07 | Ein Weihnachtsgeschenk für Hogwarts
Der Krieg ist vorbei, die Carrows fort, Minerva Schulleiterin – und dennoch bleibt ausgerechnet zu Weihnachten eine gewisse Kälte in Hogwarts' Mauern. Wo sind all die Misteln und singenden Ritterrüstungen hin? Minerva begibt sich auf einen Spaziergang durchs nächtliche Schloss, der sie zu einer unerwarteten Entdeckung führt.
Im Kamin knisterte es laut. Für einen Augenblick fürchtete Minerva unangekündigten Besuch – doch es war nur ein zerfallender Holzscheit, der Funken in die Luft schickte. Schon senkte sich wieder dicke, schläfrige Schneestille über ihre Räumlichkeiten. Zusammen mit dem Mondlicht von draußen, das sich in den Eisblumen am Fenster brach, wirkte das spätnächtliche Adventsidyll perfekt. Sogar der Duft frischgebackener Ingwerkekse lag noch in der Luft, obwohl das Backen bereits einige Stunden – und mehrmaliges Stoßlüften – her war.
Minerva saß in ihrem liebsten purpurnen Samtsessel, die Füße auf einem Schemel vor dem Kaminfeuer, eine schottengemusterte Decke über sich und ein dickes Buch im Schoß. Nach all den Korrekturen von Hausarbeiten, Elterngesprächen und Lehrerkonferenzen hatte sie sich diese Pause mehr als verdient. Sogar zu einem Schlückchen feinsten Whiskys hatte sie sich hinreißen lassen. Dieser Abend sollte alleine ihr gehören.
Wenn sie sich denn wenigstens länger als zwei Sätze auf ihren Muggelkrimi konzentrieren könnte ... Zuerst war es das Kissen in ihrem Rücken gewesen, das irgendwie gedrückt hatte. Dann hatte sie das leise Ticken einer Uhr geärgert, gefolgt von einem Fleck auf ihren Brillengläsern. Schließlich war ihr zu kalt geworden und sie hatte eine dickere Decke holen müssen.
Dabei hatte sie es versucht. Wirklich. Immer wieder hatte sie auf die Seiten gestarrt und sich fest vorgenommen, endlich keinen Gedanken mehr an ihre Umwelt zu verschwenden. Aber dann hatte die Protagonistin schon im ersten Kapitel eine unerklärliche Schwärmerei entwickelt, nur weil sie die Augen eines Polizisten so toll fand. In den folgenden Szenen hatte sich lächerlich wenig an dem eigentlichen Kriminalfall und sehr viel hinsichtlich der Zungenakrobatik beider Hauptfiguren getan, sodass Minerva inzwischen überzeugt war, ihr Glück nicht in dieser Geschichte zu finden.
Seufzend legte sie das Buch auf den Tisch neben ihrem Sessel. Es war ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von ihrem jüngeren Bruder Malcolm gewesen und sie wollte ihm wirklich keinen schlechten Geschmack nachsagen, aber manchmal ... da wunderte es sie ehrlich, welchen Schund er mit der größten Begeisterung las. Zur Abwechslung hatte sie gehofft, auch etwas von der Zerstreuung zwischen den Seiten zu finden, die er ihr gegenüber immer wieder beschwor.
»Einfach mal nicht denken müssen«, pflegte Malcolm zu sagen, »sondern sich so ganz ohne schlechtes Gewissen treiben lassen, nur dafür sind diese Bücher da.«
Letztlich hatte Minerva sich darin wohl schon immer von ihrem Bruder unterschieden. Sie konnte einfach nicht nicht denken. Wenn etwas sie beschäftigte, fühlte es sich an wie ein Splitter im Finger, der pikste, bis man ihn endlich entfernte. Probleme mussten gelöst werden. Je schneller, desto besser.
Jetzt, da sie in die Position der Schulleiterin gerückt war, galt dies umso mehr. Nicht nur lastete das Gewicht von hunderten großen und kleinen Aufgaben auf ihren Schultern, nein, Hogwarts befand sich in einer nie dagewesenen Situation. Zwei siebte Jahrgänge waren noch das geringste Übel, dem sie sich stellen musste.
Der zweite Mai war sieben Monate her, die gröbsten Trümmer beseitigt, doch in den Schlossmauern war eine Kälte zurückgeblieben, die auch kein Kaminfeuer vertreiben konnte. Egal wie perfekt der Abend in ihren Räumen wirkte – die Gedanken an alles, was an diesem Weihnachten falsch war, ließen sich nicht vom Schnee verdecken.
Minerva musste nur in die Große Halle gehen. Dort begrüßte sie jeden Morgen neben dem Frühstücksspeck die bronzene Gedenktafel mit den Namen aller, die bei der Schlacht von Hogwarts ihr Leben gelassen hatten. Und direkt dahinter die äußerst lebendigen Geschwister oder Kinder der Opfer.
Fast alle Schüler hatten jemanden im Krieg verloren. Und wenn sie keinen Angehörigen zu betrauern hatten, dann zumindest ihre kindliche Unschuld. Die Carrows hatten Hogwarts von einem sicheren Hafen in ein Gefängnis verwandelt und damit weit mehr ruiniert als nur das Weihnachtsfest.
In der nächtlichen Stille kehrten die Erinnerungen an all diese bitteren Momente aus dem letzten Schuljahr – speziell die ihres eigenen Versagens beim Schutz der Kinder – besonders gerne zu Minerva zurück. Versunken in Arbeit ließen sich diese Dinge noch zurückhalten, doch mit nichts als der dünnen Handlung eines viel zu romantischen Krimis zwischen sich und dem Erinnern konnte sie die Gefühle nicht bändigen.
Spätestens mit diesem Gedanken entfloh die Wohligkeit endgültig aus ihren Räumen. Als Minerva die Füße auf den Boden setzte, nahm sie die Kälte im Stein nur allzu deutlich wahr. Rasch suchte sie nach ihren gefütterten Puschen, bevor sie ihren Morgenmantel schnappte, der eigentlich ein Überbleibsel ihres verstorbenen Mannes war. In der weichen Wolle fand sie immerhin etwas Komfort.
Möglichst leise schlich sie durch ihre Privatzimmer in das Büro dahinter und dort weiter zur Tür. Zum Glück schnarchten einige der Porträts ehemaliger Schulleiter und Leiterinnen so laut, dass keines von ihnen hörte, wie sie sich davonstahl. Auf die typischen, spitzen Fragen oder neugierigen Blicke konnte Minerva im Moment nur zu gut verzichten. Sie hatte früh genug gelernt, dass ihre vorangegangenen Kolleginnen und Kollegen Fluch und Segen zugleich waren.
Umso erleichterter atmete sie aus, als sie ihr Büro unbemerkt passiert hatte und die Treppe hinter dem steinernen Wasserspeier hinuntergeeilt war. Vor ihr lagen nur noch die endlosen Gänge des Schlosses, das ihr beinahe ein ganzes Leben lang ein Zuhause war. Mit den Jahren hatte sie seine Wege auswendig gelernt, auch wenn sie sich nie angemaßt hätte, zu behaupten, dass ihr alle Geheimnisse Hogwarts bekannt waren. Für einen ausgedehnten Mitternachtsspaziergang reichte es in jedem Fall.
Einen Zauberstab brauchte Minerva nicht, denn durch die großen Bogenfenster fiel genug Mondlicht in die Flure. So vergrub sie die Hände in den Taschen ihres Morgenmantels und ließ sich mehr von ihren Füßen, anstatt Gedanken bestimmt durch das Schloss tragen.
Tief in der Nacht konnte man glatt vergessen, dass Hogwarts auch hunderten Kindern und Jugendlichen gehörte. Vor allem seit dem letzten Jahr. Früher hatte Minerva bei ihren nächtlichen Rundgängen immer wieder die ein oder anderen Regelbrecher angetroffen. Aber spätestens nach den ersten Strafarbeiten der Carrows war die Abenteuerlust im Schloss verpufft und hatte seither nicht zu alter Stärke zurückgefunden.
Erneut seufzte Minerva in die Stille hinein. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie die Streiche eines Tages vermissen würde, insbesondere nicht jene der Weasley-Zwillinge. Doch jetzt wünschte sie sich insgeheim das Chaos herbei, das die beiden eines denkwürdigen Dezembertages mit einer explosionsartigen Verbreitung der schlosseigenen Misteln erreicht hatten. Keinen Fuß hatte man mehr vor den anderen setzen können, selbst in den Unterrichtsräumen waren die Decken übersät gewesen ...
Seit dem letzten Winter hatte Hogwarts hingegen gar keine einzelne Mistel hervorgebracht, nicht einmal einen kümmerlichen Zweig. Egal wie lästig Minerva die stete Gefahr des unvermittelt auftauchenden Grünzeugs auch gefunden hatte, sein Fehlen bewies nur zu gut, dass die Todesser nicht bloß Menschen auf dem Gewissen hatten.
Während sie so in Gedanken versunken durch die Gänge wanderte, glitt Minervas Blick immer wieder gen Decke. Ein wenig hoffte sie doch auf die Rückkehr der magischen Misteln. Anstatt mit plötzlich erblühenden Zweigen überraschte das Schloss sie allerdings mit einem Scheppern.
Minerva war ungefähr auf Höhe der Lehrräume für Muggelkunde, als das Geräusch ertönte, gefolgt von einem ... Fluch? Ihr erster Gedanke galt Peeves, doch seit dem letzten Jahr und dem grausigen Tod der Muggelkundeprofessorin Charity Burbage waren die Räume unbenutzt, mehr noch – sicher versiegelt. Sicher genug, dass nicht einmal Peeves Zugang hatte. Dafür hatte Severus' Versiegelungsfluch, der an seiner Stelle den Krieg überlebt hatte, gesorgt.
Die Hand fest am Zauberstab, ihren Atem angehalten, schlich Minerva auf das Klassenzimmer zu, aus dem prompt ein weiteres Scheppern erklang. Es war eindeutig jemand dort drinnen! Dabei waren die Experten aus dem Ministerium ratlos gewesen, wie man den Fluch brechen konnte, der Charitys Reich verbarg (und Severus' Porträt leistete keine Hilfe).
Hatte sie sich eben noch ein wenig Unruhe in die viel zu stille Schule gewünscht? Wenn ja bereute Minerva diesen Gedanken umgehend. Dennoch trat sie vor, die Schultern gestrafft und stupste die Tür mit ihrem Zauberstab an. Lautlos glitt sie nach innen. Heraus fiel ein Lichtstrahl, geradewegs auf ihre Lammfellpuschen.
Mit zusammengekniffenen Augen sah Minerva auf das Durcheinander aus Alltagsgegenständen der Muggel, das sich ihr im Schein eines Lichtzaubers enthüllte, und mitten drin –
»Filius?«
Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie ein überraschtes Quieken hörte. Erstaunt musterte Minerva den weißen Haarschopf ihres Kollegen, den sie gerade so neben einer Telefonzelle erkennen konnte. Sie hätte ja mit vielen Unruhestiftern gerechnet, aber sicher nicht mit ihrem langjährigen Freund und Stellvertreter.
»Filius, was zum Teufel machst du hier? Wie bist du hier überhaupt reingekommen?«
Gänzlich untypisch für sein sanftes Gemüt fluchte Filius von irgendetwas, das Drachenmist und Merlins Unterhosen enthielt. Dann schob er seinen Kopf hinter einem Stapel Toaster hervor. Sein Haar stand noch etwas unordentlicher ab als sonst, aber er lächelte.
»Minerva! Oh Merlin, verzeih, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken –« Es rumpelte, bevor es plötzlich taghell aufblitzte. Mindestens ebenso schnell verschwand Filius auch wieder aus ihrem Blickfeld. »Oh nein, nein, nein, so haben wir nicht gewettet!«, hörte sie ihn noch sagen, dann murmelte er einen Zauberspruch und was immer gerade schiefgegangen war, schwieg prompt und umfassend.
Nun erst recht neugierig, schob Minerva sich in das Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte doch verdammt sein, wenn sie nicht wusste, was alles in ihrer Schule vor sich ging.
Kaum, dass die Tür zugefallen war, stach ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase. Unwillkürlich erinnerte sie sich an etwas, das ihr lange nicht mehr untergekommen war. Es roch irgendwie nach heißem Plastik und Drähten ...
»Du experimentierst doch nicht etwa mit Charitys elektrischen Geräten?«, fragte sie Filius, während sie langsam nähertrat und sich das Sammelsurium an Muggelgegenständen genauer besah. Manchmal war es eindeutig von Vorteil, mit einem nichtmagischen Vater aufgewachsen zu sein, denn so erkannte sie das meiste wieder.
Filius seufzte erstaunlich schwer für einen so kleinen Mann auf. »Ach, experimentieren ... das wäre wohl zu viel gesagt. Nein, momentan bin ich mehr im Stadium des Sortierens und Verstehens.« Dann erst schien ihm einzufallen, dass er ihr ob seiner Anwesenheit hier noch eine Antwort schuldete. Zumindest senkte er schuldbewusst den Blick auf das Chaos zu seinen Füßen. »Ich weiß, ich hätte dich zuerst fragen sollen, bevor ich mich an Charitys Erbe mache ... wie muss das aussehen, so mitten in der Nacht –«
»Schon gut, nicht der Rede wert.« Minerva winkte mit einem müden Lächeln ab und unterdrückte ein Gähnen. »Ich wollte dir gar keine Vorwürfe machen, ich bin nur ... überrascht eben. Ich meine – wie viele Wochen habe ich versucht, jemanden zu finden, der Severus' Versiegelung lösen kann? Sieben? Zehn? Ich weiß es nicht mehr.«
»Ich meine es sind dreizehn Wochen«, erwiderte Filius leise. »Und ich weiß, ich habe anfangs gesagt, dass mir keine Lösung einfällt, aber na ja ...« Ein dezenter Rotschimmer schlich sich auf seine Wangen. »Du kennst mich –«
»Es hat dir keine Ruhe gelassen, also hast du in einem Anflug nächtlichen Ehrgeizes eine Lösung gesucht und gefunden.«
»So ähnlich.« Filius schmunzelte, als er das Zucken um Minervas Mundwinkel sah. »Eigentlich war die Lösung mehr Zufall. Erinnerst du dich noch an die Kugelschreiber, die Charity bei ihrem ... also unserem letzten Wichteln im Kollegium verschenkt hat?«
Natürlich erinnerte Minerva sich. Immerhin war es auch das letzte Mal gewesen, das Weihnachten in Hogwarts sich richtig angefühlt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte ihre Kollegin wie jedes Jahr mehr oder minder nützliche Dinge aus der Muggelwelt im Kollegium verschenkt – die bei Minerva bis heute ihr Dasein in irgendeiner Schublade fristeten.
»Was ist damit?«, fragte sie Filius zögerlich.
»Das war der Schlüssel. Ich hatte den Schreiber noch in der Tasche, schön praktische Dinger sind das schließlich, und wie soll ich sagen – er ist mir runtergefallen, gegen die Tür gerollt und zack ... weg war der Bann.«
»Was?« Bestürzt angesichts ihres Aufschreis schlug Minerva eine Hand vor den Mund. »Das war alles? Das war die Lösung?«
Filius grinste bis über beide Ohren. »Manchmal ist die beste Magie ganz simpel. Sich des eigenen Verstandes zu bedienen wird doch immer wieder unterschätzt, das wusste unser Severus.«
»Na schönen Dank auch«, grummelte Minerva und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ich natürlich nicht als Kritik an dir meinte, meine Liebe«, ergänzte Filius gutmütig. »Ich weiß doch, dass du genug auf der Agenda hast, was viel dringlicher deine Aufmerksamkeit beansprucht. Zumal mir die Lösung auch nur in die Hände gefallen ist.« Er zwinkerte. »Wenn überhaupt gilt meine Spitze den werten Herren aus dem Ministerium, die doch eigentlich die Experten sein sollten.«
Zustimmend schnaubte Minerva. Obgleich sie selber einst im Ministerium gearbeitet hatte, konnte sie oft genug nur den Kopf darüber schütteln. »Nun, so oder so bin ich froh, wenn sich hin und wieder auch mal ein Problem von alleine löst«, sagte sie. »Sich nicht immer um alles kümmern zu müssen, ist zur Abwechslung auch mal ganz nett, wenn ich ehrlich bin.«
»So schlimm, ja?«
Sie lachte müde auf. »Manchmal würde ich all die Bittsteller auf meiner Türschwelle gerne zum Teufel jagen. Ich bewundere wirklich mit jedem Tag mehr, dass Albus für alle ein Lächeln übrig hatte.«
»Verständlich, verständlich«, brummte Filius. »Bei Dolores hat immerhin sogar meine Geduld versagt und wer sagt, dass es nicht noch mehr von ihrer Sorte gibt.«
»Oh bitte, erinnere mich nicht an die.« Schaudernd rieb Minerva sich die Oberarme. »Ich habe schon genug hässliche Gedanken für den Rest der Nacht, so schnell kann ich gar nicht laufen, dass ich ihnen allen entkommen könnte.«
Filius' Augenbrauen wanderten besorgt in die Höhe. »Etwas Ernstes?«
»Ach ... nicht auf die Art, wie du es befürchtest.«
»Aber trotzdem nichts Angenenehmes«, stellte Filius fest.
»Nein, da hast du recht.« Minerva seufzte. »Eigentlich wollte ich mich nur vergewissern, dass im Schloss alles in Ordnung ist. Dass ...« Sie drehte ihren Zauberstab zwischen den Fingerspitzen und schluckte gegen den aufsteigenden Kloß an. »Manchmal muss ich mich einfach davon überzeugen, dass der Krieg vorbei ist. Dass keine Todesser mehr vor den Mauern warten. Oder schlimmer noch – unter uns sind.«
Filius schlug die Lider nieder und streckte sich über die Toaster, um ihre Hand zu tätscheln. »Diese Geschehnisse werden uns wohl nie ganz verlassen.« Er bemühte sich um ein kleines Lächeln, das allerdings längst nicht so breit geriet wie sein voriges Strahlen. »Aber wir haben sie alle überstanden und sind immer noch hier, um es in Zukunft wieder besser zu machen.«
»Das ja, aber ... machen wir es gerade besser?« Minerva ließ sich auf einen Stapel Telefonbücher neben Filius sinken und sah zur Decke auf, von der ein buntes Sammelsurium funktionsloser Glühlampen hing. »Ich sage es nur ungern, aber dieses Weihnachten ist das erste in all meinen Jahren hier, dass sich nicht ... richtig anfühlt. Abgesehen von letztem Jahr natürlich. Ich weiß nicht warum, aber ich dachte wirklich nicht, dass es dieses Jahr immer noch so sein würde. Selbst nach Elphinstones Tod hat sich Weihnachten nicht so falsch angefühlt.«
»Nun ...« Filius setzte sich kurzerhand auf ein offenes Waffeleisen ihr gegenüber. »Nach dem Tod deines Mannes war Weihnachten hier trotzdem dasselbe wie jedes Jahr. Wir hatten immerhin eine Chance, dich von deinem Verlust abzulenken, und sei es nur mit Knallbonbons und Pudding. Aber jetzt ... haben nicht nur wir alle uns verändert, sondern auch das Schloss, fürchte ich.«
»Ist dir auch schon aufgefallen, dass es keine Misteln mehr gibt?«
Den Kopf in den Nacken gelegt, folgte Filius ihrem Blick nach oben. »Oh, nein. Tatsächlich nicht. Für mich sind es die Rüstungen, die nicht mehr singen.«
Der Kloß in Minervas Hals wuchs. Warum hatte sie das nicht bemerkt? Aber natürlich, die Stille war erst so drückend geworden, als keine quietschende alte Ritterrüstung mehr verunstaltete Weihnachtslieder von sich gegeben hatte. Welche Anzeichen mochte sie mit dem Kopf voller Arbeit noch übersehen haben?
»Es kann doch nicht so bleiben«, hauchte sie in das leere Klassenzimmer hinein. »Dann hätte Voldemort am Ende ja doch irgendwo gewonnen. Und sag jetzt nicht, dass die Dinge Zeit brauchen, Filius –«
»Das tun sie auf jeden Fall.«
»Ich weiß doch.« Minerva seufzte. »Aber wir haben auch eine Verantwortung für all die Kinder hier. Für das Schloss. Wir können das doch nicht einfach so ... so trist lassen. Schon gar nicht für die Kinder, die gerade ihr erstes Jahr hier verbringen. Das war immer etwas Besonderes! Ich meine ... es ist Weihnachten. Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Pfarrerstochter bin, aber verflucht, ich weigere mich, das hier zu akzeptieren!«
Energisch zog sie ihren Morgenmantel enger und schenkte dem mistelzweigfreien Deckengewölbe einen finsteren Blick. Selbst wenn es nur Trotz sein sollte – ein Stück weit hoffte sie, dass die Schlossmauern reagieren würden. Was sie natürlich nicht taten. Dafür strich Filius ihr erneut über den Handrücken.
»Minerva ... wir können es auch nicht erzwingen. Du weißt selber, dass ein geschmückter Baum noch kein Weihnachten macht und genauso verhält es sich mit allem anderen. Vielleicht wartet das Schloss auch darauf, dass wir die Hoffnung zurückbringen, nicht umgekehrt.« Er hielt einen Moment inne, dann ging ein Funkeln durch seine Augen. »Überhaupt, da fällt mir ein ....!«
Er sprang von dem Waffeleisen auf und zog etwas aus der Ecke, aus welcher der eigentümliche Geruch nach überhitzter Technik kam. Minerva erkannte eine handelsübliche Lichterkette, die mit unzähligen kleinen Glühbirnen auf Plastikkerzen besetzt war. So eine hatte ihr Vater vor vielen Jahren unbedingt mal ausprobieren müssen, da er Feuerzaubern grundsätzlich misstraute. Doch letztlich hatte das stetig flackernde Licht niemanden im Elternhaus überzeugt.
»Ich weiß ja, dass Hogwarts sich beständig gegen jeglichen technischen Fortschritt wehrt«, erklärte Filius geschwind, ganz im Dozententon, den er üblicherweise für seine UTZ-Kurse auflegte, »aber es hat mich in den letzten Tagen doch gereizt, die Grenzen dessen zu erkunden –«
»In den letzten Tagen?« Vorwurfsvoll hob Minerva eine Augenbraue. »Wie lange gehst du schon in Charitys Klassenzimmer ein und aus?«
»Ah ...« Filius wurde rot wie die Telefonzelle neben ihnen. »Vielleicht, ähem, ein bisschen länger? Nur ein paar Tage, aber das hier war so eine hervorragende Chance für ein wenig Feldforschung, da konnte ich einfach nicht widerstehen.«
In einer Mischung aus Unglauben und Amüsement schüttelte Minerva den Kopf. »Und ich habe mir wirklich eingebildet, ich hätte diese Schule unter Kontrolle. Wie naiv von mir.«
Sie fing Filius' Blick auf und beide mussten sie angesichts dieser Feststellung schmunzeln.
»Es tut mir wirklich außerordentlich leid, dir diese Illusion zu nehmen«, sagte Filius zwinkernd, »aber genau wie du habe ich versucht, meine schlaflosen Nächte zum Wohl des Schlosses zu nutzen. Auch wenn Hogwarts da andere Ansichten zu haben scheint. Zumindest wehrt es sich hervorragend gegen die Benutzung der ein oder anderen Technik. Dabei denke ich, dass es nicht verkehrt sein dürfte, wenn wir endlich von den Muggeln lernen.«
»Was meinst du damit?«
»Du weißt es doch am besten, Minerva – die technischen Errungenschaften der Muggelwelt stehen der Magie in nichts nach. Und sie werden immer präsenter im Alltag da draußen.«
Es war Jahre her, dass Minerva zuletzt ferngesehen oder ein Telefon benutzt hatte, aber Filius lag richtig – für die meisten nicht-reinblütigen Kinder (und das war der Großteil) waren diese Dinge inzwischen selbstverständlich. Das hörte sie in ihren Pausengesprächen, die sich immer häufiger um die neusten Kinofilme drehten. Und früher, als ihr Mann noch gelebt hatte, war Minerva genauso gerne mit ihm zu solchen Vorführungen gegangen. Sie verstand also durchaus den Zauber dieser anderen Welt, die eigentlich auch ihre war.
»Allein dieses Jahr habe ich doppelt so viele Anfragen von Kindern in meinem Haus, die wissen wollen, ob nicht doch irgendwie die Möglichkeit besteht, mit ihren Eltern zu telefonieren«, fuhr Filius fort. »Und umgekehrt melden sich die Eltern genauso bei mir und verlangen nach einem schnelleren Kontaktweg als der üblichen Eulenpost. Kein Wunder, die meisten haben Angst, dass sie so etwas wie letztes Jahr wiederholt. Also denke ich mir, dass manche ach so unveränderliche Grenze vielleicht etwas verschoben werden muss. Wie dieser unsägliche Technikbann auf unseren Ländereien.«
Neugierig sah Minerva dabei zu, wie Filius die Lichterkette vor ihr ausbreitete. Jetzt erkannte sie auch, woher der Geruch angeschmorter Elektronik kam – mindestens fünf der Glühlämpchen waren geschwärzt. Trotzdem hielt Filius geradezu triumphierend den Stecker in die Höhe, bevor er das Licht seiner Zauberkugel unter der Decke löschte.
»Vor einer kleinen Herausforderung schreckt jedenfalls kein Ravenclaw zurück«, verkündete er und wies das ausgerollte Kabel entlang. »Ich habe ein paar von Charitys Forschungstagebüchern gelesen und denke doch, dass ich das grundlegende Konzept der Elektrizität verstanden habe. Die Frage ist also, weshalb sie in Hogwarts nicht funktioniert. Hat man das erst einmal verstanden, ist die Lösung nur eine Frage der Kreativität.«
Lächelnd drehte er den Zauberstab in seiner Hand und gleich mehrere Dinge geschahen auf einmal. Zum einen erwachte ein schwarzer Kasten zu seinen Füßen brummend zum Leben, während auf der anderen Seite des Klassenzimmers eine Art Ventilator von einer steifen Brise in Bewegung gesetzt wurde. Das alles schien irgendwie miteinander verbunden zu sein, denn zu guter Letzt hob Filius eine Steckdosenleiste an und verband sie mit der Lichterkette.
Minervas Augen wurden groß. Mitten im Nachtschwarz blinkten plötzlich rote, gelbe, blaue und grüne Lichter auf. Immer wieder wechselten die kleinen Glühlämpchen ihre Farbe. Ganz wie es sein sollte – nur nicht in Hogwarts.
Einen Moment lang – Minerva konnte es nicht anders sagen – war sie von dem Anblick verzaubert. Dann blitzte es und ehe sie sich versah, zerrte Filius den Stecker wieder aus der Leiste.
»Es ist kein großer Erfolg«, schnaufte er, »aber es ist der Beweis, dass es funktionieren kann. Wird. Ich bin überzeugt davon, dass Hogwarts zwar eigensinnig ist, aber trotzdem von der Zweckdienlichkeit überzeugt werden kann.«
»Das ...« Ein Lächeln strich über Minervas Lippen. »Das ist unglaublich, Filius! Wie hast du das gemacht? Ist dieser Ventilator dort der Antrieb? Wo wird die Elektrizität zwischengespeichert?«
Bevor Filius ihr antworten konnte, stand sie auf und besah sich im Schein ihres Zauberstabs seine Konstruktion. Prüfend zog sie an ein paar Kabeln, während es in ihrem Kopf zu rattern begann. Vor einer derartigen Herausforderung hatte sie schon lange nicht mehr gestanden, doch ihr Wille war geweckt.
»Stell dir nur vor, wir könnten die Telefonzelle anschließen! Dann bräuchten wir nur noch einen Anschluss an das Telefonnetz – ja, das dürfte schwierig werden, immerhin läuft das alles über Kabel ... aber vielleicht – wenn man eine Art magische Brücke kreieren könnte ...«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht! Siehst du hier, da sind Aufzeichnungen von Charity dazu –« Filius holte ein dickes Buch hervor, das in enger Handschrift – mit Kugelschreiber – beschrieben war. »Sie hatte einige Theorien, aber die haben sich nicht erfolgreich erwiesen, vielleicht können wir daraus lernen.«
Ohne, dass sie weiter darüber sprechen mussten, stürzten sie beide sich in die Arbeit, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Sie wälzten Seiten über Seiten von Charitys Forschungsberichten und brachten noch mehrere Glühbirnen zum Platzen mit ihren Versuchen. Doch es war ein Anfang.
Als schließlich der erste Lichtstreif am Horizont auftauchte, waren Minervas Gedanken voller Tatendrang anstatt Wehmut. Sie hatte so viele Ideen, die sie bald mit Filius ausprobieren musste! Wenn für den Morgen nicht eine weitere Diskussion über den Bildungsplan mit den Beamten des Ministeriums anstehen würde ...
Schweren Herzens und herzhaft gähnend schleppte sie sich zurück zum steinernen Wasserspeier. Hätte sie diesen nicht erst aus seinem tiefen Schlaf reißen müssen, wäre ihr der Mistelzweig ein paar Schritte weiter vielleicht gar nicht aufgefallen. Ganz klein, vollkommen unscheinbar, spross er in einer Nische zwischen den Fenstern.
Mit klopfendem Herzen näherte Minerva sich dem Gewächs und ignorierte das empörte Räuspern des frischerwachten Wasserspeiers. Ein wenig befürchtete sie, die Mistel könnte verschwinden wie eine Fata Morgana. Aber ihre Sinne täuschten sie nicht. Es war wirklich ein Mistelzweig, der da hing, magisch gewachsen aus dem blanken Stein. Nicht besonders groß und dennoch unverkennbar anhand der kleinen weißen Beeren.
Der Wasserspeier hinter Minerva rieb grollend seine steinernen Zähne aufeinander, doch davon ließ sie sich nicht beirren. »Danke«, flüsterte sie in den leeren Gang hinein, eine Hand gegen die kalte Schlossmauer gelegt. Womöglich bemaß sie diesem Zeichen im Taumel der Gefühle viel zu viel Kraft bei – es war ihr egal. Nach all den Strapazen des vergangenen Jahres brauchte sie es.
Endlich war ihr Herz einmal wieder leicht, als sie an den schlafenden Porträts vorbei zurück in ihre Räume huschte. Nicht nur das, dieses Mal blieb das Glücksgefühl. Die Gedenktafel in der Großen Halle würde immer an Hogwarts' schwärzesten Moment erinnern, aber an jenem Morgen wurde ihr zum ersten Mal vollumfänglich bewusst, dass sie die Macht – und Verpflichtung – hatte, den zukünftigen Generationen einen neuen Weg zu zeigen.
Mit diesem Entschluss arbeitete sie an Filius' Seite umso eifriger daran, aus wilden Träumereien Wirklichkeit werden zu lassen. Der Abend, an dem es zum ersten Mal in der Telefonleitung knackte und Minerva die Stimme ihres Bruders hörte, der sich mit einem verwaschenen »Malcolm McGonagall, hallo?« meldete, besiegelte ihren Verdacht: Dieses Weihnachtsgeschenk würde ein Neubeginn für das Schloss sein.
In den kommenden Jahren erwuchs sich, zunächst ganz unabsichtlich, eine wahre Tradition aus Minervas und Filius' Bestrebungen. Sobald die Schlaflosigkeit sie überkam, trafen sie sich in Charitys altem Klassenzimmer und zauberten oder löteten, ganz im Geiste ihrer verstorbenen Kollegin, an neuen magi-technischen Erfindungen für das Schloss. Mal vergingen Monate ohne Fortschritt, dann wieder überschlugen sich die Ereignisse in einer Nacht. Eines aber blieb konstant – immer pünktlich zu Weihnachten gab es neue Erfolge zu verzeichnen, die sie der Schülerschaft vorstellen konnten.
Dabei blieb es allerdings nicht – was anfangs noch ein wohlgehütetes Geheimnis der beiden Professoren war, wurde durch das stetig wachsende Interesse der Kinder bald zu einer eigenen außerschulischen Aktivität ähnlich zum Koboldsteinclub (nur mit mehr Erfolg) ausgeweitet. Zunächst waren es hauptsächlich Schülerinnen und Schüler aus gemischt-magischen Familien, die zu den Treffen kamen, aber nachdem das erste Mal ein Zeichentrickfilm über einen verzauberten Fernseher flackerte, wuchs das Interesse der Reinblütigen schlagartig.
Auch wenn die Aufgaben der Schulleitung Minerva und Filius in den späteren Jahren oft genug vereinnahmten, erhielten mindestens die Kinder ihre Tradition aufrecht. Ohne Frage eine der größten Errungenschaften ihrer Forschungsgruppe war die erfolgreiche Inbetriebnahme des ersten Computers von Hogwarts am Weihnachtsabend 2008. Bis das Schloss mit W-Lan versorgt war, vergingen indes noch weitere Jahre. Dennoch stand fest, dass diese Generation das Verständnis für Magie und Technik revolutionieren würde.
Und wann immer Minerva den ersten Mistelzweig des Dezembers entdeckte, der zuverlässig im Gang vor ihrem Büro spross, schlicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Was einst unveränderlich erschienen war, wuchs mit jedem Weihnachten ein Stück mehr über seine Kriegstrümmer hinaus.
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