16 | Das Leben ist mehr - Part IV
Seine kleine Rebellion bleibt nicht unbemerkt, doch unbesprochen. Entgegen seinen Befürchtungen erwartet Augusta ihn nicht mit Vorhaltungen. Als er heimkommt, sitzt sie alleine im Wintergarten und spielt Zauberschnippschnapp gegen sich selber.
»Die werte Maybell hat es sich nicht nehmen lassen, mich auszulachen«, seufzt sie, als sei damit alles gesagt. »Schön, dass du wenigstens früher als prophezeit zurückgekommen bist.«
Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass es nicht mal ganz neun ist. Jeder andere fände das wahrscheinlich früh, was sich auch daran gezeigt hat, dass der Tropfende Kessel sich in der letzten halben Stunde vor seinem Aufbruch rasant gefüllt hat. Er mag gar nicht lügen: Wäre es so gemütlich wie am Nachmittag geblieben, würde er vielleicht immer noch in der Nische sitzen und Hannah an der Arbeit hindern. Ihre Geschichten über die Welt der Muggelmusik haben jedenfalls deutlich mehr Reiz als dem Ticken der Standuhr zu lauschen.
Augusta seufzt noch einmal und legt ihr Kartenblatt vor sich ab. »Gib mir Zeit, um mich an den Lavendelgeruch zu gewöhnen, ja? Es ändert sich gerade schon genug.«
Ihm fällt keine Antwort ein. Womöglich hat er alle Worte für heute bei Hannah ausgegeben. Seine soziale Energie ist jedenfalls auf einem kritischen Niveau angekommen. Es reicht gerade noch für eine kurze, aber ebenso energische Umarmung seiner Großmutter, ehe er sich direkt ins Bett begibt.
Die nächsten zwei Tage ringt er mit sich, ob der Schritt aus seiner Komfortzone einmalig bleiben soll oder ob er nicht viel lieber Hannah wiedersehen will. Sie hat ihm immerhin angeboten, dass er im Tropfenden Kessel jederzeit willkommen ist. Er ist nur nicht sicher, ob das reine Nettigkeit ist. Dean ist manchmal so jemand, der schlecht »Nein« zu anderen sagen kann und er will nie wieder dieses Gefühl bekommen, sich irgendwem aufgedrängt zu haben, der eigentlich alleine mit seinem besten (vielleicht eher festem) Freund um den Schwarzen See spazieren wollte.
Maybells Porträt seufzt jedes Mal lauter, wenn er auf der Treppe an ihr vorbeischleicht, und das sollte im Grunde Antwort genug sein. Trotzdem hört er erst auf sie, als sie ihm ein gemaltes Knäuel Wolle hinterherwirft, das in einem Landschaftsgemälde im Erdgeschoss eine Herde grasender Einhörner aufschreckt.
»Neville Longbottom, worauf wartest du eigentlich?« Maybells Schrei ist so laut, dass man es wahrscheinlich auch noch am See im Garten hört.
Schuldbewusst zieht er seine Schultern hoch.
»Was immer du neulich unternommen hast, es war gut für dich. Du sahst richtig zufrieden aus. Und jetzt willst du dich wieder selber hier einsperren?«
»Nein.« Er bohrt seinen Daumen in die zusehends dünner werdenden Fasern seines Ärmelsaumes. »Ich will nur nicht – ich will Hannah nicht überfordern. Sie hat immerhin Arbeit und nicht den ganzen Tag Zeit, mich zu bespaßen.«
»Oh Schätzchen ...« Maybell seufzt. Zum ersten Mal seit Jahren verlässt sie ihren Rahmen und traut sich auf die Wiese mit den Einhörnern. Anstatt ihr Wollknäuel vor deren Begutachtung zu retten, kommt sie näher auf ihn zu. »Du bist wirklich zu sanft für diese Welt.« Sie sieht aus, als würde sie ihm am liebsten durchs Haar streichen. »Warum fragst du deine – wie hieß sie noch? Hannah? – nicht einfach ob sie dir sagen mag, wenn es wirklich zu viel wird? Mit Vermutungen wirst du nicht weit kommen. Ich merke, Augusta hat dir das nie beigebracht, aber Kommunikation, mein Schatz, Kommunikation ist der beste Weg.«
Sie hat recht. Das weiß er, doch Apparieren ist deutlich schwerer ohne Wut im Bauch. Dann spürt man die Last der Verantwortung richtig auf den Schultern. Trotzdem erzählt er seiner Großmutter, dass er eine Bestellung im Herbologiehimmel abholen soll, die zu riskant für den Eulenverkehr sei. So viel Notlüge muss erlaubt sein.
Sobald Hannah ihn in der Apparierzone erspäht, leuchten ihre Wangen pink auf. Er möchte hoffen, dass das etwas Positives bedeutet und nicht, dass er ihr unangenehm ist.
»Hey!« Hannah empfängt ihn mit einem Winken, das irgendwie merkwürdig anmutet, wenn man sich direkt gegenübersteht. »Wie schön, dass du wieder da bist. Ich hatte schon befürchtet, Alice Cooper hätte dich am Ende doch verschreckt.«
Heute geht ihm das Lächeln glatt leichter von den Lippen. »N-nein, nicht wirklich. Ich war mir nur nicht sicher – also ich wollte dich nicht stören und hier plötzlich jeden Tag aufschlagen.« Verlegen wirft er einen Blick zur Seite. »Auch wenn ich dieses Mal die Geranien ganz gelassen habe.«
Hannah kichert. »Das wird Tom dir sicherlich hoch anrechnen. Und nur fürs Protokoll: Du störst kein bisschen. Ich fand es nämlich« – sie holt tief Luft und schließt die Augen, als sie weiterspricht – »wirklich schön, unser Gespräch neulich.«
Er kann nicht anders, er grinst noch etwas dämlicher. Hannah scheint sich aber keinen Deut daran zu stören. Genauso wenig wie an seinem neu aufgelebten Stottern oder der unbeholfenen Art, in der er fast einen Geranientopf umschmeißt, als er ihr zu dem bekannten Einzeltisch folgt.
Eine Woche lang wagt er dieses Spiel. Sie unterhalten sich über die zuletzt gelesenen Bücher, ihre Familien, Musik und das Gedeihen seiner Pflanzen. An einem besonders denkwürdigen Nachmittag beschallen sie sogar den Mimbulus Mimbletonia mit dem Gesang von Alice Cooper und stellen fest, dass dessen Warzen im Rhythmus der Bässe pulsieren. Es sind schöne Tage, die das Lächeln auf seinem Gesicht festkleben wie ein penetranter Aufmunterungszauber.
Maybells Porträt kommentiert diese Entwicklung nicht, aber sie zwinkert ihm mehr als einmal zu, wenn er abends auf der Treppe an ihr vorbeischleicht. Wahrscheinlich reimt sie sich sonst was zusammen – es ist ihm egal. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben erlaubt er sich so richtigen Egoismus. Das geht sogar so weit, dass er den bisher bittervermissten Gryffindormut in sich findet und Hannah fragt, ob sie an ihrem freien Tag nicht Lust hätte, sich den botanischen Garten von Oxford anzusehen. Nicht seinetwegen natürlich, nur wegen der seltenen Teufelswelwitschia, die dort gerade ihre rare, magische Blüte zeigt. Das ist schließlich ein Spektakel, was es nur alle zehn Jahre zu beobachten gibt. Wenn die Bedingungen stimmen.
Am Anfang der Ferien hätte er erwartet, diesen Besuch mit seiner Großmutter zu begehen, doch als er Hannah am Campus der magischen Universität Oxford in ihrem geblümten Sommerkleid warten sieht, weiß er, dass er es unendlich viel besser getroffen hat. Nicht zuletzt weil Hannah bereits die Broschüre des Gartens studiert hat und ihm alle paar Meter Löcher in den Bauch fragt, die er nur zu gerne mit Wissen ausfüllt.
»Stimmt es, dass die Welwitschia aus einem einzigen Blatt besteht?«
»Meistens schon. Einzelne Exemplare haben allerdings auch ein zweites Blattpaar. Aber das dürften höchstens 5% aller Welwitschien betreffen, so die Muggelwissenschaft.«
»Und die Teufelswelwitschia im Besonderen ist magisch, weil sie diese seltene rote Blüte hat, die nur kurz vor einem starken Gewitter aufgeht, richtig? Das unterscheidet sie von der gewöhnlichen Welwitschia?«
»Unter anderem. Also genauer gesagt sind es die Samen in der Blüte, die so bedeutend für Zaubertränke und einige Heilsalben sind. In der afrikanischen Heilkunst verwendet man diese schon seit Jahrhunderten zur erfolgreichen Behandlung von Verwandlungsschäden. Gerade bei misslungenen Animagustransformationen sollen die Samen wahre Wunder bewirken. Noch faszinierender finde ich aber, dass manche Exemplare dieser Pflanze, egal ob magisch oder gewöhnlich, weit über tausend Jahre alt werden können. Überleg dir das nur mal – älter als Hogwarts, älter als Merlin!«
»Das ist schon echt ... krass.« Hannah pustet sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Vor allem, wenn sie einfach immer noch weiterwachsen. Wer weiß, was sie noch alles überleben werden ...« Das Lächeln gleitet langsam von ihrem Gesicht. »Vielleicht sollte man kein Porträt sein wollen, sondern lieber eine Pflanze.«
Es ist reiner Reflex, dass er ihre Hand ergreift. Er denkt gar nicht erst nach. Plötzlich hält er ihre kühlen Finger zwischen seinen und drückt diese sacht. »Ich habe mich früher tatsächlich öfter gefragt, wie das wohl wäre«, gesteht er leise. »Aber dann habe ich Angst bekommen, als Zutat in einem von Snapes Tränken zu landen.«
»Oh Himmel.« Für einen Moment sieht Hannah wahrlich besorgt drein, dann zucken ihre Mundwinkel. »Ne, da wähle ich lieber noch ein Jahr Wahrsagen und lass mir alles Schlechte vorhersagen.«
»Solange es nur Teetassen sind, die ich zerbreche, bin ich auch fein damit.«
Nun ist es Hannah, die sanft seine Hand drückt. »Bestimmt«, haucht sie.
Schweigend wandern sie weiter durch den Garten. Es dauert nicht lange, bis erster Nieselregen einsetzt. Um sie her flüchten die Menschen und ganz automatisch schlägt er vor, dass sie ja in ein Café gehen könnten – nur um von Hannah mit hochgezogenen Augenbrauen bedacht zu werden.
»Ist das wieder so eine Sache, die deine Großmutter anständig fände? Eine Teestunde pünktlich um vier?«
Trotz der kalten Regentropfen wird ihm heiß. »Ich dachte nur – es ist doch doof, wenn wir nass werden ...«
»Na, zum Glück bin ich eine ganz passable Hexe, Squibvater hin oder her.« Zwinkernd zieht Hannah den Zauberstab und beschwört einen unsichtbaren Regenschutz über ihren Köpfen hinauf. Der ist nicht größer als ein herkömmlicher Regenschirm, mit dem die Muggel im nichtmagischen Teil von Oxford umherlaufen, sodass es ihn noch näher an Hannahs Seite zwingt.
Sein ganzer Arm kribbelt und er fragt sich, ob es ihr ähnlich geht. Allein aus ihrem Profil kann er das leider nicht lesen. Ihre Wangen sind zwar wieder rosa, doch das sind sie so häufig, wie er bemerkt hat, dass es an allem Möglichen liegen könnte. Er ist jedenfalls nicht undankbar, als Hannah sich so richtig bei ihm unterhakt und in Richtung Welwitschia steuert.
»Ich finde, dass du mehr als nur passabel bist«, platzt es nach ein paar Schritten aus ihm heraus. »Also wirklich. Du bist im Gegensatz zu mir alles andere als ein hoffnungsloser Fall in Zaubertränke und das ... das ist schon beeindruckend. Wir wissen schließlich alle, wie streng Snape ist.«
»Ach ...« Hannah lacht auf und schüttelt ihren Kopf. »Ich hab wirklich nicht so die Überfliegernoten. Ich bin lange keine Hermine oder so.«
Er hebt eine Achsel. »Das ist ja auch – also wer kann sich schon damit messen? Ich finde jedenfalls nicht, dass du dich verstecken musst.«
»Danke. Das ist ... lieb von dir.«
Ohne Vorwarnung lehnt Hannah ihren Kopf gegen seine Schulter. Das geht ziemlich gut, weil sie genau das rechte Stück kleiner ist als er, aber es schickt auch einen Blitz durch seinen Körper, als wäre er wieder von Bellatrix Lestrange geschockt worden. Er konzentriert sich darauf, zu blinzeln. Zu atmen. Einen Schritt vor den anderen zu machen.
»Ist dir das unangenehm?«
Hört Hannah etwa sein Herz rasen? Ertappt hält er den Atem an, dabei ändert das gar nichts. Der Geruch von ihrem Shampoo hat sich längst in seine Erinnerungen eingebrannt und ein paar widerspenstige Haare kitzeln ihn an der Wange.
»Entschuldige – ich wollte dich nicht bedrängen ...«
»Nein! Das ist sch-schon okay.«
»Wirklich?«
Er nickt. »Ich hab nur noch nie ... Normalerweise kommt mir niemand so nah.«
»Nicht mal Ginny? Ich dachte, ihr habt auf dem Weihnachtsball miteinander getanzt.«
Das ist überhaupt nicht vergleichbar, nur weiß er nicht, wie er Hannah das am besten erklärt. »N-na ja«, stammelt er, »Ginny ist aber ... Ginny. U-und sie hat halt nicht – und ich mag sie auch gar nicht s-so, also auf d-die Art –«
Hannah verrenkt sich ein bisschen, um mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streichen, und klaut ihm damit zuverlässig seine Worte. »Ist doch kein Ding. Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht zu weit gehe. Immerhin mag ich es auch nicht, wenn Terry einen ungefragt umarmt oder so. Das ist immer so unangenehm und ich weiß dann nie, wie ich ihm sagen soll, dass er damit aufhören soll.«
»O-oh.«
»Keine Sorge, es ist nicht so richtig schlimm. Nur komisch halt und ja ... ich glaube, du weißt, wie scheiße solche Situationen sind. Ich weiß ja selber nicht, weshalb ich gerade das Gefühl habe, bei dir keine Grenzen ziehen zu müssen. Also bitte sag es mir, bevor das hier doch noch blöd wird.«
Er würde niemals sagen, dass dieser Moment scheiße ist, denn das ist er sicher nicht, aber irgendwie ist er auf eine andere Art merkwürdig. Auf jeden Fall überfordernd. Sein Herz leistet Überstunden und der Schweiß sammelt sich an seinem Rücken wie Regenwasser.
»T-tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, murmelt er schließlich. »Ich will nur ... halt für dich da sein. Du warst es ja auch. Hast mir deinen Walkman geliehen ...«
Hannah schmunzelt. »Stimmt. Eigentlich ist Alice Cooper an allem schuld. Alice Cooper und diese verdammten letzten Ferien, in denen man all das machen muss, was man in den sechs Jahren davor versäumt hat. Als wenn danach nichts mehr wie vorher sein wird.«
Als er tief einatmet, füllt der Duft von Hannahs Shampoo aufs Neue seine Lungen und dieser fast schon erdige, unaufdringliche Geruch füttert seinen Mut, obwohl ihm nach wie vor ein bisschen schwindelig ist. »Was hast du denn bisher versäumt?«
»Wenn ich das wüsste ...« Hannah bläst die Wangen auf und stößt die Luft in einem müden Schnauben aus. »Es ist halt so ein Gefühl, dass ich noch irgendwas Großes erleben müsste. Alle, die ich kenne, reden irgendwie davon. Susann ist richtig unentspannt, weil sie meint, unbedingt noch diesen Sommer flachgelegt werden zu müssen.«
Ihm wird so heiß wie nach dem Genuss eines Pfefferkobolds und er könnte schwören, dass ihm Dampf aus den Ohren kommt. Davon bemerkt Hannah offenbar nichts, denn sie plappert ungehemmt weiter.
»Das ist wirklich so lächerlich! Als wenn es alles für einen ändert, nur weil man mal mit jemandem geschlafen hat – wenn man nicht gerade schwanger wird, ist das wohl kaum das wichtigste Ereignis im Leben. Und ich weiß ja so schon kaum was mit mir anzufangen, ich brauch sicher nicht noch mehr unnötigen Druck. Woher soll ich denn wissen, was ich später mal bereuen werde, nicht gemacht zu haben?« Sie atmet schwer ein und aus. »Sorry. Ich wollte mich gar nicht so aufregen. Normalerweise würde ich jetzt ganz laut irgendein Lied hören und dann wär's wieder gut, aber na ja ...«
»Wenn ich mich nicht immer so häufig entschuldigen soll, dann brauchst du das auch nicht tun.« Neville ist ziemlich stolz auf sich, dass er diesen Satz ohne größeres Gestammel rausgebracht hat. Das gibt ihm Hoffnung für den Rest, der auf seinem Herzen lastet. »Mir wird ja auch schon den ganzen Sommer erzählt, dass ich unbedingt noch mehr Abenteuer erleben soll. Dabei will ich einfach nur ... etwas mehr Zeit haben. Wenn es w-wirklich Kriegt gibt, dann ...« Er vergräbt seine Hand in Hannahs Jackenärmel, da sie mit ihrer Zauberstabhand weiterhin den Schutzzauber aufrechterhält. An dem mag er lieber nicht rütteln. »Ich weiß, was ich dann tun will, aber ich fühle mich nicht bereit. Und ich glaube, daran wird auch kein Abenteuer etwas ändern. So bin ich einfach nicht.«
»Nein, so bist du wirklich nicht. Aber gerade das mag ich an dir. Du bist wenigstens ehrlich zu dir selber. Nicht so wie Susann, die eindeutig zu viel Hexenwoche gelesen hat und nun glaubt, sie müsse ihre ‚innere Göttin' befreien.«
Er hat keinen Schimmer, was das bedeutet, ist allerdings nicht traurig darüber. Das klingt nämlich reichlich anstrengend. »Vielleicht muss man ja auch gar nicht so große Pläne schmieden«, schlägt er vor. »Vielleicht sind Alice Cooper und der botanische Garten schon genug, egal was andere sagen. Denn w-wenn ich ehrlich bin ... ist das für mich gerade aufregend genug.«
Hannah gibt ein unidentifizierbares kleines Geräusch von sich. Er kann nicht sagen, was in ihr vorgeht, denn sie hat ihr Gesicht an seinem Ärmel verborgen, und so wartet er einfach, bis sie ihre Stimme wiederfindet.
»Das stimmt wohl, das hier ist schon ganz großartig. Aber ein bisschen was kann man vielleicht noch wagen. Irgendwas ganz und gar Durschnittliches, was Susann mit den Augen rollen lassen würde. Vielleicht ein Ausflug in die Muggelwelt?«
»Ich weiß nicht, ob Omi das gefallen würde –« Er hält inne. Fast muss er über sich selber lachen.
Hannah grinst von unten zu ihm herauf. »Ich würde sagen, damit ist es besiegelt.«
Er lacht verlegen. »Aber ich muss dich warnen – ich war noch nie so richtig unter Muggeln.«
»Das ist kein Problem. Überlass das mir, ich werde ein ganz langweiliges Abenteuer organisieren!«
Die Tage verstreichen und nichts passiert. Natürlich sieht Neville Hannah noch ein paar Mal im Tropfenden Kessel, doch sie spricht nicht wieder über den Ausflug. Dafür rückt sein Geburtstag umso näher. Freuen tut er sich nicht sonderlich, aber wann hat er das zuletzt? Vielleicht mit elf Jahren. Obwohl, da war die Angst groß, keinen Brief aus Hogwarts zu bekommen.
Nein, er ist wahrlich kein Geburtstagsmensch. Seine Feiern in der Vergangenheit sind meist sehr klein ausgefallen und irgendwann hat es seinen Reiz verloren, von der Verwandtschaft belagert zu werden. Dieses Jahr schmiedet er gar nicht erst Pläne. So besonders ist die Volljährigkeit nicht. Auch ohne sein Zutun wird Augusta sicher genug Tamtam machen (er hofft nur, dass sie ihn nicht zwingt, seine Eltern zu besuchen, die mit diesem Datum überhaupt nichts anzufangen wissen).
Und er soll recht behalten mit seinen Prognosen. Pünktlich zum Frühstück des 30. Juli drückt seine Großmutter ihn mit Tränen in den Augen an sich, ehe sie ihm die Armbanduhr seines Vaters überreicht – in der originalen Geschenkverpackung. Es tut weh, denn einerseits will er sich freuen. Er will seinen Vater und dessen Andenken lieben. Und andererseits hat er genau gewusst, dass er keine neue Uhr bekommen wird.
»Ich habe sie reparieren lassen«, haucht Augusta in die betretene Stille. »Das Deckglas war gesprungen und der Mechanismus ...« Sie presst die Lippen aufeinander und seufzt. »Er hat sie bis zuletzt getragen. Trotzdem konnte sie ihn nicht beschützen. Ich weiß, du hast dir sicher etwas anderes gewünscht. Ich hätte mir auch etwas anderes gewünscht. Aber ich hoffe dennoch, dass sie dir umso mehr Glück bringt.« Zitternd streicht sie ihm über die Wange. »Mein Liebling. Ich hoffe wirklich, dass sie dich beschützt.«
Sein Hals schwillt zu und drückt die Tränen in seine Augen. Jeder böse Gedanke der letzten Wochen tut ihm mit einem Mal unendlich leid. Ohne Vorwarnung bricht ein Schluchzen aus ihm heraus und er schlingt seine Arme um die knochigen Schultern seiner Großmutter.
Diese umarmt ihn überraschend kräftig zurück. Genauso schluchzend wie er streicht sie über sein Haar. »Es tut mir so leid, Liebling. Es tut mir so leid, dass du nur mich hattest.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich hab dich so lieb, Omi.«
»Das weiß ich doch. Und ich bin so stolz auf dich, Neville.«
Sein Schluchzen wird lauter. »O-Omi ...«
»Shhh.« Augusta streicht über seinen Rücken, als wäre er wieder sieben anstatt siebzehn. »Ich habe es dir viel zu selten gesagt, aber du bist deinem Vater ähnlicher, als du denkst. Das Alter lässt einen gerne vermissen, aber ... Frank war auch nicht immer mutig und unerschrocken.« Sie atmet tief ein und aus. »Sieh dir die Gravur auf der Uhr an.«
Vorsichtig lösen sie sich voneinander und ebenso umsichtig hebt er die schlichte Uhr mit dem schwarzen Lederarmband von ihrem Samtbett. Nicht ein Kratzer verrät, dass sie bereits einen Krieg gesehen hat, aber das Wissen darum wiegt schwerer als das bisschen Gold und Zahnräder. Unbeabsichtigt hält er den Atem an, sobald er mit dem Daumen über die verschlungene Gravur auf der Rückseite fährt.
»Die meisten großen Taten haben einen belächelnswerten Anfang«, liest er leise. »Wir glauben an dich, deine Eltern.«
Augusta lächelt matt. »Ein Zitat frei nach Albert Camus. Ein Muggel, aber ein großartiger Autor. Und sehr wahre Worte.« Sie rückt einen nach dem anderen die Ringe an ihren Fingern gerade. »Weißt du ... vor der Aufnahmeprüfung für die Aurorenschule war dein Vater unglaublich nervös. Es wurde sogar derart schlimm, dass er sich übergeben hat. Er hatte unglaubliche Angst, aber genau die hat ihm letztlich geholfen, das Richtige zu tun. Und auch du wirst deinen Weg finden. Da bin ich sicher.«
Erneut zieht sich der Knoten in seinem Hals zusammen. Seine Lippen beben, sodass er unfähig ist, einen ganzen Satz zu formen. Zumindest für ein neuerliches »Danke« reicht es aber.
Um ein Lächeln bemüht, tätschelt Augusta seine Wange. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Der Rest des 30. Julis kleidet sich in graue Wolken – aber dafür hellt eine Überraschung den Tag ganz ohne Sonnenschein auf. Pünktlich um zwölf klopft es an der Haustür, genau in dem Moment, da Neville sein eigenes Geburtstagsessen auftischt. Verdattert – und womöglich ein bisschen verschreckt – schaut er auf den Braten mit Minzsoße (Tradition seiner Großmutter), ehe Augusta ihn daran erinnert, dass sich der Besuch nicht von alleine hineinlassen wird (und wenn doch, sind sie verloren).
Auf dem Weg in die Eingangshalle schiebt er sich den Zauberstab in seine hintere Hosentasche, denn egal, was Moody sagt, er will nicht noch einmal wehrlos vor seinem eigenen Erbrochenen hocken. Oder Schlimmeres. Doch dieser Umstand entpuppt sich als überflüssig. Vor der Tür steht Hannah. Sie hält einen Blumentopf in den Armen, um den eine dicke, gelbe Schleife geschlungen ist.
»Alles Gute zum Geburtstag!«
»D-danke ...?« Er kann sich nicht mal erinnern, Hannah gegenüber seinen Geburtstag erwähnt zu haben.
»Ich weiß, ich hab das überhaupt nicht mit dir abgesprochen, aber Ginny hat mir deine Adresse gegeben, nachdem ich mich erinnert hab, dass bald dein Geburtstag ist, und äh ja ... sie hat gesagt ich soll dich unbedingt überraschen. Außerdem schulde ich dir noch ein langweiliges Abenteuer.« Mit diesen Worten streckt sie ihm den Blumentopf entgegen.
Dankbar klammert er sich daran. »Eine Abessinische Schrumpelfeige! So eine hatte ich noch nie.«
»Hast du erzählt, deshalb habe ich Paps einen Ableger aus dem Tranklabor abgeschwatzt. Angeblich nicht ganz pflegeleicht, aber wenn's einer hinbekommt, dann du!«
»Ähm ... ich hoffe.« Mit so einem Topf im Arm lässt es sich schwer den Nacken reiben, obwohl der Drang danach gerade sehr gewaltig ist. Und noch größer wird, als er hört, wie seine Großmutter nach ihm ruft. »Also ich muss – ich kann Omi jetzt nicht einfach sitzen lassen.«
»Hab ich auch nicht angenommen. Ich hab aber kein Problem damit, mich ihr vorzustellen und erstmal mit euch Kuchen zu essen oder so. Und wenn's gar nicht geht, dann bin ich gleich wieder weg.«
»Nein! Du bist natürlich h-herzlich eingeladen!« Verlegen linst er durch die Wimpern zu ihr und lächelt schließlich erneut sein Geschenk an. »Sorry, du hast mich voll überrumpelt. Ich weiß schon wieder gar nicht, was ich sagen soll.«
»Ach, alles gut. Ich seh auch so, dass du dich freust. Kein Bedarf an Wangenküssen, überschwänglichen Umarmungen oder dergleichen.« Hannah wippt auf den Hacken vor und zurück. »Außerdem ist das nur ein Mitbringsel und nicht die Hauptattraktion.«
Er traut sich nicht, zu fragen, was bitte aufregender sein soll als eine äthiopische Nutzpflanze. Stattdessen hält er Hannah die Tür auf und versucht, sich mental für den Blick seiner Großmutter zu wappnen.
Zum Glück ist Augusta heute in einer rührseligen Stimmung. Sobald sie Hannah erblickt, zeigt sich ein mildes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie stellt nur halb so viele Fragen, wie befürchtet – die meisten davon bezogen auf Hannahs schulische Laufbahn, insbesondere ihre Fächerwahl. Der Umstand, dass wenigstens Hannah Verwandlung weiter belegt, ringt ihr ein zufriedenes Nicken ab.
»Nun, dann nehme ich an, dass ihr beide heute noch etwas vorhabt?«, beendet sie schließlich das Mittagessen.
Hannah schaut zu ihm herüber. »Wenn du bereit für deine Überraschung bist ...«
Er lacht verlegen, als er sieht, wie seine Großmutter die Augenbrauen hochzieht. »Ähm, also – ich denke ...«
Augusta schnalzt mit der Zunge. »Schön, schön, ihr Lieben – dann passt bitte auf euch auf, ja? Und lungert nicht alleine draußen herum. Man weiß in diesen Zeiten ja nie. Nur weil ihr beide jetzt volljährig seid, muss man ja nicht gleich einen draufmachen.«
»Keine Sorge, Mrs Longbottom.« Hannah lächelt auf eine zurückhaltende Art, mit der sie ihn noch nie angesehen hat. »Ich entführe Neville nicht in die Nokturngasse oder so. Wir bleiben unter vernünftigen Leuten und sind zurück, bevor es dunkel ist.«
Das erleichtert ihn schon mal, obwohl er natürlich nichts anderes erwartet hat. Zur Bekräftigung von Hannahs Worten streicht er über das Armband seiner neuen alten Uhr. »Keine Sorge, Omi, ich werde vorsichtig sein.«
»Weiß ich doch, weiß ich doch. Also los, ab mit euch!«
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