16 | Das Leben ist mehr - Part V
Hannahs Überraschung hat fünfzig verschiedene Geschmäcker, Streusel in sechs Sorten und ein dickes Sahnehäubchen, wahlweise garniert mit Kirschen oder Schokoraspeln. Und es gibt niemanden aus der Verwandtschaft, der ihm vorschreibt, welchen Eisbecher er zu wählen hat. Überhaupt kennt Neville hier keine Menschenseele. Das von Hannah ausgesuchte Eiscafé ist exklusiv im Stil der 50er Jahre gehalten, von dem schwarz-weiß gefliesten Boden zu den rosa und türkisen Tischchen mit silberner Zierblende. Hinter der Theke rattern diverse elektrische Geräte auf Hochtouren, um Milchshakes und Kaffee zuzubereiten. Kurzum: Das Abenteuer ist perfekt.
Bei gerade mal 18° haben sich nicht viele Muggel in das kitschige kleine Geschäft verirrt, sodass sie einen der besten Plätze am Fenster für sich haben. Er hat Ausblick auf eine hübsche Piazza mit Springbrunnen in der Mitte, um den sich weitere, vielversprechende Muggelgeschäfte verteilen – doch sein Blick hängt an Hannah fest, die gewissenhaft ihre Karte studiert.
Heute hat sie ein Kleid an, dessen Türkisgrün perfekt mit dem Ambiente harmoniert. Ihre Haare trägt sie ausnahmsweise offen und er ist fasziniert davon, wie anders sie nun gegenüber ihrem Auftreten im Tropfenden Kessel wirkt. Beinahe schon hat sie Ähnlichkeit zu Lavender. Sogar auf ihren Fingernägeln liegt ein leichter Schimmer, der mit dem Rosa ihrer Wangen harmoniert.
Sie ist wirklich hübsch. Das hat er noch nie über eine andere Person gedacht, aber jetzt kann er es nicht mehr übersehen. Ihm gefällt sogar die Art, wie sie die Nase kräuselt, während sie darüber nachdenkt, was sie bestellt. Diese Feststellung sorgt dafür, dass er erst recht ein Eis braucht, denn die Hitze breitet sich unaufhaltsam durch seine Brust bis in den Magen aus. »K-kannst du irgendwas empfehlen?«, haspelt er drauflos.
Hannah klappt die Karte zu und grinst. »Können schon, aber ich will nicht. Es ist dein Geburtstag, deine Wahl. Und wenn's dir nicht schmeckt, bestellst du eben noch was anderes. Hauptsache, es kommt kein Pfefferminzeis auf den Tisch.«
Wahrscheinlich pfeift ihm gleich wieder Dampf aus den Ohren. Er reibt sich das Ohrläppchen. »Dass du dir das gemerkt hast ...«
»Na aber hallo. Wir Hufflepuffs sind schließlich bekannt dafür, gute Zuhörer zu sein.«
»Schon ... also außer Zacharias.« Den letzten Teil nuschelt er nur, doch Hannah versteht ihn trotzdem. Kichernd knibbelt sie an einer Ecke der Karte.
»Ja, der hört sich am liebsten selber reden.« Verschwörerisch senkt sie die Stimme. »Angeblich hat er den Sprechenden Hut angefleht, ihn nach Hufflepuff zu schicken, weil seine ganze Familie da war und er sie nicht enttäuschen wollte. Aber eigentlich hätte er wohl in Gryffindor landen sollen.«
»Ehrlich?«
Hannah zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie wahr das ist, aber nach einem der letzten Quidditchspiele war er recht betrunken und hat sowas behauptet. Hat gemeint, er hätte für Hufflepuff gekämpft.« Sie verdreht die Augen.
Er schaut auf die Eiskarte vor ihm hinab, ohne die Sorten richtig anzusehen. »Ich habe den Hut auf jeden Fall angefleht, mich nach Hufflepuff zu stecken. Aber auf mich wollte er nicht hören.« Diese Schmach liegt inzwischen sechs Jahre zurück und doch ist die Bitterkeit in seiner Stimme nicht zu überhören.
Zu seiner Überraschung schnaubt Hannah nur. »Natürlich hat er nicht auf dich gehört. Du bist ein verdammter Gryffindor durch und durch!«
»Na ja.«
»Du hast dich Alice Cooper gestellt.«
»Du machst dich über mich lustig.« Der Vorwurf rutscht ihm so raus, doch anstatt beleidigt zurückzurutschen, greift Hannah nach seiner Hand und drückt sie sacht.
»Kein bisschen. Ich hab nicht vergessen, dass du in der Mysteriumsabteilung warst. Oder in der DA. Klar hätte ich mich gefreut, wenn du an Zacharias' Stelle ein Dachs geworden wärst – aber irgendwo ist es auch ziemlich egal. Gryffindor definiert ja nicht alles, was du bist. Ich persönlich glaube ja, dass man die meisten Menschen in mindestens zwei Häuser einsortieren könnte. Zum einen ist da das, was man bereits ist, und dann ist da noch das, was man sein will. Ich bin zum Beispiel längst nicht so fleißig, wie man es Hufflepuffs nachsagt – ich wäre es nur gerne. Und du strebst eben nach Mut.«
Mit gerunzelter Stirn betrachtet er die Auswahl der fünfzig verschiedenen Eissorten. »Aber doch nur, weil das alle von einem Gryffindor erwarten ...«
»Mh ... sicher, dass du das nicht in erster Linie von dir selber erwartest? Du bist doch derjenige, der mir erzählt hat, dass man kämpfen muss.«
»Es stimmt halt. Aber das heißt ja nicht, dass ich es gerne mache.«
»Als wenn irgendjemand gerne mutig ist. Mut bedingt immer, dass man Angst hat. Mut ist Überwindung, nichts anderes. Du musst nur das finden, wovon du so überzeugt bist, dass es die Furcht überwiegt.« Hannah stupst ihm unter dem Tisch mit ihrer Fußspitze gegen das Schienbein. »Zum Beispiel den Fakt, dass es unter fünfzig Eissorten garantiert eine gibt, die besser schmeckt als Pfefferminze.«
Das Schmunzeln schleicht sich von alleine auf sein Gesicht. »Bist du sehr enttäuscht, wenn ich mich einfach für den Fudgebecher mit Schokolade entscheide?«
»In dem Fall bestellen wir lieber die doppelte Portion und einen zweiten Löffel.«
Der Schokoladenfudgebecher ist absolut die richtige Wahl. Womöglich sogar besser als das Pendant dazu bei Fortescues – aber das ist ein Gedanke, den er niemals aussprechen wird. Der einzige Nachteil an dem gewaltigen Eisbecher ist nur, dass ihm ziemlich zügig kalt wird. Das Café ist trotz der Temperaturen etwas zu gut klimatisiert und sobald sein Löffel am Boden der Glasschüssel kratzt, wünscht er sich beinahe die Hitze vom Anfang zurück. Mindestens ist er dankbar für seinen langen Pullover, in den er sich fröstelnd kuscheln kann.
Hannah ihm gegenüber schlingt stattdessen die Hände um ihre nackten Arme. Nur zu gerne würde er jetzt lässig eine der Servietten (die absolut verboten dünn und hart sind, sodass er sie zuerst für einen Scherz gehalten hat) in eine Strickjacke verwandeln. Das wäre das erste Mal, dass ihm dieses Fach nützen würde, aber selbst wenn die Muggel nicht dasäßen, wüsste er, dass es nur in einem Fiasko enden kann.
»Vielleicht sollten wir jetzt was Warmes trinken?«, schlägt er daher mit einem schiefen Lächeln vor. »So zum Ausgleich?«
»Oooder –« Hannah lacht und schüttelt den Kopf.
»Oder was ...?«
»Nichts. Ich hatte gerade nur ... einen bescheuerten Gedanken.«
Verwirrt hört er damit auf, mit dem Metalllöffel Muster in die geschmolzenen Eisreste zu malen. »Du bist doch nicht bescheuert! Du kannst alles sagen, was du willst.«
»Ja, ne, lass mal.« Hannah winkt mit einer Hand ab, während sie ihre Handtasche auf den Schoß zieht. »Außerdem muss ich dir noch dein richtiges Geschenk geben. Die Schrumpelfeige war mehr so Deko.«
»Aber ich freue mich über die Schrumpelfeige!«
»Hab ich gemerkt.«
»A-also – du musst mir wirklich nicht noch mehr schenken. Ich mein, dieser Ausflug ist super und ich könnt mir gar nicht mehr wünschen –«
»Zu spät. Hier.« Grinsend streckt Hannah ihm ein kleines Päckchen entgegen.
Schon kehrt die Hitze in seine Brust zurück. »Du bist wirklich zu lieb«, murmelt er geschlagen. »Dabei hast du selber kaum Geld, das kann ich doch unmöglich annehmen ...«
»Wer sagt, dass ich viel dafür ausgegeben habe?« Mit vielsagendem Blick stupst Hannah das Päckchen näher an ihn heran. »Es ist jetzt wirklich nichts so Krasses, keine Sorge.«
»Fühlt sich aber ganz schön schwer an.«
»Es könnte ja auch einfach ein altes Buch sein?« Erleichtert atmet er auf – und Hannah schmunzelt. »Ist es nicht, ich mach meine eigene Überraschung doch nicht kaputt. Na los, mach schon auf!« Gespannt stützt sie das Kinn auf die Handrücken.
Natürlich sieht sie jetzt eindeutig, wie lächerlich seine Finger zittern, aber vielleicht kann man diesen Umstand auf das Eis schieben. Er hofft es zumindest. Vorsichtig schiebt er den Fingernagel unter das Klebeband und hebt dieses langsam an, um ja nicht das glänzende Papier zu beschädigen, das über und über mit dem bunten Schriftzug »Happy Birthday« bedruckt ist. So ein glattes Einwickelpapier hat er noch nie gesehen – wahrscheinlich eine Muggelerfindung.
Hannah kommentiert sein Schneckentempo nicht, auch wenn er jede Sekunde erwartet, dass sie genervt schnauben oder die Augen verdrehen könnte. Doch sie wartet, bis er den letzten Klebestreifen entfernt und das Papier zurückgeschlagen hat.
Vor ihm liegt ein schwarzer Kasten, der große Ähnlichkeit zu ihrem Walkman hat. Die Knöpfe sind anders angeordnet und die Kopfhörer haben blaue statt graue Ohrmuscheln, doch er ist ziemlich sicher, dass es sich um ein vergleichbares Gerät handelt.
»A-aber das ...«
»Keine Sorge, es ist ein altes Gerät von meinem Vater. Er hat ihn mal für kleines Geld auf dem Flohmarkt gekauft, weil er einen Defekt hatte. Wir haben ihn reparieren lassen. Und die Kassette dazu ... Na ja, die habe ich ehrlich gesagt nur mit einem Geminio-Zauber dupliziert. Keine Ahnung, wie lange oder gut das funktioniert, aber fürs Erste funktioniert sie. Das hab ich getestet.«
»Du ... du bist unglaublich!« Gänsehaut breitet sich über seine Arme aus, während Kälte und Hitze in ihm miteinander ringen.
Hannah lacht verlegen auf. »Ach Quatsch. Wart nur ab, bis du die Kassette siehst.«
Unbeholfen nestelt er an den Knöpfen herum, bis sie sich seiner erbarmt und ihm die richtige Taste zeigt, mit der sich bei diesem Gerät der Deckel öffnet. Alice Cooper lacht ihn an. Selbstverständlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes, aber laut der Beschriftung handelt es sich um ein Best Of der Band.
Er gluckst. »Ich bleibe dabei, du bist unglaublich.« Zwar kommt er sich selbst nach all der Zeit ziemlich ungelenk vor, doch er nimmt Hannahs Hand in seine. »Das ist ein wunderbares Geschenk. Also wirklich, das ...« Er seufzt. »Ich weiß nicht, wie ich dir danke sagen kann.«
»Musst du nicht.« Hannah streicht über seine Fingerknöchel. »Du musst gerade wirklich gar nichts sagen.«
Einen Moment sitzen sie so da und dieses Mal ist es tatsächlich nur schön, einfach zu schweigen. Trotzdem schießt ihm ein Gedanke quer, den er aussprechen muss: »Schade bloß, dass der Walkman in Hogwarts nicht funktionieren wird.«
»Wem sagst du das.« Nachdenklich lässt Hannah ihren Blick schweifen. »Dabei könnte ich ihn da manchmal am allermeisten gebrauchen. Du hast keine Ahnung, wie laut Susann schnarchen kann.«
»Oh ... bei uns im Schlafsaal bin wahrscheinlich ich derjenige, der am meisten schnarcht. Wobei Ron auch nicht ohne ist.«
»Ich hätt jetzt auch auf Ron getippt, ehrlich gesagt. Er macht einfach so einen Eindruck.«
»Schon, ne? Er tritt auch gerne mal seine Decke im Schlaf weg. Oder wirft sein Kissen durch die Gegend.«
»Ah, bei sowas bin ich sonst immer die Schuldige. Ich habe einen ziemlich unruhigen Schlaf. Zum Glück merkt Susan das nicht, weil sie schläft wie ein Stein.«
Sie grinsen beide in sich hinein, ihre Hände nach wie vor verbunden. Eigentlich könnte alles ganz zauberhaft sein – wenn sich die Erinnerung nicht einschleichen würde, dass er gar nicht weiß, ob Ron im kommenden Schuljahr noch da sein. Oder ob seine Familie nicht die Sachen packt und verschwindet. Da wären sie nicht die Ersten, die auf der Abschussliste der Todesser stehen.
»Aber du ... du kommst schon wieder?«, fragt er Hannah zögerlich.
»Ich muss meinen Abschluss machen. Ich kann kaum erwarten, dass Toms Kontakt mir auch noch die Unterlagen fälscht. Das wär dann doch ein bisschen zu auffällig.«
Er nickt langsam. »Wobei du bestimmt auch nach Beauxbatons gehen könntest.«
»Ich kann kein Französisch. Oder überhaupt irgendeine andere Sprache.« Hannah hebt die Achseln. »Außerdem will ich nicht aus meiner Heimat vertrieben werden. Ich will hierbleiben. Bei den Menschen, die ich kenne. Die ich gerne habe. Für die auch meine Ma sich in der Sozialhilfe engagiert hat.« Sie sieht ihn an und er hat das Gefühl, dass ihre Augen feucht glänzen. »Außerdem haust du ja auch nicht ab.«
»Na ja ... ich habe ja eigentlich auch nichts zu befürchten.« Rasch drückt er Hannahs Hand fester, bevor sie ihn falsch versteht. »Also ich könnte nachvollziehen, wenn es dir zu heikel wird. Auch wenn ich traurig wär, dich nicht wiederzusehen.«
Hannah senkt den Blick. »Das ist süß von dir.«
Süß ist hier eigentlich nur das Eis, aber ihre Worte sind doch ziemliche Konkurrenz. Seine Handflächen schwitzen zumindest ordentlich und er hofft inständig, dass sie das nicht merkt. »Wir sollten nicht schon wieder davon reden, oder?«
Sie atmet tief aus. »Keine Ahnung. Irgendwo tut es ja gut, aber ja ... es ist auch ein bisschen frustrierend. Wir können ja nichts ändern. Nicht jetzt und hier.«
»Vielleicht sollten wir noch ein Eis essen. Wir haben immerhin noch neunundvierzig Sorten zum Probieren.«
Lächelnd presst Hannah die Lider zusammen und er möchte sich doch sehr täuschen, dass sie gerade eine Träne weg blinzelt. »Einverstanden«, verkündet sie. »Aber mir ist immer noch kalt, ehrlich gesagt. Hättest du was dagegen ... wenn ich mich bei dir anlehne? So zum Aufwärmen ...?«
Hat er nicht. Zu Beginn des Sommers hätte er eine andere Antwort erwartet, doch jetzt gefällt es ihm, dass Hannah mit ihrem Stuhl an seinen heranrückt und wie selbstverständlich den Kopf an seine Schulter kuschelt. Er fühlt sich immer noch merlinverdammt unbeholfen, als wären sämtliche seiner Gliedmaßen aus Gummi und der Raum um ihn würde schrumpfen, aber es gibt schlimmere Gefühle. Deutlich schlimmere.
Trotzdem kommt es, wie es immer sein wird: Nichts währt ewig. Weder das Gute noch das Schlechte. Und so hat auch der Sommer des Vergessens ein Ende. Am Abend des ersten Augusts stößt Augusta einen Schrei aus, den Neville selbst in seinem Zimmer hört. Er nimmt auf dem Weg hinab immer zwei Treppenstufen auf einmal, doch Kingsley Shacklebolts Patronus löst sich bereits in Nebelschwaden auf, als er in den Salon stolpert.
»Das Ministerium ist gefallen«, stammelt seine Großmutter. »Es ist wirklich gefallen ... Oh Merlin beschütze uns.«
»Was ist passiert? Was hat er noch gesagt?«
»Minister Scrimgeour ist tot.«
Ein paar stille Augenblicke lang schauen sie sich mit offenen Mündern und aufgerissenen Augen an. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er Angst auf dem sonst so unerschütterlichen Gesicht seiner Großmutter. Nackte, echte Angst. In den beiden Bildern an der Wand hinter ihr drängen sich sämtliche Porträts des Hauses zusammen, was sonst ebenfalls undenkbar wäre. Sogar Maybell entdeckt er, die Hände vor ihren Mund geschlagen.
In seinen Ohren rauscht es. Hunderte Gedanken strömen auf ihn ein, einer wahnwitziger als der nächste. Vorstellungen, wie er ins Ministerium stürzt. Wie ausgerechnet die DA dort gegen die Todesser kämpft. Schwachsinn, nichts als Schwachsinn – doch ein vernünftiger Einfall schafft es durch den Nebel. Eine Sache kann er tatsächlich tun. Er darf nicht länger untätig herumstehen!
»Hannah«, keucht er, »ich muss zu Hannah!«
Er hat Augusta nie erzählt, was es mit ihrer Familie auf sich hat, doch sie hinterfragt seine Panik nicht. Sie nimmt seine Wangen in ihre zitternden Hände und nickt ihm zu. »Pass auf dich auf. Appariere direkt. Und denk an die Sicherheitsfragen.«
Mit einem dicken Kloß im Hals zieht er seinen Zauberstab. »Ich muss mich nur vergewissern, dass sie in Sicherheit ist.«
Augusta nickt noch einmal. »Geh.«
Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Er appariert in den Tropfenden Kessel – und stolpert direkt gegen den ersten Zauberer. Zu seiner eigenen Überraschung wird er nicht angemeckert. Der ältere Mann wirft ihm eine rasche Entschuldigung zu, dann verschwindet er auch schon auf der Stelle. Überhaupt erkennt er den Pub kaum wieder. Obwohl es kurz vor der Schließstunde ist, sind die Zaubersphären unter der Decke taghell. Stimmen gehen wild durcheinander, Füße trappeln von rechts nach links, Türen werden geknallt und das alles wird unterlegt von einem regelrechten Konzert aus Apparations- und Disapparationsknalls.
Unter anderen Umständen hätte er sich die Ohren zugehalten. Jetzt stürmte er an die Theke zu Tom dem Wirt. »Hannah, wo ist Hannah?«
»Schon gegangen. Vorher.« Tom schiebt ihm einen Fetzen Pergament über den Tresen. Darauf steht in ordentlicher Handschrift eine Adresse. »Durchatmen. Nich', dass du zersplinterst.«
Ein nervöses Lachen bricht aus ihm frei. »Ich werd's versuchen. Danke. Für alles.«
»Na klar.«
Er sieht noch Toms halb zahnloses Lächeln, da lösen sich die Konturen des Pubs schon wieder auf. Die Luft verlässt seine Lungen, ein Schürhaken zieht seine Eingeweide nach hinten und dann steht er vor einem schmalen Cottage irgendwo im Norden Englands. Licht fällt aus den Fenstern auf den ordentlich gemähten Rasen. Ein altes Auto parkt in einer angrenzenden Scheune, direkt neben zwei Besen an der Wand. Gleich mehrere rostige Kessel lehnen an der Hausfassade, aber die Lampe über dem Eingang hat eine echte Glühbirne.
Diesen Mix aus Magie und Muggeltechnik findet er ziemlich charmant und er ist froh, dass nicht der grünliche Schleier des Dunklen Mals darüber liegt. Das gibt ihm Hoffnung. Trotzdem schlägt sein Herz bis zum Hals, als er zur Tür schreitet und dagegen klopft.
Natürlich wird ihm nicht gleich geöffnet. Er hört Bewegung, Rascheln und Trippeln, und er ist ziemlich sicher, dass auf der anderen Seite geredet wird, aber er kann nichts verstehen oder gar einzelne Stimmen ausmachen. Als die Tür schließlich doch aufschwingt, stehen beide Abbotts vor ihm, Hannah zuvorderst. Sie hält ihren Zauberstab direkt auf seine Brust gerichtet.
»N-Neville?«
»Du musst mir eine Frage stellen. Du weißt schon, eine, die nur ich beantworten kann.«
»Äh ...« Hannahs Hand zittert, aber sie senkt den Stab nicht. »W-welches Lied hast du neulich zum ersten Mal gehört?«
»School's out. Alice Cooper.« Nun packt er seinerseits den Zauberstab fester. »Und welches Eis hast du gegessen?«
»Wir haben uns den Fudgebecher geteilt ...«
»Merlin sei Dank.« Erleichtert senkt er den Arm, nur um gleich darauf festzustellen, dass ihn Hannahs Vater wie ein Mondkalb anschaut. »Habt ihr es noch nicht gehört?«
»W-was denn?« Hannas Stimme klingt ganz dünn und zerbrechlich.
»Du-weißt-schon-wer hat das Ministerium unter seine Kontrolle gebracht.«
»Nein!« Dieselbe Panik, die eben durch seinen Körper gespült ist, zeichnet sich nun auf Hannahs Gesicht ab. Sie schaut zu ihrem Vater, der sich an eine Schrotflinte klammert, wie ihm jetzt erst bewusst wird.
»Am besten gehen wir hinein.« Mr Abbott lächelt beruhigend, doch es ist offenbar, dass er wachsam in die Nacht hinausschaut. Seine Knöchel am Abzug der Waffe treten weiß hervor.
Neville kann nicht sagen, wie lange er im Wohnzimmer der Abbotts sitzt und dabei zuhört, wie Hannah und ihr Vater den Notfallplan durchsprechen, sollten die gefälschten Dokumente das neue Ministerium nicht überzeugen. Irgendwann kommt eine Eule mit der Nachricht, dass die Todesser Pius Thicknesse zum künftigen Minister bestimmt haben. Dann eine weitere mit der Botschaft, dass Severus Snape als Schulleiter von Hogwarts eingesetzt wird.
Er weiß nicht, was er denken oder fühlen soll. Er hält einfach Hannahs Hand und streichelt darüber, wann immer ihr Vater nicht guckt. Irgendwann verlässt Mr Abbott schließlich mitsamt seiner Schrotflinte das Zimmer, um nach den Schutztränken zu sehen, die im Keller vor sich hinblubbern. Erst dann erlaubt er sich, Hannah in die Arme zu ziehen.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Sie schnieft leise. »Ich hab so gehofft, dass das alles nie passieren wird.«
»Ich weiß. Ich doch auch.« Die Worte fühlen sich an, als würde sie jemand anders für ihn sprechen. Er spürt kaum seinen Körper, er merkt nur, dass sein Herz wild gegen die Rippen pocht. Normalerweise würde die Nähe zu Hannah ihn lähmen, doch die Normalität ist heute Nacht gestorben, also versteckt er sein Gesicht in ihrem weichen, wohlriechenden Haar. »Ich bin so froh, dass du mir all diese alltäglichen Abenteuer geschenkt hast. So sind das gleichzeitig die schrecklichsten und doch schönsten Sommerferien.«
»Meinst du immer noch, du wärst nicht mutig?«
Hannahs Atem trifft zitternd auf seinen Pullover und anstatt wie sonst ihre Hand zu streicheln, konzentriert er sich ganz auf ihren Rücken. »Keine Ahnung. Vielleicht schon, vielleicht auch nicht. Ich kann gerade nicht wirklich denken. Ich weiß nur, dass ich mir Sorgen um dich gemacht hab. Was mit dir und deiner Familie wird ... ich weiß, du brauchst und willst keinen Helden, der für dich kämpft. Und das will ich auch gar nicht sein. Ich will einfach nur ... da sein. Dann fühlt es sich zumindest für mich nicht mehr an, als wenn die Welt untergeht.«
Das Geräusch, was Hannah von sich gibt, kann er nicht so recht einschätzen, aber sie schlingt ihre Arme fester um ihn, also nimmt er das als gutes Zeichen.
»Ich bin wirklich froh, dass du in den Topf mit den Geranien gekotzt hast«, murmelt sie irgendwann – vielleicht nach fünf Sekunden, vielleicht auch erst nach fünf Minuten. »Sonst hätte ich nie den Mut gehabt, dich einfach so anzusprechen. Oder dir gar meine Musik zu zeigen. Und dann hätte ich so viel von dem verpasst, was ich diesen Sommer gemacht haben wollte, ohne es zu wissen.«
Das ist alles so herrlich durcheinander, dass er leise auflacht. Hannah lehnt sich ein Stück zurück und schaut zerknirscht drein. Er will nicht meinen, dass plötzlich der Löwe in seiner Brust brüllt, denn das passiert hier sicher nicht – aber ihn überkommt zumindest eine eigenartige Leichtigkeit, die seinen ganzen Kopf ausfüllt.
»Da du so gerne behauptest, ich wäre ein richtiger Gryffindor, versuche ich es mal mit dem Mutigsein.« Er ballt die Hand fester um seinen Zauberstab, den er nach allem immer noch nicht losgelassen hat. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. »D-darf ich – darf ich dich küssen?«
Eine einzelne Träne läuft über Hannahs Wange, aber sie nickt. Nicht nur das, sie schlingt auch die Arme um seinen Hals. Er braucht gar nicht mehr viel tun. In Büchern wird immer so ein Aufriss darum gemacht, doch weder ist der Abstand zwischen ihnen groß, noch dauert der Moment lange. Es reicht gerade, um zu bemerken, dass Hannahs Lippen weich sind. Im Prinzip hat er sich gar nicht richtig bewegt. Nur in seiner Brust, da flattert es, als hätte er einen Schnatz verschluckt.
Er wagt es kaum, die Lider wieder zu öffnen. Nachdem er es dennoch tut, wird er mit dem Anblick von Hannah belohnt, die sich verlegen kichernd die Augen reibt.
»Das war ... schön.«
Vielleicht ist heute nicht alles gut und morgen auch nicht, aber zumindest gibt es Hoffnung.
E N D E
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