Das Geschenk des Lebens
Zwei Mondwechsel später
Der breite Nilstrom floss gemächlich dahin. Fischer ruderten in den frühen Morgenstunden schon auf den Fluss hinaus, um in der Ruhe des violetten Himmels auf ihren Papyrusbooten der großen Hitze zu entgehen, die über Memphis einbrechen würde, sobald der Gott Aton mit seiner Sonnenbarke über den Himmel fuhr.
Die Stadt schien noch zu schlafen. In den göttlichen Tempeln waren einige übereifrige Priester am Beten und in den Schreiberstuben brütete so mancher Lehrling über einer Papyrusrolle mit Hieroglyphen, die es zu kopieren galt.
Im königlichen Palast brütete auch Eje, Wesir von Kemet und inoffizieller Herrscher des ägyptischen Reiches über seinem Schreibtisch. Es wurmte ihn, dass dieses Kind, das sich Pharao schimpfte, begann seinen Rat zu missachten und sich den Entscheidungen der Mächtigen des Landes zu widersetzen.
Seit der Junge die königliche Residenz in Theben verlassen hatte, war er nachdenklich und still. Tutanchamun brütete oft stundenlang über etwas, aber er vertraute niemandem an, was ihn so sehr beschäftigte. Nicht einmal Anchesenamun, die Hohe königliche Gemahlin konnte erahnen was in ihrem Ehemann und Bruder vor sich ging.
In der kühlen morgendlichen Brise Memphis' wachte auch schon die Geschichtenerzählerin Bīsa-Shalani, mit dunklen Augenringen und einem müden Lächeln, über den Schlaf des kleinen Gahiji. Der Säugling hatte die ganze Nacht geschrien und Shalani, wie auch Mafuane einige Sorgen bereitet. Die beiden jungen Frauen betreuten mit fünf weiteren Schwestern, zumindest waren sie dies, trotz fehlender Blutsverwandtschaft, füreinander, das Waisenhaus in Memphis.
Es war ungewöhnlich, dass Frauen sich lieber um Straßenkinder kümmerten, anstatt eine eigene ehrbare und gottesfürchtige Familie zu gründen.
Aber die sieben Schwestern hatten sich mit Leib und Seele ganz und gar ihren Schützlingen verschrieben, wobei das Waisenhaus langsam aber sicher aus allen Nähten platzte, da die Zahl der Straßenkinder immer weiter zunahm. Es waren bedauernswerte Seelen, verlassen und verstoßen, da sie unehelich waren, oder finanziell nicht mehr zu tragen.
Auch das Waisenhaus hatte nicht viel zu bieten, aber immerhin ein Dach über dem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten und sechs Schwestern, die sich wie Mütter liebevoll um all ihre Kinder kümmerten.
„Na mein kleiner Löwe, da hast du wohl die ganze Nacht gebrüllt. Genauso wie Seth noch immer in der Wüste brüllt, weil Horus ihn aus dem Hoheitsgebiet der Götter verbannte", erzählte die junge Frau sanft und wiegte das Kind in ihren Armen, bevor sie ihn sanft zu seiner Decke trug und ihn dort zudeckte.
Doch sobald er lag, begann Gahiji von Neuem seine Imitation einer Raubkatze zum Besten zu geben.
Shalani seufzte ergeben und hob ihn wieder hoch. Schunkelnd lief sie mit ihm eine Treppe nach oben und ließ sich dann auf einen dreibeinigen Schemel fallen. Schlaf würde heute wohl ein Wunschtraum bleiben.
Ob der Pharao nun auch seine Fenster bewachen ließ? Denkbar wäre es.
Nach dem gescheiterten Attentat war sie unter dem Decknamen Ka nach Memphis zurückgekehrt und hatte sich dann wieder als Geschichtenerzählerin ihrem Schwesternchor angeschlossen. Sie hatte auch erzählt ihre Familie in Heliopolis besucht zu haben, einerseits um ihre Freundinnen und Vertrauten zu schützen und andererseits hatte es Fragen vermieden.
Aber die durchdringenden Augen des Pharao konnte sie auch nach all der Zeit nicht aus ihren Gedanken verbannen. Er würde sich ihre Worte zu Herzen nehmen und ein guter König werden, da war Shalani sicher.
Nachdem die Sonne gleißend über Memphis aufgegangen und die Stadt endgültig erwacht war, konnte man die friedliche Metropole an der Lebensader Ägyptens kaum wieder erkennen.
Schwarze Rauchschwaden stiegen von den Tempeln und von allen Stadtteilen auf, der Geruch von Brot und Bier hing schwer in der Luft und die Menschen summten wie in einem riesigen Bienenstock durch die Straßen.
Der Goldschmied Sutekh schwitzte in den heißen Feuern der Schmiede und fertigte ein goldenes Halsband für Königin Anchesenamun, im Auftrag des Pharao persönlich.
Khnemu der Bildhauer bearbeitete eine Büste des großen Haremhab und Feldherr selbst drillte sein Heer auf äußersten Gehorsam.
In den Tempeln erschallten die lauten Choralgesänge der Priester und im Duft von Weihrauch und Bienenwachs, opferten Hunderte und Aberhunderte ihr Hab und Gut, um den Göttern zu huldigen.
Das Waisenhaus am Rande des Elendviertels wurde auch von morgendlicher Betriebsamkeit heimgesucht.
Sieben verzweifelte Schwestern versuchten vergeblich dreiundsechzig Kinder zu bändigen, was nur sehr schwer möglich war, denn es galt sich anzukleiden und dann den Amuntempel aufzusuchen.
Mafuane plagte sich mit sechs bockigen Kleinkindern ab, die alle um keinen Preis das Haus verlassen wollten und wenn der Magen noch so sehr knurrte.
Echidna hätte ihrer Schwester gern geholfen, doch wurde sie selbst von acht ungezogenen Blagen an den Rande des Wahnsinns getrieben, da keines ihrer Mädchen in eine Tunika schlüpfen wollte.
Chione, Beb und Auset kümmerten sich um die unzähligen Schützlinge im Schulkindalter, die zwar etwas leichter zu lenken, dafür aber untereinander umso patziger waren.
Schwester Oseye betreute mit Hingabe die Säuglinge des Hauses, da Shalani nach ihrer Nachtschicht zu ausgelaugt war, um die Schreie noch weiter zu ertragen. Sie hatte die dankbare Aufgabe die Jugendlichen zu betreuen, die mittlerweile reif genug waren, sich anstandslos anzukleiden und dann geduldig den anderen Betreuerinnen zur Hand zu gehen.
In Reih und Glied wie Soldaten marschierten die Bewohner des Waisenhauses durch Memphis' Gassen, wobei sie auf die echten Soldaten der Stadtwache und die königliche Palastwache wohl wirken mussten, wie ein Haufen aufgescheuchter Nilgänse.
Die Großen hatten jeweils zwei Kleinere an die Hand genommen und die sieben Schwestern trugen jeweils einen oder zwei Säuglinge in ihren Armen, damit in dem Gedränge auch ja niemand verloren ging.
Der kleine Konvoi steuerte zielsicher den Amuntempel an, in dem auch Pharao Tutanchamun an diesem Morgen ein Opfer gebracht hatte. Doch all dies zu so früher Stunde, dass er unbehelligt durch die Stadt gehen konnte, von seinen Wachen begleitet.
Was das Volk nicht ahnen konnte, war der große Festzug, der morgen anstand. Ein Triumphzug nicht zu Ehren Haremhebs oder eines anderen Würdenträgers, nein, Ägyptens Pharao würde sich zum ersten Mal seinem Volk präsentieren und zeigen, dass er allein die Geschicke seiner Untertanen führte.
Ahmose und Eje hatten versucht ihn mit großväterlicher Strenge davon zu überzeugen, dass diese Handlung überstürzt war. Die Spannungen zwischen Ägyptens Nachbarländern, Assyrien, Nubien und Phönizien zum schwarzen Land seien gefährlich und man könne es als Provokation werten, wenn der Pharao sich plötzlich in diesen Zeiten dem Volk offenbarte und durch das Land reiste. Von den rebellierenden Nomadenstämmen mal abgesehen, die nur unter Tutanchamuns Vater, Echnaton, ihren Frieden fanden, der wie auch sie nur einen Gott verehrte.
Es waren dunkle Zeiten gewesen, als der widerspenstige Erstgeborene Amenophis' III auf den Thron folgte und den Amunkult aus Ägypten verbannte. Stattdessen führte er Aton als einzig waren Gott ein und diese Ansicht spaltete das Land noch immer.
Der oberste Heeresführer Haremheb hatte seinen Pharao ein trotziges Kind geschimpft, dass im Angesicht drohender Gefahr noch immer um jeden Preis seinen Willen durchsetzen wollte. Damit hatte der Kriegsheld nicht nur seine Stellung, sondern auch sein Leben riskiert, denn nicht viele, die den Pharao beleidigten, überlebten diese Tat.
Tutanchamun hatte seinen Beratern still Gehör geschenkt und lange das Für und Wider abgewägt, war aber letztlich zu dem Schluss gekommen, dass es für das schwarze Land, wie auch sein Volk am besten wäre, wenn es sich geeint sah unter einem Pharao, um jedem Feind geschlossen entgegen zu stehen.
Eje und Ahmose hatten seine Entscheidung mit versteinerter Miene hingenommen und ihren Pharao walten lassen, wie er es für Recht befand.
Haremheb hatte drohend den Zeigefinger gehoben und gerufen, dass diese Entscheidung schwere Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Wieder ein Frevel, den man dem General verzieh, da er leider für Ägyptens Armee unverzichtbar war.
Die Tempelpriester musterten die Frauen überheblich und auch leicht angeekelt, als trügen sie alle möglichen Pestilenzen mit sich. Zudem war man in Aufruhr, da diese Weiber mit ihren Blagen es sich anmaßten, Nahrungsrationen zu verlangen, ohne Opfergaben darzubringen.
„Das nächste Mal opfern wir Amun, Osiris und Isis wieder. Nur leider besitzen wir nichts als unsere Kinder und das Heim", versprach Mafuane mit einem Lächeln. Sie war mit den lieben, braunen Augen und ihrem frommen Gesicht immer die Schwester, die zu den hochmütigen und ungeduldigen Amun-Re-Priestern sprach. Oseye und Chione beteuerten die Worte ihrer Schwester mit ebenso frommen Gesten, sodass alle eine Ration aus den Tempelsilos erhielten.
Sowie der Vormittag voranschritt, wurde es immer belebter in Memphis. Die Basare öffneten und man hörte das Feilschen der Händler durch alle Stadtteile, es schallte sogar bis zu den Zeltsiedlungen der Bauern, die den fruchtbaren Nilschlamm ausnutzten und in der Erntesaison bei ihren Feldern wachten. Dann zogen sie heim zu ihren Familien, die in kleinen Gemeinden meist in der Wüste lebten, bis zur nächsten Nilschwemme, die wieder Fruchtbarkeit und Leben in den Boden brachte.
Auch im Waisenhaus ging alles seinen gewohnten Trott.
Auset, Echidna und Beb gingen mit den Kindern zum Nil. Dort erlernten die Jungen von den Fischern ihr Handwerk, um später eine Familie ernähren zu können.
Mit den Mädchen wurde zuerst die Wäsche im Fluss gewaschen und nach dem Trocknen ausgebessert. Unter den strengen Blicken der Aufseherinnen und anderen Mütter, lernten die Mädchen schnell und arbeiteten emsig daran die Stiche gleichmäßig und die Nähte fest zu setzen.
Manchmal schwamm eines von Sobeks majestätischen Krokodilen vorbei. Dann wimmerten die Mädchen vor Angst. Die Jugendlichen im heiratsfähigen Alter wussten damit die leichtsinnigen Jungen herauszufordern, die daraufhin begannen, tollkühn und unbesonnen, Steine und Stöcke nach den Reptilien zu werfen, bis die Alten sie kräftig am Ohr zogen und wieder an die Arbeit schickten.
Das waren die unbeschwerten Nachmittage für Kinder und auch Schwestern, die allesamt ihren Spaß an dem schönen Wetter und dem kühlen Nass hatten.
In der Stadt blieben dann meistens Mafuane und Chione daheim. Sie werkelten, putzten und behüteten dabei die Säuglinge, wie auch die Jugendlichen, denen sie versuchten das Nötigste beizubringen. Neben der alltäglichen Hausarbeit sollten ihre Kinder auch darauf vorbereitet sein auf dem Markt zu feilschen, oder ein wenig zu rechnen, wenn es um Haushaltsplanung und monatliche Abgaben ging. Das war dann immer ein lustiges Beieinander, denn Mafuane und Chione waren herzensgute Seelen, von Bastet mit Leben und Frohsinn beschenkt, die es liebten zu lachen. Während sie putzten, kochten und die Säuglinge hüteten, führten sie immer wieder kleine Schauspielereien auf, die alle zum Lachen brachten.
So waren sie zum Beispiel das alte, durchtriebene Marktweib Yente und die hochnäsige, aber kluge Edelfrau Nefertiri, die um ein Stück Leinen feilschten, oder Baniti, der hinterlistige Steuereintreiber und Djoser, der gutmütige Bauer, die einander um die Abgaben betrogen.
Während unter den Kindern und den verbliebenen fünf Schwestern zumeist Heiterkeit und Harmonie herrschten, mussten die übrigen beiden für ein monatliches Einkommen sorgen, denn nur von den Rationen der Tempelsilos konnte man keine siebzig Mäuler stopfen.
Oseye wirtschaftete in einem Schankhaus im Arbeiterviertel der Stadt.
Das Mädchen war durchaus bevorteiligt in dieser Branche, schon allein durch ihr schönes Gesicht und den aufreizenden Körper.
Die Männer zahlten ihr absichtlich ein wenig mehr, wenn sie sich für kurze Zeit auf deren Schoß niederließ, oder einfach heiter lächelte. Man konnte es ihnen nicht verübeln, denn wer Oseye sah, der dachte des Öfteren sie sei von königlichem Blut und wem konnte man es verübeln? Ein herzförmiges Gesicht, aus denen braune Augen lieb in die Welt blickten, volle Lippen luden zum Küssen ein und ihre schwarze Haarpracht machte alle Frauen blass vor Neid.
Es war gut, dass Oseye in der Schänke arbeitete, denn Shalani war im Gegensatz zu ihr nicht mit Schönheit geschlagen.
Sie war den Männern zu bissig und blickte zu ernst drein. Alles in allem war sie vermutlich genau gemacht für den anderen Berufsweg, den sie von Hause aus gewählt hatte. Meist war diese Tätigkeit auch sehr einträglich, zumindest dann, wenn sie nicht plötzlich einen Schub a Mitgefühl bekam und ihr Opfer verschonte.
Glücklicherweise war derartiges erst einmal vorgekommen, dafür aber bei ihrem vermutlich wichtigsten Auftrag.
Tagsüber trieb sie sich meist auf den Basaren herum und auf den belebten Straßen der Stadt, denn in großen Menschenmengen fühlten Memphis' Bewohner sich sicher und sie achteten nicht auf die Wölfe im Schafspelz, die nur darauf lauerten ihren Opfern die Taschen auszurauben.
Die Wertgegenstände und das Geld, welche sie hier erbeutete, dienten den Schwestern als eiserne Rücklage, da keine der Frauen leichtfertig gestohlenes Geld ausgab.
Shalani wanderte langsam durch die Gassen und ließ die unzähligen Sinneseindrücke Aufsicht herabregnen.
Es roch nach Gewürzen wie Safran, Salz, Pfeffer, Kardamom und Zimt. Ein scharfer aber leicht süßer Geruch, der sich beißend in der Nase festsetzte. Unter das Scharfe, mischte sich noch der intensive Geruch nach Brot, welches von allen möglichen Händlern, an allen Ecken und Enden des Marktes feilgeboten wurde.
Auf den Tischen lag ein Angebot aus Stoffen, Schmuck und Kosmetik, die um die Wette leuchteten und strahlten.
„Seide! Feinste orientalische Seide, eines Königs würdig!", schrie ihr jemand ins Ohr.
„Ägyptisches Leinen! Unterstützt die eigene Wirtschaft!", pries ein anderer.
Shalani wanderte an den Tischen vorbei und ließ ihre Finger vorsichtig über die Ware gleiten. Die Kinder könnten langsam wieder neue Kleidung gebrauchen, sinnierte sie und fasste die Stoffballen mit Leinen ins Auge.
Mit einem Poltern fielen ihre Ziele zu Boden und Shalani kniete sofort nieder, um dem Händler zu helfen.
Von Staub und Wüstensand etwas verdreckt wurde die Ware sofort wieder auf den Tische gestapelt und während der füllige Mann, mittleren Alters verzweifelt seine ergrauten Haare raufte, nutzte sie ihre Chance einige Stoffbahnen in ihrer Umhängetasche verschwinden zu lassen.
„He! Die Kleine stiehlt ja! Wache! Wache! Dort, das Mädchen mit dem Zopf!"
Verdammt!
Shalani raffte sofort ihre Habe zusammen und sprintete los, die Rufe und Schritte der Stadtwache im Nacken.
Schwitzend rannte sie in die Menschenmenge und suchte schluckend nach einem Ausweg, oder einer Nische. Vergeblich.
Der große Basar war auf einem weiten, offenen Forum angesiedelt, das nur wenige Versteckmöglichkeiten bot.
Deswegen rannte Shalani so schnell sie konnte und betete zu Amun-Re, er möge doch so gütig sein und ihr einen Ausweg offenbaren.
Wenig umsichtig rempelte sie alle Menschen zur Seite, die ihr im Weg standen.
„Haltet die Diebin!", brüllte jemand hinter ihr und Shalani legte mit zitternden Händen einen Zahn zu.
Ein hünenhafter Mann stellte sich ihr in den Weg und verschränkte seine breiten, vernarbten Arme vor der Brust. Shalani versuchte nach links auszubrechen, aber der Mann packte sie ungnädig am Arm und brummte etwas, das sich stark nach „verdammte Straßendiebe" anhörte.
Keuchend schaute sie sich um und entdeckte die Wachsoldaten, die ein gutes Stück weiter hinten, die Menge teilten.
Der Mann hielt sie heftig am Oberarm fest und löste seinen Griff auch nicht durch Zappeln, Treten und Beißen.
Man konnte der Geschichtenerzählerin Bīsa-Shalani eine Menge nachsagen. Eine kleine Statur, zu viel Mitleid, zu wenig Ausdauer, aber ihr rechter Haken war hart und traf vor allem unerwartet, deswegen war ihr Peiniger auch zurückgewichen und hatte seinen Griff erschrocken gelockert.
Shalani packte die Gelegenheit am Schopf und riss sich erleichtert los.
Wie ein geölter Blitz schoss sie durch die Menge, schubste rücksichtslos die Leute beiseite und schlug Haken, wie ein Wüstenschakal.
Schon gar nicht mehr auf etwaige Verfolger oder Hindernisse achtend, hievte sie sich hektisch atmend auf ein Dach und duckte sich hinter die Mauer.
Unten auf der Straße brüllte jemand barsch Befehle, jedoch so leise, dass man sie gar nicht verstand.
Schnaufend wartete sie ab.
Lange.
Während sie wartete, zogen Wolken am Himmel vorbei, die Sonne neigte sich langsam gen Westen und der Lärm auf den Straßen nahm langsam ab.
Die Straße war mittlerweile leer, Shalani musste es wissen, schließlich hatte sie sich oft genug vergewissert, dass auch niemand mehr auf sie lauerte. Wenn es abends wurde, dann pilgerten die Menschen wieder in die Tempel, um Opfergaben darzubringen, zu beten und ihre Getreideration abzuholen.
Sie mochte Memphis in den Abendstunden. Dann wehte vom Nilufer her immer ein laues Lüftchen durch die menschenleeren Gassen und sie konnte, von Dieben und Raufbolden unbehelligt, durch die Stadt schlendern. Einer gewissen Ironie entbehrte dies natürlich nicht, schließlich war sie selbst einer dieser Raufbolde und Diebe.
Mit einem Satz schwang die junge Frau sich von dem niedrigen Dach und kam hockend auf der Straße auf. In der Umhängetasche noch immer die Stoffbahnen.
Während sie den Markt und die Basare hinter sich ließ, betrachtete sie wieder die Architektur der Stadt.
Eines musste man dem Pharao lassen, er kümmerte sich darum, dass die Stadt keinen Makel hatte. Die Gebäude aus rotem Sandstein wurden regelmäßig saniert und Fresken, sowie Malereien restauriert.
Über alledem ragten der königliche Palast und der Ptah-Tempel, mahnend und unheimlich schön, in den Himmel.
Ptah war Gott des Handwerks und Patron von Memphis, weswegen sein Tempel auch besonders prachtvoll geschmückt war.
Shalani verließ die gesäumte Allee und schlenderte nach unten an den Nil. Sie marschierte durch Rhododendren und Palmen, ließ die vielbesuchten Strände hinter sich und ließ sich auf einem einsamen Felsen nieder, der aus dem Wasser ragte.
Hier unten am Strom des ewigen Lebens, wo die Zeit verging wie im Fluge und doch jeder Tag gleich schien, wo Jahr um Jahr die Nilschwemme fruchtbaren Schlamm auf die Felder spülte und Bauern Nilschwemme um Nilschwemme vom Landesinneren an den Nil zogen, um ihre Felder zu bestellen. Hier unten war sie ihren Göttern näher, als die Menschenmassen in ihren Tempeln.
Hinter ihr raschelte es in den Rhododendren.
Shalani drehte sich alarmiert um, schon halb in der Erwartung, von der Stadtwache festgenommen zu werden.
Ihr pochendes Herz machte aber einen erleichterten Satz, als sie den stachligen Krokodilrücken neben sich erspähte.
Sie schmunzelte und murmelte leise: „Jaja, ich soll nicht stehlen, ich habe es schon verstanden, Sobek."
Wie sie so hier saß, konnte Shalani die Sonne betrachten, die im Westen hinter den hohen Sanddünen der Wüste verschwand.
„Ich danke dir Aton, dass du die Sonne über uns scheinen lässt und jeden Tag das Leben ermöglichst und ich danke dir Thot, der du die finsterste Nacht mit deinem Mond erhellst, damit die Menschen nie in vollkommener Dunkelheit leben müssen."
Das Gefühl absoluter Ruhe durchströmte sie. Als wäre sie ein Tor, durch das der Fluss langsam, aber kräftig floss.
Sie mochte dieses Gefühl von Ruhe und Frieden, dass sie sich jeden Abend für ein paar Augenblicke stahl.
Eigentlich müsste sie in den Tempel und beten, oder opfern, aber das tat sie lieber hier am Fluss, für sich allein und in der Stille, nur von den Geräuschen der Natur begleitet. Ja, hier unten waren die Götter zugegen, was sollten sie auch immer in den Tempeln? Sie konnten sich doch an alldem ergötzen, was sie selbst geschaffen hatten.
Durch die schummrigen Gassen der Stadt wanderte sie nun zurück. Die Menschen strömten aus den Tempeln wieder in ihre Häuser, es war Zeit sich nach einem langen Tag auszuruhen. Nur in den Tavernen herrschte noch Hochbetrieb. Wer konnte es den armen Männern schon verdenken, die nach einem harten, arbeitsreichen Tag, ein Bier trinken wollten.
Nun musste Shalani nicht mehr fürchten entdeckt zu werden, schließlich waren zu viele Menschen unterwegs.
Sie wanderte wieder zu Amun-Res Widder, der Schankwirtschaft, in der Oseye arbeitete.
Sie mochte den Gedanken nicht, ihre Schwester allein durch die Gassen wandern zu lassen, während sich überall Betrunkene, Fanatiker und Mörder herumtrieben.
Vorsorglich holte die junge Frau ihren Dolch aus der Umhängetasche und verstaute ihn an einem Lederband, unter ihrer Tunika. Der offene Waffenbesitz war in Memphis für alle, außer die Stadtwache und Angehörige des Königshauses, strengstens verboten.
Als der Mond hoch am Himmel stand, erreichte sie schließlich die Straße, in der der Gasthof stand. Das Lallen der Betrunkenen schallte schon eine ganze Weile zu ihr, weswegen sie vorsichtshalber nach ihrem Dolch tastete.
„Packt diesen dreckigen Hundesohn!"
Sie richtete den Blick stur geradeaus und ging einfach weiter. Aus derlei Geschichten hielt sie sich in weiser Voraussicht heraus.
„Na Bürschchen, jetzt vergehen dir deine schlauen Sprüche, he?"
Kopfschüttelnd lugte sie einmal um die Ecke und spähte in die Seitengasse, aus der der Lärm kam.
Fünf Männer hielten einen fest und...
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! So eine verdammte Scheiße!
Mit einem Satz hechtete sie in die Gasse und rammte dem ersten, ohne nachzudenken, ihren Dolch in den Rücken.
Denkbar schlecht gelaunt hob sie das Schwert auf, das klappernd auf das Pflaster fiel und sagte mit finsterem Blick: „Lasst ihn los, ansonsten besucht ihr Söhne des Seth euren Freund schneller in der Duat, als ihr ‚Mami' rufen könnt."
Natürlich hörten, jetzt nur noch vier, ausgewachsene Männer nicht auf ein junges, kleines Mädchen und sie begannen nur zu johlen und zu pfeifen.
„Jungs, dann haben wir gleich etwas zum Abreagieren, nachdem wir mit dem Bengel fertig sind!", frohlockte ein hässlicher, schielender, verschwitzter Klotz, der etwas abseits alles beobachtete.
Ihr Dolch flog schneller, als er ‚Mami' hätte rufen können.
Scheinbar wurde den anderen drei Experten langsam klar, dass es ernst war, denn zwei kamen bedrohlich auf Shalani zugestapft, während der Dritte weiterhin den jungen Mann festhielt.
Kreischend traf Metall auf Metall, als das Schwert ihres Widersachers mit aller Macht auf sie krachte. Shalani hielt mit Mühe dem Hieb stand.
Sie duckte sich unter seinem Schlag weg, wich aus und sprang blitzschnell zur Seite, während sie penibel darauf achtete, dem zweiten nicht ins Schwert zu springen.
Mit einem Brüllen stürmte Narbengesicht auf sie zu. Er war tatsächlich über und über mit Narben bedeckt, aber schien vom Schwertkampf nicht wirklich viel zu verstehen, sein einziger Vorteil war seine Kraft.
Wie ein wildgewordener Bulle stürmte er immer wieder auf die junge Frau zu, hieb nach ihr und versuchte wutschnaubend sie zu erledigen.
Shalani, die selbst langsam aus der Puste kam, hoffte nur, dass er schneller müde wurde und demnach auch schneller einen Fehler beging.
Als hätte Bastet, die Glücksgöttin ihre Gedanken abgewartet, stürzte dieser Widerling mit gezücktem Schwert auf sie zu. Sein Körper war ungeschützt und sein Zorn vernebelte seine Vernunft.
Shalani vollführte eine kleine Drehung, hob das Schwert und schlug mit einer geschmeidigen Bewegung zu.
Er fiel zu Boden.
Erleichtert drehte sie sich um und schrie vor Schreck auf. Mit erhobenem Schwerte und offenem Mund, stand der vierte Halunke da. Beziehungsweise er stand da, jetzt sackte er nämlich leblos in sich zusammen und war auch sofort tot, der Klinge, die aus seinem offenen Mund ragte, nach zu urteilen.
„Ich habe dir vor zwei Mondwechseln dein Leben geschenkt und jetzt des Nachts, ohne Wache oder Begleitung in Memphis' gefährlichsten Vierteln umherzuwandern und sich mit bewaffneten Trunkenbolden anzulegen ist eine merkwürdige Art sich dankbar zu erweisen. Dementsprechend bin ich auch auf eine Erklärung dieser Situation gespannt, mein Pharao!"
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