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15 | Das gerächte Urteil

Es gibt Dinge auf Erden, die sind schlimmer als der Tod. Überleben ist eines davon. Mary Macdonald hat überlebt. Zwei Zauberkriege und ihren Mann, ihre Tochter. Jetzt nimmt sie Rache.

[A/N: Diese Geschichte entstand für ein Projekt, bei dem der letzte Satz vorgegeben wurde.]

Es gibt Dinge auf Erden, die sind schlimmer als der Tod. Überleben ist eines davon.
Wer anderes behauptet, hat nie der unendlichen Schwärze ins Auge gesehen und das eigene Herz trotzdem weiter schlagen gespürt. Jedes Pochen tausend Nadelstiche, jeder Atemzug flüssiges Feuer. Unfähig damit aufzuhören, egal was man will. Ein Sklave des Instinkts.

Mary Macdonald hat überlebt. Zwei Zauberkriege und all ihre Freunde. Ihren Mann. Ihre Tochter. Ihr einziges Kind. Dieses kleine, einst so winzige Geschöpf, das sie unter Höllenqualen und unvorstellbarer Liebe auf die Welt gebracht hat. Das Einzige, was sie niemals, niemals, niemals hätte verlieren dürfen.
Sie hat alles überlebt. Todesserangriffe, deren schwarze Herrschaft, quälende Flüche. Hat gehofft, gebangt und wenn sie es nicht mehr aushielt, hat sie sich gewehrt. Mit dem Zauberstab in der schwitzigen Hand, nur der unerschütterliche Glaube an das Gute ihr Schild.

Sie ist nie besonders mutig gewesen. Oder selbstlos. Oder stark. Weder damals noch heute. Sie ist humorvoll und gerecht – zumindest hat Lily das einst behauptet. Aber sie hat dennoch getan, was sie konnte. In beiden Kriegen. Denn Liebe, davon hat Albus Dumbledore früher stets gesprochen, würde immer über den Hass siegen. Und wovon trug sie schließlich mehr in sich?

Für Marlene. Für Lily. Für Alice. Dafür lohnte es sich, zu kämpfen. Für all ihre Freundinnen und Freunde – selbst für solche wie Sirius, die sie fast sieben Schuljahre lang unausstehlich fand, bevor sie die Wahrheit hinter dem ständigen Lachen und den Angebereien erfuhr.
Schon in der Schulzeit blieb sie stehen – zitternd zwar, aber trotzdem! –, wenn Evan Rosier und seine treuen Handlanger Aiden Mulciber und Severus Snape es mal wieder auf die Gryffindors abgesehen hatten. Sie fing sich Jahr für Jahr fiese Flüche in den Rücken ein und merkte dennoch kaum, welch dunkle Zukunft diese vorgeblichen Streiche einem jeden von ihnen prophezeiten. Dazu waren Krieg und Hass viel zu normal. Sie beherrschten alles, was Mary kannte.

Natürlich schloss sie sich nach der Schule ihren Freundinnen im Orden des Phönix an. Einen anderen Weg schien es gar nicht zu geben. Und sie hatte immerhin ihre Liebe als Schild. Sie fühlte sich unbesiegbar.
Bis das Schicksal sie zum ersten Mal eines Besseren belehrte. Es nahm ihr alle, die ihr wichtig waren. Zuerst Marlene, dann Lily, dann Alice. Sogar Sirius. Nichts blieb. Keine Freude, kein Glück. Jene, welche es nicht verdient hatten, lebten weiter – und mit ihnen überdauerte der Krieg in Köpfen und Herzen.

Am liebsten hätte Mary beides bei sich zum Verstummen gebracht. Wäre sie doch nur mutiger gewesen! Dann hätte sie sich zumindest selber vergessen lassen können. Nie wieder, schwor sie sich stattdessen.
Und doch schenkte das Leben ihr Jahre später einen viel stärkeren Grund, den Kampf ein weiteres Mal aufzunehmen.

Für Dugald. Für Màiri! Das war der neue Schlachtruf ihres Herzens, wieder und wieder, im Takt mit dessen Schlägen. Im zweiten Krieg kämpfte Mary für ihren Mann, der als Muggel hilflos gegen grüne Lichtblitze war. Für ihre Tochter, die jene Farbe nicht einmal kannte, weil das Schicksal sie nicht mit Augenlicht beschenkt hatte.
Der Gedanke, sie zu beschützen, bestärkte Mary trotz des ersten Kriegs. Ließ ihr Flügel wachsen, führte den Stab in ihrer Hand zum Sieg. Dieses Mal wird alles anders, schwor sie sich.

Doch was ist nun das Ende vom Lied?
Sie hat die wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren. Und das, nachdem sie allen Ängsten entgegen so hart darum gerungen hat, wieder zu lieben. Aber jetzt sind die einzigen Personen fort, die ihr geblieben sind – geblieben waren.

Mary hat überlebt. Gerade so. Zweimal.
Ein ungerechtes Wunder.
Jetzt ist sie alleine. So alleine, dass ihre Augen morgens einfach geschlossen bleiben wollen.

Im Dunkel hinter ihren Lidern ist sie nicht einsam. Wenn sie sich anstrengt, nicht zu denken, und sich nicht bewegt, dann hört sie Geräusche in ihrem stillen Haus. Nackte Füße, die über den Dielenboden rennen und klatschend auf die Treppenstufe treten. Klappernde Türen, ein lautes »Guten Morgen!« und Lachen.
Dann riecht es nach Tee. Kräutertee mit frischem Ingwer.

Dugald mag keinen Schwarztee. Und keinen Kaffee. Also füllt er sein Teesieb immer mit einer bunten Mischung aus Kräutern, die in ihrem Garten wachsen.
Wuchsen.
Bestimmt sind die Pflanzen längst der Herbstkälte zum Opfer gefallen. Mary hat sich seit dem Frühjahr nicht um sie gekümmert, nur Màiris liebste Topfpflanze hat sie gegossen. Warum auch die Kräuter pflegen? Sie trinkt keinen Tee. Nur ewig verhassten ‚Bohnensaft', wie Dugald es nennt.
Nannte.

Schon entgleiten ihr die vertrauten Geräusche. Sie presst die Lider fester zusammen. Es darf nicht sein! Da fehlt noch das Maunzen von Eddie, dem streunenden Halbkniesel, der immerzu auf dem Sims vorm Küchenfenster hockt und um sein Futter bittet.
Bat.
Er kommt nicht länger, seit Màiri ihm keine Leckerlis mehr hinlegt.

Die geisterhaften Geräusche verschwinden, schlagartig. Nur das leise Rauschen des Windes bleibt. Die Fensterläden klappern und ganz weit entfernt tickt eine Uhr, die Mary früher nie gehört hat.
Früher, als Dugald und Màiri noch lebten.

Sie reißt die Augen auf. Alleine hält sie es mit der Stille nicht aus. Lieber springt sie auf, dass die Federn des alten Bettes quietschen. Zerrt den Schrank auf. Schiebt die Kleiderbügel darin hin und her, damit ihr Metall laut über die Stange darunter schabt. Wühlt sich fluchend durch unpassende Socken und löchrige Unterwäsche, sodass die Hälfte davon auf den Boden plumpst.

Sie sucht sich Schmuck raus, der klirrend gegeneinanderstößt und putzt die Zähne so intensiv, dass die Borsten ihrer Bürste in alle Richtungen auseinanderstehen. Sie lässt den Teekessel auf ihrem Herd pfeifen, obwohl niemand da ist, um längst eingegangene Kräuter zu trinken, und rührt ihre Milch mit klapperndem Löffel in die Kaffeetasse. Und sobald sie das Haus verlässt, wählt sie die Schuhe mit dem hohlen, furchtbar klackernden Absatz, deren Leder bei jedem Schritt knirscht wie Kies unter Autoreifen.
Wie sehr Dugald sie gehasst hat. Fast so sehr wie sie.

Mary schlägt die Haustür zu und dreht den Schlüsselbund durch ihre Finger, dabei kann sie das Gefühl nicht leiden. Doch die Stille ist schlimmer. Deshalb geht sie auch am Gartenzaun entlang zur hinteren Pforte auf die Straße hinaus, anstatt den direkten Weg über die geteerte Einfahrt zu wählen.
»Guten Morgen, Mrs Macdonald!«, schallt es ihr da schon entgegen.
Pünktlich wie ein Schweizer Portschlüssel, die Nachbarin. Immer auf der Lauer hinter ihrer Lorbeerhecke. Und laut, ihre Stimme knarzt wie ein alter Ohrensessel. Musik in Marys Ohren.

»Guten Morgen, Mrs Dower«, grüßt sie zurück.
Gut. Nichts ist gut, wird es je wieder sein. Doch was weiß die Nachbarin schon? Sie glaubt, dass Dugald mit Màiri auf Kur ist. An der Küste im Süden. Sie fragt nie, wann sie zurückkehren. Der Zauber des Vergessens.

Mary ringt sich ein klägliches Lächeln ab, das ihr binnen Sekunden wieder von den Lippen rutscht, kaum dass sie ihr quietschendes Gartentor passiert. Sie läuft hinunter zur nächsten Straßenkreuzung und steigt dort in den Bus, der sie bis in die Innenstadt bringt. Von da aus nimmt sie den öffentlichen Reisekamin in einem schmuddeligen kleinen Pub, der meilenweit der einzige magische Knotenpunkt ist, sodass sie ganze 48 Minuten später im Foyer von Wilde & Smith LLP in einem Vorort Londons steht.

Natürlich hat die völlig gewöhnliche Anwaltskanzlei voller Muggel keinen eigenen Kamin für seine einzige angestellte Hexe. Von der Winkelgasse aus fährt Mary erst noch mit der U-Bahn, deren ohrenbetäubendes Rattern jeden klaren Gedanken zu den geöffneten Belüftungsfenstern hinaus weht.
Anders als ihre Mitreisenden braucht sie keinen Walkman, um mit Musikkassetten den Lärm auszublenden. Dieser Teil des Arbeitswegs ist sogar ihr liebster, obgleich das kaum einer je verstehen wird. Aber sie liebt die Schwärze der Tunnel, die an ihr vorbeizieht, und den Druck auf ihren Ohren, wenn es tief unter die Themse geht. Und manchmal hofft sie, dass das Wunderwerk der Muggel heute zusammenbricht und sie erlöst.

Erst einmal angekommen an ihrem kleinen Vorzimmerschreibtisch hat auch diese Überlegung keinen Platz mehr. Sie arbeitet mindestens acht Stunden lang und verzichtet auf eine Mittagspause, weil sie keine Zeit braucht, in der sie nutzlos herumsitzt. Ihr Chef dankt es ihr nicht – das tut er nie. Trotzdem erledigt sie fleißig ihre Aufgaben, jagt von einem Meeting zum anderen und verlässt das Büro erst nach ihm.

Für den Heimweg wählt sie denselben Weg wie morgens. Es fühlt sich an, als würde sie einen Zeitumkehrer benutzen. Alle Geräuschen werden leiser und leiser, bis die Stille sie erneut daheim begrüßt. Aber dieses Mal stellt Mary keinen Teekessel auf den Herd. Jetzt nimmt sie die Treppe in den Keller.

Vorbei ist es mit der Ruhe. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Es rauscht und knackt in ihren Ohren; ihre Handflächen schwitzen. Das harsche Klappern ihrer Absätze hallt von den Wänden wider wie in einem schlechten Film. Ein Bild, das ihr jedes Mal aufs Neue gefällt. Wenn sie sich vorstellt, dass sie nur eine Figur auf der Leinwand ist und es ein ganzes Publikum gibt, das ihr mit angehaltenem Atem zusieht, dann erfüllt sie frische Stärke.

Sie zieht den Zauberstab. Mit scharfen Schlägen haut er gegen jede Strebe des Geländers auf ihrem Weg nach unten. Das missratene Lied ist der perfekte Soundtrack in ihren Ohren. Unheilvoll, bedrohlich. Dank seiner Untermalung fühlt sie sich mächtig.
Auf einen Schlag gegen den Lichtschalter an der unverputzten Wand erwachen die Leuchtstoffröhren über ihr zum Leben. In ihrem flackernden Lichtschein vervollständigt sich die Szenerie eines Muggelkrimis, wie sie Dugald so gerne guck- geguckt hat.

Da steht ein großer Tisch, übersät mit Karten, Zeitungen und zahllosen vollgeschmierten Notizzetteln. Nur auf den klischeehaften roten Faden hat Mary verzichtet. Heute braucht sie ihn ohnehin nicht länger. Mehr aus Gewohnheit denn aus Nutzen wirft sie den neusten Tagespropheten, den sie auf dem Heimweg im Pub mitgenommen hat, auf die Stapel aus gilbendem Pergament.

Sein Name steht drei Mal darin. Drei vollkommen nutzlose, belanglose Erwähnungen. Niemand weiß, wo er ist. Wie er sich schon so lange der Festnahme durch die Auroren entziehen kann. Sie spekulieren, seit Wochen. Eines muss man den Journalisten lassen – sie werden immer kreativer in ihren Erklärungsversuchen.

»Ein Geheimversteck in den Anden«, rezitiert sie kühl, »würde dir das gefallen?«
Keine Antwort.
»Das hab ich mir gedacht. Du bist kein Typ, der Lamas gern hat. Da wäre schon eher die Finca auf einer Mittelmeerinsel dein Stil.«

Das leise Zähneknirschen ist ihr Reaktion genug. In einer Welt der Stille ist es laut wie eine Explosion.
Sie lächelt. »Schon klar, du magst zu viel Wärme nicht. Das weiß ich doch. Das sind die Nachwirkungen aus deiner Zeit in Askaban. Deshalb bist du schließlich hier unten. Damit du dich ganz wie zuhause fühlst.«

»Dir fehlt doch nur der Mut.«
Seine Stimme ist rau wie unverputzte Beton, auf dem er sitzt. Man hört ihr an, dass er sie nicht mehr oft benutzt dieser Tage. Oder es liegt daran, dass er sein Leben immerzu mit Schreien gefüllt hat. Gebrüllte Flüche im Krieg, zorniges Flehen in Askaban. Wie dem auch sei – er hat schnell gemerkt, dass ihre Schallschutzzauber mächtiger sind.

Mary umklammert den Zauberstab fester. »Wenn ich keinen Mut hätte«, zischt sie, »säßest du längst in der Antarktis.«
Er lacht. Langsam aber sicher kippt der Krimi in einen Thriller, während sein Glucksen von den nackten Wänden widerhallt, wie der Wahnsinn im Inneren, den seine Augen spiegeln.
»Falsch. Du bist verzweifelt, nicht mutig. Und zweitens – ich wäre nicht geflohen.«

»Hast du wirklich nicht begriffen, dass es vorbei ist?« Anstatt eine Antwort abzuwarten, schreitet Mary zu dem Vorratsregal hinüber, das Dugald unbedingt anlegen wollte. Für schlechte Zeiten. Wenn er doch nur geahnt hätte, wie schlecht sie werden würden. »Bohnen oder Nierenpastete?«
Da die Erwiderung ausbleibt, langt sie nach der Dose, deren Haltbarkeitsdatum am stärksten überschritten ist. Februar 1998 – länger haben Dugald und Màiri auch nicht leben dürfen. Eine passende Mahlzeit für ihren Mörder.

Mary trägt die auserkorene Konserve mit Bohnen in Tomatensoße zu dem Tisch in der Kellermitte und greift den Dosenöffner. Sicher, ihr Zauberstab könnte das hier in Sekunden erledigen, aber das wäre leise und würde ihren Gefangenen viel zu wenig ärgern. Das Weißblech knirscht, sobald sie das unhandliche Werkzeug ansetzt.

Ihr üblicherweise sehr unkommunikativer Gast lehnt den Kopf zurück und schnalzt mit der Zunge. »Nichts ist vorbei.«
»Ach ja?« Mary unterdrückt einen saftigen Muggelfluch, als der Dosenöffner abrutscht und nur eine Delle im Deckel hinterlässt. »Nun, dann erinnere ich dich gerne – ihr habt den Krieg verloren. Endgültig! Dein Herr ist tot! Es gibt Fotos von seiner Leiche.«
Leises Schnauben. »Ich weiß. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er gestorben ist. Und meine Frau mit ihm. Warum erinnerst du mich nicht zur Abwechslung mal daran? Willst du mich nicht richtig quälen?«
»Als wenn dich das kümmert.«

»Nur weil ich nach ihrem Tod nicht aufgegeben habe, unsere Ziele zu verfolgen?« Gekonnt zieht er eine Augenbraue hoch. Der Ausdruck könnte provokant sein, aber die wochenlange Gefangenschaft zeigt ihre Spuren, indem das Funkeln in seinen Augen viel zu schnell erlischt. »Die Welt dreht sich weiter. Das hab ja sogar ich verstanden. Der dunkle Lord wird nicht zurückkehren, aber sein Andenken kann ich bewahren. Seine Ziele können immer noch Wirklichkeit werden. Dieses Wissen ist stärker als jede Trauer.«

»Pah!« Genervt schmeißt Mary den Dosenöffner auf die Pergamente und verschlingt stattdessen die Arme vor der Brust, ihr Kinn stolz gereckt. »Wüsstest du, was Trauer ist, wäre es mir nicht gelungen, dich so einfach zu stellen.«
»Glaubst du immer noch, ich könnte dieses Gefühl, was dir so allerheiligst ist, nicht auch für meine überaus wundervolle Ehefrau empfinden?«
»Vergleich sie nicht mit Dugald!«

Zu spät bemerkt Mary, dass ihre Stimme sich in die Höhe schraubt. Sogar gefesselt und in einen alten Hundezwinger gesperrt ist ihr Gegenüber gefährlich. Nicht umsonst ist er der meistgesuchte Zauberer des Landes. Sie begreift ja selber nicht, wie es ihr gelungen ist, sein Vertrauen zu gewinnen – und zu missbrauchen.

»Dafür, dass du all das hier angeblich aus Liebe tust, weißt du erschreckend wenig darüber, welche Formen sie alle annehmen kann«, spöttelt er. Er macht sich nicht länger die Mühe, Gegenwehr vorzutäuschen. Im Gegenteil, nun klingt er bloß müde. »Beendest du es jetzt endlich? Oder wartest du, dass du noch den Spaß an Folter entdeckst? Soll ich dir dabei helfen? Dann hätte das hier wenigstens noch einen Sinn.«
Sie öffnet den Mund – und schließt ihn wieder.

»Glaub mir, wenn man es einmal ausprobiert hat, wird es nur besser. Vielleicht sollte ich dir erzählen, wie es sich angefühlt hat, der lieben Alice '81 in die Augen zu schauen?« Er schiebt die Lippen zurück und enthüllt eine Reihe fauliger Zähne. Dann seufzt er. »Es wäre bestimmt schön für dich, mir genauso beim Vergessen von allem, was mir wichtig ist, zuzusehen, bis du durch das Loch in meiner Seele gucken kannst. Diese Rache könnte ich sogar verstehen.«

»Nein!«, stößt sie gepresst hervor. Ein Erumpent scheint auf ihrer Brust zu sitzen. Selbst dieses kleine Wort auszusprechen tut weh. Sie gräbt die Fingernägel in ihre Handfläche und strafft die Schultern, denn das machen die Kommissarinnen in den Krimis so. »Nein«, sagt sie noch einmal nachdrücklicher, als würde davon irgendwie das Bild von Alice' leeren Augen aus ihrem Kopf verschwinden.

»Weshalb laberst du mich sonst seit Wochen voll? Sehnst du dich vielleicht nach meiner Gesellschaft? Ah nein, das kann ja nicht sein. Du verurteilst mich schließlich dafür, dass mir nach dem Tod meiner lieben Bella etwas ... körperliche Abwechslung willkommen gewesen wäre. Wahrscheinlich mehr als für jeden Mord an einem dreckigen Muggel.«
»Du –!«
»Ja ja. Außer natürlich dem an deinem Ehemann und eurem Gör. Wie konnte ich die beiden schon wieder vergessen? Du gibst dir schließlich größte Mühe, ihr Andenken mit Füßen zu treten.«

Mary fehlt die Sprache. Plötzlich sind all die wütenden, höhnischen Erwiderungen, die sich in ihrer Brust zusammengebraut haben, weg. Einfach fort. Zurück bleibt nur ein Stammeln.
Ihr Ringen um Worte erinnert sie an den furchtbaren Fluch, mit dem Aiden Mulciber sie in der fünften Klasse getroffen hat. An die Wochen, in denen ihr trotz aller Verzweiflung nur fremde Sprachen über die Lippen kamen und ihr eigener Kopf nicht mehr verstand, was sie sagte, bis sie vor Scham ganz verstummte.
Nie wieder! Nie wieder wollte sie diese Kontrolle verlieren!

Ihr Gefangener quittiert ihr Stocken mit einem gehobenen Mundwinkel. Sein hageres Gesicht verkommt zu der grotesken Maske eines einst gefährlich charmanten, schönen Mannes. Mary hat die Bilder gesehen. Himmel, selbst jetzt sieht er im richtigen Licht nur halb so übel aus.
»Der Tod ändert rein gar nichts am Leben«, säuselt er. »Irgendwann begreifst du das schon.«

Blitzschnell hat sie den Zauberstab auf ihn gerichtet. »Sicher?«
»Ich hab längst meinen Frieden mit der Stille geschlossen. Hatte ja genug Zeit.«
Er starrt sie aus tiefen Schatten an. Sieht ihr geradewegs in die Augen. Und wieder hat er recht. Wieder hat sie Angst vor dem Nichts am Ende des Fluchs, der sich in ihrer Mitte zusammenbraut.

Mit einem Ruck wendet sie sich ab. Heute ist nicht die Zeit. Erstmal muss sie das Problem mit seiner Beseitigung lösen. Genau. Es soll schließlich alles wasserdicht sein. Unauffällig, schnell und elegant. Niemand darf sie verdächtigen. Um die Stille kann sie sich auch morgen sorgen. Wenn sie weiß, ob sie ihn im Gamot aufknüpft oder doch lieber den Brunnen im Ministeriumsfoyer mit seinem Blut tränkt.

Sie stolpert zurück ins Erdgeschoss und treibt die Stille vor sich her wie eines der Lamas, die Rodolphus Lestrange nur in der Fantasie eines Journalisten hütet. Erst im Wohnzimmer erinnert eine leise Stimme im Hinterkopf sie daran, weshalb sie überhaupt im Keller war. Die Bohnen.
Egal. Rodolphus Lestrange wird einen Tag ohne Essen auskommen. Er soll eh nicht mehr lange auf Erden weilen.

Auf einen Zauberstabschwenk hin erwacht das magische Radio zum Leben. Gleich darauf folgt der Fernseher und zuletzt legt Mary eine von Dugalds alten Schallplatten auf. Es ist eine Kakophonie der Schrecklichkeit. Sie hofft, dass ihr Gefangener im Keller auch etwas davon hat. Soll es seinen Wahnsinn nur verstärken, während sie die Details seines Todes ausarbeitet.
Er wird ein Symbol sein. Ein Zeichen der Gerechtigkeit!

Mit zitternden Händen hebt sie die Haube von der Nähmaschine auf dem Esstisch. Noch ein Andenken an Verlorenes. Im doppelten Sinne, gehörte sie doch einst Dugalds Mutter. Ein kleines Wunderwerk der Technik – und vollkommen überflüssig in einer Welt der Magie. Löcher in alten Kleidern lassen sich in einem Zauberstabschwenk beseitigen und neue Nähte heften sich durch etwas Hexenwerk von ganz alleine. Dazu muss man nicht mal eine Madam Malkin sein.
Und dennoch liebt Mary das Ungetüm aus rostfreiem Stahl und Kabeln, welches sein Dasein einst auf ihrem Dachboden fristete, genau dafür. Es schafft, was sie mühelos aus dem Handgelenk schütteln kann, begleitet von Rattern, Klackern, Surren und dem ein oder anderen Knall. Wenn ihr ganzer Körper vor Nervosität unter Strom steht, wandelt sie ihn an der Maschine in Entschlusskraft.

Jeder Handgriff verlangt absolute Konzentration. Die richtige Stichlänge will eingestellt werden. Das Garn darf nicht zu straff gespannt werden. Der Stoff muss behutsam geführt werden. Erst wenn sie all das beachtet, belohnt die Nähmaschine Mary mit dem Schnurren eines Kniesels. Dann gibt es nur noch sie und die Nadel, die den Baumwollcanvas hundertfach in der Minute durchlöchert. Wieder, wieder, wieder.
Im Schaffensrausch sind ihre Hände zu beschäftigt, um länger zu zittern. Ihr Fuß tritt das Nähpedal und ihre Augen können nur dem Material folgen. Aber in ihrem Kopf lichtet sich in solchen Momenten der Nebel. Plötzlich scheint die Antwort auf sämtliche Probleme klar vor ihr zu liegen.

Normalerweise jedenfalls. Heute reißt das Nähgarn nach den ersten Stichen.
»Es ist an der Zeit, die Vergangenheit zu überwinden.«
Mary schnappt Luft. Sie wirbelt herum. Doch da ist niemand hinter ihr. Natürlich nicht. Auf der Schallplatte verklingt das erste Lied, im Fernsehen hält das Publikum einer Quizshow gespannt den Atem an und im Radio ...

»Die Enthüllung des neuen Denkmals in London ist ein wichtiger Schritt, damit uns, als magischer Gemeinschaft, genau das gelingt. Wir müssen uns nicht nur erinnern, sondern neuen Mut für die Zukunft fassen. Diese Hoffnung fängt das Werk der Künstlerin in meinen Augen gelungen ein. Wir gedenken mit dem ersten gemischt-magischen Denkmal in der Muggelwelt nicht nur den unschuldigen Opfern des Kriegs, sondern versprechen uns selber, über den Hass zu steigen.«
Der Sprecher des magischen Rundfunks klingt beinahe gelangweilt, während er diese Zeilen vorträgt.

Das Zittern kehrt in Marys Finger zurück.
»Nachdem wir erfolgreich eine Menge Aufbauarbeit geleistet haben, ist es nun endlich Zeit, wieder nach vorne zu sehen, erklärte Pirneäus Prewett aus dem Ministerium in seiner Festrede. Die letzten Schäden der Kämpfe sind in diesen Wochen beseitigt worden, sodass unter anderem der Schulbetrieb ohne weitere Beeinträchtigungen fortgeführt werden kann. Damit wird der Notstand nun endlich für beendet erklärt.«

Ihr erster Instinkt ist lachen. So absurd sind diese Worte. Als wäre irgendwas gut, nur weil in Hogwarts' Außenmauern keine Löcher mehr klaffen! Kommen davon Dugald und Màiri wieder?
Nein. Weil es keinen Zauber gibt, der das Leben einfach umkehrt. Wie kann das Ministerium sich ernsthaft für ein paar Reparos so loben? Da draußen laufen immer noch Todesser frei rum! Wenn sie selber nicht alles getan hätte, um Rodolphus Lestrange zu finden, dann würde er weiter Menschen umbringen!
Anstatt des Lachens dringt ein Schrei aus Marys Kehle. »Ihr verdammten Wichser! Ihr Heuchler! Ich will kein Denkmal! Ich will meine Tochter! Gebt mir mein Baby zurück!«

»Pirneäus Prewett verkündete stellvertretend für das Ministerium, dass nun die Zeit der Versöhnung eingeleitet sei. In den kommenden Wochen wird das Gamot daher auch über den Gesetzesvorschlag zum Resozialisierungsprogramm für ausgewählte Todesser der zweiten und dritten Generation abstimmen, den Minister Shacklebolt erst letzte Woche vorgestellt hat. Damit soll jungen Menschen, die vor allem durch ihre familiäre Situation in Voldemorts Kreise gelangt sind, eine neue Chance gegeben werden, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.«

Marys Faust landet krachend auf der Tischplatte. »Nein!«
Dann stößt sie die Nähmaschine um. Stoff reißt, das Parkett ächzt. Etwas rollt über den Fußboden davon – vielleicht die Spule Nähgarn. Doch es ist nicht genug. Es ist nie genug. Es darf nicht sein, dass alle Welt denkt, es wäre so schnell vorbei!
Zukunft – wie kann es eine Zukunft geben, wenn ihre Vergangenheit tot ist?

»Kommen wir nun zum Wetter ...«
Mary hört nicht mehr, ob es morgen regnen soll. Nicht, dass das überhaupt eine Rolle spielt. In ihren Ohren pfeift der Teekessel, den sie so schrecklich vermisst. Grell und hoch, ein Geräusch, das alle anderen ertränkt. Selbst ihre Schritte auf der Kellertreppe kommen nicht dagegen an.
Und dann erblickt sie ihn.
Den Teufel. Den Mann, der an allem Schuld hat.

»Du willst also sterben, Rodolphus Lestrange?«
Ihr vorgestreckter Zauberstab sticht durch die Gitterstäbe geradewegs in seine Kehle. Er gluckst trotzdem.
»Von wollen kann nicht die Rede sein, Mary. Ich muss – nicht wahr? Die Frage ist nur wie. Wann. Ob es Mord sein wird.«

Der Fluch steckt in ihrem Hals wie ein heißes Stück Kartoffel, zu hastig runtergeschluckt. Es brennt. Sie weiß nicht, was schlimmer wäre – schlucken oder ihn hochwürgen.
Rodolphus Lestrange lehnt seinen Hinterkopf gegen die Gitterstäbe. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, flüstert er heiser. »Du kannst nicht gewinnen. Glaub mir. Kein Fluch wird je genug sein. Du hast verloren, als du dich auf diesen Weg begeben hast. Es wird dich auffressen. Und irgendwann wirst du mich verstehen.«

»Ich bin nicht wie du.« Mary ist nicht sicher, ob sie es sich einbildet, doch unter dem Piepen in ihren Ohren scheint ihre Stimme unheimlich leise.
»Nein. Aber auch nicht besser.«
Gebannt sieht sie, wie Rodolphus Lestrange sich über die rissigen Lippen leckt. Das Teekesselpfeifen wird lauter.

»Rache ist keine Gerechtigkeit, Mary. Sie ist besser. Das Problem ist nur, dass sie nichts ändert. Oder glaubst du, ein einziger Tod wird aus Regen Sonnenschein zaubern? Oder die Welt ändern?«
»Nicht irgendein Tod. Dein Tod. Er wird das Ministerium an seine Pflicht erinnern!«
»Und? Was wird das für dich ändern? Du wirst trotzdem immer wissen, dass mir alles egal war. Alice Longbottom ist mir egal. Es ist mir egal, deinen Mann und deine Tochter getötet zu haben. Glaubst du, sie werden stolz auf dich sein? Erst verführst du ihren Mörder und dann wirst du selber eine –«

Schrilles Kreischen verschluckt seine Worte.
Das Teewasser. Es kocht längst. Oh, wie hasst sie es, wenn Dugald den Kessel vergisst! Jedes Mal muss sie ihn selber von der Kochplatte nehmen!
Zitternd weicht Mary von dem Zwinger zurück. Nein. Das ist falsch ... Sie muss weg; nach oben, bevor der Wasserdampf alles vernebelt –

Mit dem Rücken stößt sie gegen den Tisch. Ihr Zauberstab rollt klappernd über den Betonboden davon. Rodolphus Lestrange lehnt sich vor und lächelt.
»Vielleicht sollte ich lieber dich erlösen?«
»Halt die Klappe ...« Sie greift hinter sich. Kalt presst sich der Dosenöffner in ihre Handfläche.
»Wäre es so rum nicht einfacher?«
Sie ballt die Finger zur Faust.
»Ich mein ja nur. Dann wärt ihr wiedervereint.«
Ihr Herz rast.
»Du hast doch keine Zukunft, Mary.«

Alice' Schreie hallen durch ihren Kopf. Vermischen sich mit Dugalds, Màiris.
»Halt die Klappe!«, brüllt sie. Vielleicht ist es aber auch nur sehr lautes Flüstern. »Ich will deine Lügen nicht hören!«
Rodolphus lacht.
Das ist es. Der Teekessel kocht über. Wild schäumend bricht das Wasser hinaus und tropft auf die Herdplatte. Das Zischen vermischt sich mit den Schreien. Der Lärm ist so betäubend, dass er sogar ihre Sicht vernebelt.
»Schweig!«

Klang!
Der Dosenöffner trifft auf den Boden. Hinter den Gitterstäben. Im selben Atemzug verstummt der Teekessel. Und mit ihm die ganze Welt.
Mary erstarrt. Sieht auf ihre leere Hand. Dann zu dem Zwinger.
Wo eben noch der Teufel aus tiefdunklen Augen zu ihr aufsah, herrscht nun das Nichts. Kein Wahnsinn mehr, keine Müdigkeit, nicht mal Angst oder Freude. Einfach nur ... nichts.

»Nein.«
Sie schüttelt den Kopf. Es kann niemals so leicht sein! Es muss mehr Kraft verlangen, als es gebraucht hat, um Rodolphus' Zauberstab zu entzweien! Ein Leben kann nicht zerbrechen wie ein Stück Holz über dem Knie. Unmöglich.

Und doch ... sie wirft sich auf ihren Stab, der genau vor den Gittern liegen geblieben ist. Bebend stößt sie ihn gegen Rodolphus Lestranges stoppeliges Kinn.
Sein Kopf sackt zur Seite wie der einer Puppe. Ein dünner roter Faden schlängelt sich seine Schläfe hinab. In der Ferne hört sie ganz leise das Fernsehpublikum johlen.
»Nein!«

Mary weiß nicht, ob sie flüstert oder schreit. Ob ihr überhaupt ein Laut über die Lippen kommt. Die Stille in ihrem Inneren ist mächtiger.
»Nein ...«
Sie stößt den Zauberstab fester gegen seine Kehle. »Rennervate!«
Nichts.
Ihr Plan ist Wirklichkeit geworden.
Sie hat Rodolphus Lestrange getötet. Den schlimmsten aller Todesser.

Ein heiseres Kichern kitzelt sie im Hals. Gleichzeitig füllt heißer Wasserdampf ihre Augen.
Irgendwie taumelt sie zurück ins Erdgeschoss. Blind finden ihre Füße den Weg in den Flur. Doch sie schafft es nur bis zur Kommode unter dem Spiegel. Dort geben ihre Knie nach. Wie eine Schiffbrüchige muss sie sich an dem Möbelstück hochziehen.
Einatmen.
Ausatmen.

Der Topf mit Màiris liebsten Blumen gerät ins Wanken. Mary sieht zu. Er neigt sich zur Seite, verliert den Halt, feuchte Erde kippt heraus. Dann ein lauter Knall, Scherben. Ihre Zehen sind nass und sie starrt auf das Chaos zu ihren Füßen. Auf das Wasser, das in jede Ritze sickert.
Sie kennt den Zauberspruch. Reparo. So simpel. Ein Schlenker im Kreis, gegen den Uhrzeigersinn. Hat sie sich ja erst vorhin drüber lustig gemacht. Doch stattdessen sinkt sie zurück auf die Knie. Hat nur Augen für die Blütenblätter, die sich durch den Sturz von einer Knospe gelöst haben. Und sie weint, obwohl es vorbei ist. Dieses Mal sitzt sie nicht zwischen den Scherben ihres Lebens und sieht einer anderen Flüssigkeit beim Versickern zu. Warum fühlt es sich dann so an?

Das ist, was sie wollte. Was die Welt braucht.
Ein Zeichen. Rodolphus Lestrange kann seine letzte Aufgabe immer noch erfüllen. Sie muss nur aufräumen, es in Ordnung bringen –

Das Denkmal!
Ihre Hände ballen sich zu Fäusten.
Ja. Das ist perfekt. Dort wird sie es beenden.
Morgen.
Morgen wird sie glücklich sein.

»Guten Morgen, Mrs Macdonald!«
»Guten Morgen, Mrs Dower.«
Mary lächelt schmallippig und geht die Straße hinab, als sei es nur ein weiterer Morgen, an dem Dugald mit Màiri zur Kur gefahren ist. Wie eine Frau, die schnell vergessen wird und ganz sicher kein dunkles Geheimnis bei sich trägt.
Die Nachbarin denkt wahrscheinlich nicht einmal zwei Sekunden über ihre Wortwahl oder diese Begegnung nach – während Mary eine Leiche in ihrer Handtasche transportiert.

Vielleicht wäre Professor McGonagall dieses eine Mal endlich stolz auf ihr Verwandlungsgeschick. Aus Rodolphus Lestrange ein Blümchen zaubern, das dürfte eigentlich unmöglich sein. Ein so hässlicher Mensch hat solch ein Ende kaum verdient. Aber Mary hat es geschafft. Genauso wie sie sein Leben mühelos beendet hat.

Es ist alles viel zu leicht. So leicht wie die schlanke Lilie in ihrer Handtasche, die sie in eine Serviette gewickelt und zur Sicherheit in eine alte Brotdose gelegt hat.
Die Stimme, die ihr sagt, dass das nicht sein darf, ist jedoch leiser als ihre Schritte auf dem Asphalt, das Rattern der U-Bahn oder die schnatternden Gruppen aus Touristen. Irgendwo zwischen der Winkelgasse und dem Embankment erstickt sie endgültig und alles, was bleibt, ist das gleichmäßige Geräusch ihres Atems.

Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Bis sie vor dem glatten, schneeweißen Obelisken steht, um den herum sich die Muggelschar teilt wie ein Fischschwarm. Links und rechts hetzen die Menschen weiter, nur Mary bleibt stehen.

Auf den ersten Blick wirkt das Denkmal vollkommen blank – erst bei näherem Hinsehen erkennt sie, dass jeder Zentimeter des Steins mit feiner Schrift versehen ist. Ohne Punkt und Komma reihen sich die Namen auf ihm aneinander, ein einziger, nicht enden wollender Bandwurm aus Buchstaben. Hitchinsmclellantonksburgessnortonbryce. Zusammen sind sie nichts als Kauderwelsch, ihre Geschichten nur eine ferne Erinnerung. Und selbst hier kann sie Macdonald nicht entdecken.

Dann verwandelt sich die Säule vor ihren Augen. Worte und Schicksale verschwimmen, als aus dem schlichten Stein drei Körper werden, die einander eng umarmen. Es gibt keine Gesichter. Man kann nicht mal erkennen, welches Geschlecht die Personen haben – und im Endeffekt ist das auch egal. Eine Figur trägt einen Spitzhut und Umhang, die nächste hält zumindest einen Zauberstab und die letzte ...

Mary streicht mit den Fingerspitzen über die steinernen Schultern mit der kurzen Jacke. Dugald hat diese Kleidung immer praktisch genannt. Irgendwann hat sie es lieben gelernt. Ihn und seine ganze Welt.
So soll es sein. Nun, wo sie hier steht, fügt sich alles. Jetzt weiß sie, warum es gestern geschehen musste. Die Zauberwelt hat sie vielleicht enttäuscht, aber dafür bringt sie ihren geliebten Menschen die Gerechtigkeit, die ihnen zusteht. Egal, was Rodolphus Lestrange gesagt hat.

In einem typischen Muggelfilm ist nun die Stelle erreicht, an der die Streichinstrumente im Hintergrund einsetzen und das Publikum seufzt. Mary kann es genau hören. Die Gefahr ist gebannt, der Mörder verurteilt. Gleich kommt der Abspann.

Der Spruch, mit dem sie die Lilie haltbar zaubert, geht ihr ganz leicht von der Hand. Hundertmal hat sie Blumen von Dugald damit versehen. Rosen, Sonnenblumen und Tulpen. Es fühlt sich falsch an, es mit einem Menschen – nein, einem Körper – zu tun. Und doch so richtig. Wenn Dugalds Grab leerbleiben muss und Alice als lebende Tote ihr Dasein fristet, dann darf auch Rodolphus Lestrange diese letzte Ehre verwehrt werden.

Mary schiebt die Lilie in die Hand der Muggelstatue, dort wo seine zwei Gefährten den Zauberstab halten. Die Kuhle im Stein scheint geradezu dafür gemacht. Womöglich ist die Künstlerin ja gar nicht so einfältig wie der Moderator des magischen Rundfunks, der ihr Werk so lieblos beschrieben hat. Vielleicht wusste sie von Anfang an, was ihrer Arbeit fehlt.
Ein Lächeln zupft an Marys Mundwinkeln.

Nein, es ist nicht alles gut. Aber sie hat ihren Beitrag geleistet, damit es das werden kann. Sie ist keine Verrückte. Bloß gerecht. Nach all den Jahren in einer Anwaltskanzlei muss sie es ja wissen. Sie hat genug Ungerechtigkeit gesehen.

Die Arme um den Oberkörper geschlungen, sieht sie sich zu beiden Seiten um. Keiner der Umstehenden nimmt Notiz von dem Denkmal. Die Touristen fotografieren die Themse und ein paar Kinder füttern die Möwen mit ihren Fish'n'Chips. Hin und wieder lugt die Sonne hinter den Wolken hervor, doch es weht ein kalter Wind.
Das wiederum ist gut. Dann gibt es keine Zeugen.

Warum nur ist es trotzdem so schwer, zu gehen? Der Abspann ihres fiktiven Films nähert sich dem Ende – dem Happy End – und doch ...
Langsam verlässt die Muskeln in Marys Wangen ihre Kraft. Zurück bleibt Müdigkeit. Obwohl sie heute nicht gearbeitet hat, ist das Gefühl schlimmer als an einem Tag voller Überstunden. Am liebsten würde sie ihren Kopf gegen den Stein betten.
Sie muss nach Hause. Dort findet sie neue Kraft. Ganz bestimmt. Bevor sie noch jemand beobachtet, wendet sie sich raschen Schrittes ab.

Auf dem Heimweg ist es ausschließlich Gewohnheit, dass sie den Schlüsselbund unaufhörlich durch die Finger klimpern lässt. Nicht der Tremor in ihren Gliedern ist schuld. Auch nicht ihr alter Bekannter, die Stille. Die drückende, drückende Stille; schwer wie ein Leichentuch ...

Mary beschleunigt ihre Schritte. Lediglich der wacklige Absatz hält sie davon ab, ins Rennen zu verfallen. Und vielleicht ein klein wenig die Nachbarin, die jederzeit hinter den Vorhängen nach draußen spähen könnte.
Endlich erreicht sie die Haustür. Zittrig rammt sie den Schlüssel ins Schloss, um ihn so herrlich rasselnd umzudrehen – doch er lässt sich gar nicht bewegen. Die Tür ist offen.

Hat sie etwa nicht abgeschlossen, als sie gegangen ist? Nach all den Wochen, in denen es nichts Wichtigeres gab?
Sie dreht den Knauf. Ein leises Klicken ertönt. Mit der Schuhspitze schiebt Mary die Tür nach innen. Es knarzt.
Die Scherben sind fort. Keine losen Blütenblätter, kein vergossenes Wasser mehr. Aber das ist nicht alles. Da, wo seit Monaten nur Stille war, warten Geräusche.

Sind das Stimmen in ihrem Haus? Sie klingen so fern, doch auf der Straße hinter ihr ist weit und breit niemand.
Und plötzlich kommen Rodolphus' Worte ihr wieder in den Sinn. Zukunft. Hat sie eine Zukunft?
Beide Füße auf der Türschwelle hält Mary inne. Lauscht.

Da!
Ist das ...?
Ein Pfeifen.
Ganz sicher.
Und da – Gelächter!

Ein wohlbekanntes Geräusch.
Mehr – ein geliebtes Geräusch.
Nicht die Stimme eines Auroren.
Die Vergangenheit schält sich aus dem Laut wie ein Schmetterling aus der Raupenhaut.

.
.
.

Auf dem Herd pfiff der Teekessel. Typisch. Wieder mal hatte Dugald ihn vergessen. Stattdessen hörte Mary ihn im Wohnzimmer, zusammen mit Màiri. Ihr geteiltes Kichern übertönte das Poltern ihrer Stiefel im Flur.
Doch ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als Mary den Grund für ihre Weltvergessenheit vernahm. Das laute Vibrato von vorsichtig angeschlagenen Saiten füllte ihre Ohren, gefolgt von einem harschen ‚Plonk'.

»Oh, das fühlte sich wieder unharmonisch an.«
»Macht nichts, deiner Mutter ist das anfangs auch häufiger passiert, obwohl sie die Noten lesen konnte. Versuch's einfach noch mal!«

Dugald hatte also ihre alte Gitarre vom Dachboden geholt. Dabei hatte sie ihm immer gesagt, dass er diese Jugendsünde bloß vergessen sollte. Rückblickend war es Mary nur peinlich, dass sie 1982 überzeugt gewesen war, mit ein paar dahingeklimperten Liedern einen ganzen Krieg verdrängen zu können.

Trotzdem verharrte sie mit einer Hand am Treppengeländer. Ihr Herz kannte die Akkorde, deren Echo durch den langen Flur zu ihr wehte. In- und auswendig. Hundertmal hatten ihre tauben, von Hornhaut überzogenen Fingerspitzen sie den Saiten entlockt. Alleine, auf ihrem Bett in der kleinen Einzimmerwohnung, die sie im Frühjahr '82 auf der Suche nach einem Neuanfang bezogen hatte. Damit für die Stille kein Platz in ihrem Leben war.

»Wusstest du, dass ich so deine Mutter kennengelernt habe?«, durchbrach Dugalds Stimme die Melodie mit seinem ganz eigenen schottischen Singsang. »Wegen diesem Lied?«
»Was – echt?« Màiris Hände übersprangen die nächsten Noten.
»Ja. Ich habe in der Wohnung unter ihr gelebt und ich sag dir, ich hab sie gehasst
»Warum?«
Die echte Bestürzung in der Stimme ihrer Tochter ließ Mary schmunzeln.

»Na, sie hat jeden Tag dieses Lied geübt. Jeden Abend durfte ich mir in meinem Wohnzimmer anhören, wie sie immer wieder dieselben falschen Akkorde anschlägt. Da musste ich irgendwann bei ihr klingeln. Aber als sie schließlich vor mir stand ... wollte ich mich gar nicht mehr beschweren. In dem Moment muss mich Amors Pfeil erwischt haben.«
»Urgh, Dad! Warum musst du so kitschig sein?«
Màiri schlug absichtlich hart gegen die Saiten und beide lachten über den Lärm, bevor sie ihr Spiel wieder aufnahm.

Mary zog ihren Zauberstab aus der Manteltasche. Zusammen mit den Schlüsseln legte sie ihn auf der Flurkommode ab.
Wie es die Motte zum Licht zog, folgte sie der Melodie Richtung Wohnzimmer. Sie merkte kaum, dass alles um sie zu dem schwachen Abdruck eines überbelichteten Fotos verblasste. Selbst dass der Teekessel abrupt verstummte, wurde egal.

Vielleicht hatte Rodolphus Lestrange unrecht und es gab doch so etwas wie Frieden. Mary atmete tief ein. Vielleicht wartete er am Ende aller Lieder. Vielleicht war es an der Zeit, mutig zu sein.
Sie trat über die Schwelle.
»Mama!«

Die letzte Note verklang und verwebte sich mit der Stille, bis man nicht sagen konnte, wo das eine anfing und das andere aufhörte.

E N D E

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