen. Es kostete sie alle Kraft, die sie aufbringen konnte, weil der Sand und der Schlick so feucht und zäh waren. Zuletzt ließ sie den Leichnam in die Grube fallen und schaufelte sie wieder zu.
Die Arbeit hatte mehrere Stunden gedauert, und als Anna endlich fertig war, kam die Flut. Sie stellte die Schubkarre wieder an ihren gewohnten Platz, säuberte den Spaten und hängte ihn an den Haken im Schuppen, wo er hingehörte. Am Spülstein in der Küche wusch sie sich den Schlick und den Schweiß vom Körper. Im Osten dämmerte es schon, als sie ins Bett ging und sofort in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf fiel.
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