........ | Das Ende
Sektor C3874-Q1.
Wie in Zeitlupe drehte sich das erstarrte, leicht gewellte und von Rissen durchsetzte Leder. Die simple Schnur, die einen Satz zerfledderter Seiten zusammenhielt, war zu einem dürren Zweig gefroren. Ein Buch. Wie lange würde die Reise dieses seltsamen Stücks Weltraummüll wohl dauern, bis es in die nächste Sonne, Quasar oder schwarze Loch fiel? Ein paar Tausend Jahre? Oder eher Millionen? Würde es vorher vom Plasmaantrieb eines Raumschiffs zu Asche verbrannt oder von einem herrenlosen Asteroiden zu Staub zerschlagen werden? Und wie lange zog es wohl bereits seine Bahn durch das leere Vakuum zwischen den Sonnensystemen?
Tiefdurchatmend hob Elrik seinen Blick vom 3-D-Bild des ledernen Bündels, das mittig in den Raum projiziert wurde. Gedankenverloren betrachtete er sein kleines Reich: Weiße Wände, weißer Schreibtisch, weißer Stuhl sowie ein leerer – natürlich ebenfalls weißer – Untersuchungstisch in der Mitte des kreisrunden Zimmers. Mit nur einem Wort könnte er sich auch die purpurnen Wälder von Alpha-Centauri oder die neon-orangene Lagune von Orion-1 projizieren lassen, wie es seine Kollegen bevorzugten. Wie die sich dabei auf ihre Arbeit konzentrieren konnten, war ihm jedoch schleierhaft.
Erneut zog das lederne Bündel seinen Blick an. Worum es sich wohl handelte? Okay, um Leder aus der Haut einer unbekannten Lebensform. In diese waren etwa zweihundert Seiten eines dünn gepressten, pflanzlichen Materials mit Spuren weiterer mineralischer und organischer Substanzen eingebunden. So viel verriet ihm die Spektralanalyse auf die Distanz. Das Stück Weltraummüll war immer noch nahezu einhunderttausend Kilometer entfernt. Es war Questa nur aufgrund der natürlichen Materialien aufgefallen. Ungewöhnlich in diesem Sektor weitab von jedem bewohnten Planeten.
»Questa. Bitte hol das Stück an Bord«, beschied er seinem Schiff.
»Davon möchte ich abraten«, kam die Antwort der Schiffsintelligenz, deren leicht näselnder Einschlag ihr immer einen minimal arroganten Klang verlieh. »Gemäß Sicherheitsprotokoll sollte es mit einem Plasmastoß neutralisiert werden. Da es sich um organisches Material handelt, könnte es kontaminiert sein. Soll ich die Prozedur starten?«
Die Arroganz bildete er sich vermutlich nur ein, aber die bevormundende Art ging ihm gehörig auf die Nerven. Konnte sie nicht einmal einfach nur machen, was man ihr befahl? Schließlich war er hier die einzige natürliche Intelligenz an Bord.
»Nein. Du hast mich gehört«, bekräftigte er nochmals seine Anweisung.
»Selbstverständlich. Ich höre jedes deiner Worte. Sie widersprechen jedoch dem Sicherheitsprotokoll.«
»Tun sie nicht. Wie du selbst sagst, sollte es neutralisiert werden. Muss es aber nicht. Wer von uns beiden ist denn hier die Intelligenz, die immer alles auf die Goldwaage legt? Außerdem ist mein Auftrag das Finden von potenziell bewohnbaren Planeten. Und dieses Artefakt könnte auf ein aussichtsreiches Ziel in der Nähe hindeuten.«
Er war stolz auf sich, ausnahmsweise mal den Spieß umzudrehen. Normalerweise versuchte Questa immer recht zu behalten. Sie wäre mit Sicherheit eine exzellente Anwaltsintelligenz geworden, hätte man sie nicht in seinem Schiff verbaut. Leider.
»Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt unter 0,000001 %«, hielt ihm Questa ruhig entgegen. »Im näheren Umkreis existieren keine Sonnensysteme mit bewohnbaren Planeten. Es als Hinweis zu betrachten, könnte ich so deuten, dass du langsam nicht mehr zurechnungsfähig bist.«
»Jetzt mach mal halblang«, entfuhr es ihm. »Es gibt einen Grund, warum ich für diesen Auftrag an Bord bin, und du ihn nicht alleine ausführst. Nun hol das Teil endlich rein.«
»Wie du meinst. Ich vermerke es jedoch im Logbuch. Sollte es aufgrund deiner irrationalen Befehle zu Schäden am Schiff oder Personal kommen, sehe ich mich gezwungen ...«
»Das hättest du wohl gerne«, unterbrach er das hinterhältige Biest, »aber so leicht wirst du mich nicht los. Und jetzt hol das Ding rein, dekontaminier es – ohne es zu zerstören oder zu beschädigen! – und bring es her.«
↼⇁
Wow. Das war ein ziemlicher Hammer. Drei Stunden später lehnte er sich auf seinem weißen Sessel zurück und betrachtete das lederne »Buch«. So nannten es wohl die damaligen Einheimischen auf einem gewissen Planeten namens »Erde« im Sol-System. Es diente zur manuellen Aufzeichnung von Gedanken und Notizen. Mit Questas Hilfe hatte er rund fünfzig Seiten decodiert und die Inhalte in seiner angestammten Sprache lesen können. Teilweise waren es Tagebuchaufzeichnungen, Gedichte, Witze, eine Art Schatzkarte, okkulte Skizzen, fremde Runen und Sinnsprüche. Es ging um Liebe, Verlust, Kriege und Versöhnungen. Einige Blätter enthielten formelhafte Zeichnungen und mystisch wirkende Symbole, mit denen weder Questa noch er etwas anfangen konnten. Am faszinierendsten fand er jedoch diverse realistisch gezeichnete Bilder von beeindruckenden Gebäuden, friedvollen Sonnenaufgängen und endlosen Feldern. Diese waren die einzigen Zeugnisse dieser vergessenen Welt. Was die vielen offenbar unterschiedlichen Schreiber dazu bewogen hatte, ihre Notizen dort abzulegen, darüber konnte er nur spekulieren. Die organischen Rückstände wie Staub, Ruß, Wasserpflanzen, Blut, Schweiß und Tränen zeigten jedoch deutlich die emotionale Verbundenheit. Und auch, dass der Foliant sprichwörtlich an Hunderten verschiedenartigen Orte längere Zeit gelegen haben musste.
Er war überzeugt, dass es sich um eine Art heiliges Buch handelte. Ansonsten hätte es keinesfalls all die Zeit und die vielen Besitzer überstehen können. Vermutlich hatte man es von Generation zu Generation weitervererbt und in Ehren gehalten. Eventuell war es dem jeweiligen Auserwählten nur erlaubt gewesen eine oder zwei Blätter zu beschreiben. Religionen brachten auch heute noch die verrücktesten Traditionen zum Vorschein.
Teilweise waren sogar Datumsangaben auf den Seiten notiert. Aber ohne eine Referenz, einen Kalender oder sonstige Hinweise auf die damalige Zivilisation, war es unmöglich zu sagen, aus welchem Zeitalter der Planetenbewohner, die im galaktischen Archiv als »Menschen« tituliert wurden, es stammte. Die Zerfallsanalyse deutete darauf hin, dass es Tausende Zeiteinheiten alt war. Das Artefakt hatte offenbar eine äonenlange Reise hinter sich. Faszinierend.
Leider gab das zentrale Archiv keine Auskunft darüber, was aus der Erde und ihren Bewohnern geworden ist. Wie es schien, wurde sie bereits vor Ewigkeiten verlassen. Eine veränderte Atmosphäre hatte sie unbewohnbar gemacht. Im Anschluss hatte sich niemand mehr für die tote Steinkugel interessiert. Es existierten zig Millionen bewohnbare Planeten allein in seiner Heimatgalaxie, der Milchstraße. Da kam es auf einen mehr oder weniger im Grunde nicht an.
Ob auf jenem »Lost-Planet«, wie man diese Art Welten nannte, wohl vergessene Zeugnisse einer unbekannten, uralten Spezies zu finden waren? Vielleicht sogar noch Ruinen von den Gebäuden, die auf den Zeichnungen zu sehen waren? Die Statue einer Frau, die stolz eine Fackel hob oder auch der pyramidenartige, schlanke Turm, dessen gekreuzte Strebenkonstruktion sich bis zu einer endlos hohen Spitze immer weiter verjüngte? Viel Hoffnung hatte er nicht, da die Bewohner vermutlich keine Materialien verwendet hatten, die sich über Äonen hielten. Aber eventuell entdeckte er zumindest ein paar Grundmauern, die sich unter der Oberfläche noch abzeichneten.
Seine wissenschaftliche Neugier hatte ihn gepackt. Und praktischerweise könnte der Himmelskörper inzwischen tatsächlich wieder bewohnbar sein. Daher ließ sich der Abstecher zur Erde wunderbar mit seiner offiziellen Mission vereinbaren, ohne dass ihm die vorlaute Schiffsintelligenz Steine in den Weg legen konnte.
»Questa? Setze einen Kurs auf den Planeten«, wies er das Schiff an. »Das Artefakt enthält eindeutige Hinweise, dass die Welt früher bewohnbar war – und möglicherweise inzwischen wieder brauchbare Lebensbedingungen bietet.«
»Aber laut dem galaktischen Archiv ...«
»Ja, ja, ich weiß. Daher fliegen wir dorthin und schauen es uns persönlich an. Also zumindest ich. Du darfst aus dem Orbit zuschauen.«
»Du weißt nicht, ob diese Spezies überhaupt die gleichen Lebensbedingungen wie wir benötigt hatte. Außerdem ...«
»Schluss jetzt. Zum einen kann ja wohl von wir keine Rede sein. Du bist eine einfältige, rechthaberische Intelligenz und benötigst einfach nur Unmengen von Strom. Zum anderen ist das meine Entscheidung.« Er holte Luft und wartete auf den nächsten Einwand. Als jedoch erstaunlicherweise keiner kam, fuhr er fort: »In Ordnung. Setz den Kurs. Drei ... zwei ... eins ... Energie!«
↼⇁
»Elrik, wir haben das Ziel erreicht«, informierte Questa ihn mit ihrer leidenschaftslosen Stimme.
Sein eigenes Herz jedoch schlug augenblicklich schneller. Endlich mal wieder ein spannender Einsatz. Er ließ sich den dritten Planeten dieses unspektakulären Sonnensystems in den Raum projizieren.
»Oh, wow«, entfuhr es ihm, als die Kugel vor ihm schwebte.
Eine Hälfte lag im Schatten des hiesigen Sterns und war pechschwarz. Logisch, hier lebte niemand mehr, dessen Licht sich als Sprenkel bewohnter Städte abzeichnen konnte. Die andere Halbkugel jedoch schimmerte in sattem Blau mit hübsch gekringelten Wolkenformationen. Unter dem halbdurchscheinenden Weiß zeigte sich ein Kontinent, den ein saftiggrünes Band als offensichtliche Lebensader umschlang. Ohne einen Blick auf die Daten zu werfen, die als endlose Kolonnen an der Seite vorbeimarschierten, war klar: Diese Welt war alles andere als tot. Der Grünstreifen quoll geradezu über vor Leben. Auch die Zusammensetzung der Atmosphäre, achtundsiebzig Prozent Stickstoff und rund zwanzig Prozent Sauerstoff, sowie keine giftigen Gase, war nahezu ideal. Zumindest bräuchte er dort kein Atemgerät.
»Siehst du, Questa«, meinte er triumphierend, »dieser Planet ist ein Volltreffer!«
»Da hast du recht«, stimmte ihm die Schiffsintelligenz zu. Nanu? Plötzlich so kooperativ? »Ich habe das im Missionslog vermerkt. Somit können wir uns jetzt wieder auf den Weg zu unserem nächsten regulären Ziel machen.«
»Was?! Nein! Ich muss mich auf jeden Fall unten umschauen. Um ... Proben zu nehmen und so.«
»Das ist weder notwendig noch rational. Die Werte sind eindeutig.«
War ja klar, dass sie ihm den Ausflug nicht gönnen wollte. Da gab es einmal in zehn Zeiteinheiten etwas Spannendes zu erkunden, sollte er es direkt ignorieren. »Ich werde mich trotzdem unten umsehen, um sicher zu stellen, dass von Flora und Fauna keine Gefahren für potenzielle Siedler ausgehen.«
»Elrik«, jetzt klang die Schiffsintelligenz schon fast wie seine Mutter, »dafür gibt es spezialisierte Einsatzkommandos. Das ist nicht deine Aufgabe und ein irrationales Risiko.«
»Und wozu haben wir dann die passende Ausrüstung und ein Shuttle an Bord? Hm?«
»Dabei handelt es sich ...«
»Ich weiß, worum es sich handelt«, unterbrach er die besserwisserische Questa heute wohl schon zum hundertsten Mal, »aber sie ist dafür geeignet und damit ist das Risiko gleich null. Das ist meine Mission. Ich gehe runter. Vermerk deinen idiotischen Einspruch gern im Log. Die Diskussion ist beendet.«
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In der nachfolgenden Vorbereitung bis zum Start des Ein-Mann-Shuttles, in das er seinen Körper mit der voluminösen Überlebensausrüstung presste, beschränkte die Schiffintelligenz sich auf die absolut notwendigen Antworten. Kein weiterer Widerspruch, besserwisserische Sprüche oder Seitenhiebe, dass er sich irrational verhielte. War sie etwa beleidigt? Wohl kaum, denn Intelligenzen hatten keine Gefühle. Wäre ja auch noch schöner.
»Questa? Abkoppeln«, wies er das Schiff an, um sich endlich auf den Weg in Richtung Oberfläche zu machen.
»Nein.«
»Nein?«, fragte er verblüfft.
»Du hast das kontaminierte Stück Weltraummüll an Bord deines Shuttles gebracht. Die organischen Materialien könnten das fremde Ökosystem verunreinigen und zerstören«, klärte sie ihn auf.
Streng genommen hatte sie damit recht, allerdings nicht in diesem Fall.
»Questa«, jetzt war er derjenige mit dem genervten Eltern-Tonfall. »Einerseits war es für Tausende Zeiteinheiten vakuumgefroren, anderseits stammt es von diesem Planeten. Also wird es ihm ja wohl keinen Schaden zufügen.«
»Das weißt du nicht mit Sicherheit. Daher erlaube ich keine Landung. Zumindest nicht, mit diesem Material an Bord.«
Ihm platzte der Kragen: »VERDAMMT! Es ist nicht deine Entscheidung! Ich befehlige das Schiff und die Mission. Du hast verflucht noch mal meinen Befehlen zu gehorchen. Sobald wir auf Eridma-5 zurück sind, lass ich dich löschen und durch eine fähige Intelligenz austauschen. Das versprech ich dir. Und nun mach hin!«
Mit deutlichem Klacken lösten sich die Halteklammern des Shuttles. Für einen Augenblick schien es dem blau-weiß gesprenkelten Himmel entgegenzufallen und sein Magen begann zu kribbeln. Keine zwei Sekunden später schalteten sich die Antigrav-Triebwerke ein und er flog auf einer lang gezogenen Parabel dem Grünstreifen in der Mitte des riesigen Kontinents entgegen. Endlich. Die Scanner hatten schon aus dem Orbit nicht nur pflanzliches, sondern auch tierisches Leben gefunden. Dort unten brodelte es vor Lebendigkeit. Anzeichen für eine moderne Zivilisation waren jedoch nicht zu finden. Keine aus der Umlaufbahn erkennbaren künstlichen Strukturen, Funksignale oder Energiequellen. Wahrscheinlicher war, dass der Planet zwischenzeitlich tatsächlich ausgestorben war und sich erst mit der Regenerierung der Atmosphäre wieder einfaches Leben ausgebreitet hatte.
Um seine eigene Sicherheit machte er sich keine Sorgen. Mit seinem Schutzanzug könnte er auch in einen brodelnden Vulkan springen. Oder im Meer in über zehntausend Metern Tiefe spazieren gehen. Außerdem hatte er eine Plasmapistole im Gürtel, mit der er problemlos jeden primitiven Angreifer ausschalten könnte.
Inzwischen hatte er die leichten Schleierwolken durchstoßen und näherte sich dem satten Grün. Zeit, sich näher umzuschauen. »Questa. Scan mit dem Shuttle nach künstlichen Strukturen.«
Keine Antwort.
»Questa? Hast du ...«
In diesem Moment wurde eine Grafik auf seiner Frontscheibe eingeblendet, die die Analyseergebnisse seine Anfrage zeigte. Immerhin. Er konzentrierte sich auf die Zahlenkolonnen.
»Schau!«, rief er aus. »Questa? Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Das ist eindeutig künstlich! Los, geh tiefer und flieg mich dort hin.«
Die Intelligenz schwieg weiterhin, das Shuttle flog jedoch in die gewünschte Richtung und verringerte die Höhe. Etwa einhundert Kurzmaße unter ihm rauschte ein endloser Dschungel vorbei. Die Bäume waren wahre Riesen und schossen teils bis zu zweihundert Maße gen Himmel. Und überall brodelte es vor Lebendigkeit, auch wenn die Scanner im schnellen Überflug keine einzelnen Lebensformen identifizieren konnten.
In der Ferne stach eine graue Spitze aus dem uniformen Grün hervor. Sein Ziel. Der Scanner überlagerte die Aussicht mit einer 3-D-Grafik und zeigte die wahre Form des Gebäudes. Eine gleichschenklige Pyramide aus überdimensionalen Steinblöcken. Exakt zweihundertfünfzig Kurzmaße hoch mit einer identischen Kantenlänge. Außerdem war es innen in weiten Teilen hohl. Ein gigantisches Bauwerk, das eindeutig handwerkliches Geschick und Kenntnisse der Mathematik benötigte, um es zu errichten. Allerdings bedeutete das nicht, dass es von einheimischen Lebensformen errichtet worden war. Eventuell hatte dieser Planet schon vor ihm fremde Besucher gehabt, die es, aus welchen Gründen auch immer, erbaut hatten.
Genug der Gedankenspiele. Gleich würde er mehr herausfinden. Inzwischen schwebte sein Shuttle über der Pyramide, die wie ein kolossaler Fremdkörper im Dschungel stand. Die Vegetation schien die Steinblöcke zu meiden und endete unmittelbar vor der Kante. Zugänge oder intelligentes Leben waren nicht zu erkennen. Aber primitive Ureinwohner würden sich vermutlich aus dem Staub machen, falls ein unbekanntes Objekt vom Himmel herabschwebte.
»Geh weiter runter. Ich will auf der untersten Stufe aussteigen«, gab er die finale Landeanweisung, die das Fluggerät nahe an den Waldboden führen würde.
Auf einer der Ebenen könnte er bequem laufen und die Umgebung erkunden. Um sich weiter nach oben zu bewegen, bräuchte er jedoch eine Leiter, da ihn die einzelnen Blöcke um mehr als Haupteslänge überragen würden.
Kurz darauf hob sich die hintere Klappe des Shuttles und gab den Blick auf strahlenblauen Himmel und graue Steine frei. Mit einem prüfenden Schritt betrat er den grob behauenen Felsen, der sich im hellen Sonnenschein schnurgerade bis zur Ecke der Pyramide zog. Links die Steinwand der nächsten Stufe und rechts die Baumriesen des wie abgeschnitten wirkenden Waldrandes. Die Blöcke machten einen primitiven, jedoch jungen Eindruck. Als wären sie maximal ein paar Sonnenumrundungen des Planeten alt. Kaum Moos oder Flechten hatten sich in den Ritzen festgekrallt. Altertümliche Kulturen, die mit primitivsten Werkzeugen gigantische Bauwerke erschufen, waren auch von anderen Welten bekannt. Trotzdem beeindruckte es ihn und schien unvorstellbar, wie die Ureinwohner das mit bloßen Händen geschaffen haben sollten.
Apropos Ureinwohner. Wo waren die eigentlich? Sein Blick hob sich von den Steinblöcken, glitt nach rechts und betrachtete den Dschungel eingehender. Unter den weit entfernten Baumkronen, die wie ein zweiter Himmel einen klaren Kontrast schufen, drängte sich in Bodennähe dichter Bewuchs. Farne, Schlingpflanzen, dornige Büsche, junge Bäume mit ausladenden Blättern und überall bunte Blütenkelche in allen Farben des Regenbogens. Je länger er sich konzentrierte, desto mehr entdeckte er: Schwirrende Insekten mit schillernden Flügeln; Vögel, die nach ihnen pickten und sich bis in die obersten Kronen erhoben; braungefleckte affenartige Tiere, die sich von Busch zu Busch schwangen und nach süßen Früchten griffen; ein dunkelgraues Raubtier, das sicherlich das doppelte seines Gewichtes auf die Waage brachte und am Boden gut versteckt auf Beute lauerte. All das auf den wenigen Quadratmetern, die er von seiner erhöhten Position überblicken konnte.
Durch seinen Helm hörte er das Zwitschern, Fiepen und Schreien der Tiere, aber riechen konnte er leider nichts. Ihn abzunehmen, wäre jedoch tatsächlich gefährlich gewesen. Bisher hatte er noch keine Analyse der hiesigen Bakterien und Viren durchgeführt und der Stich eines fremden Insekts konnte potenziell tödlich enden.
Gerade wollte er die weiterhin schweigende Questa nach einem lokalen Scan der Umgebung fragen, da traten drei Gestalten um die entfernte Ecke seiner Ebene. Offensichtlich eine Delegation der Ureinwohner. Großgewachsene Körper mit jeweils zwei Armen und zwei Beinen, einem Kopf mit Augen, Nase, Mund und Ohren. Mickriges Fell spross lediglich aus der Kopfhaut. Die hinteren beiden hatten deutliche primäre Geschlechtsmerkmale an der Brust. Soweit nichts Ungewöhnliches für weibliche Geschöpfe. Es waren wohl Frauen. Die meisten intelligenten Spezies dieser Galaxis waren ähnlich gebaut und verfügten über diese Art Sinnesorgane und Merkmale. Die Anordnung und Anzahl, war häufig den jeweiligen Umweltbedingungen angepasst. Er selbst bildete dabei keine Ausnahme. Auch die spärliche Kleidung und der viele Schmuck, Ketten aus blauen und roten Perlen, gestreifte Federn, ein schmaler Überwurf eines mit geometrischen Mustern überzogenen Schals, ein simpler Lendenschurz sowie lange Speere mit Metallspitzen, passten zur Umgebung.
Was ihn jedoch überraschte, war die schiere Größe der Ureinwohner. Es waren wahre Riesen. Sie überragten ihn locker um das Dreifache! Sein Scheitel reichte ihnen maximal bis an die Kniescheibe. Auf der anderen Seite erklärte das zumindest teilweise die Höhe der Pyramidenstufen. Sie könnten diese problemlos erklettern.
Ruhig blieb er stehen und überließ es ihnen, mit bedachten Schritten an ihn heranzutreten und ihn selbst in Ruhe zu mustern. Was ihnen wohl durch den Kopf ging? Durch das Visier des Helms war sein Gesicht deutlich sichtbar. Aus ihrer Sicht ähnelte er vermutlich am ehesten einem der kleineren Raubtiere hier im Wald. Kurzes Fell mit schwarzen und braunen Streifen. Eine spitze Schnauze mit Schnurbarthaaren sowie Reißzähnen, die er bewusst nicht zeigte. Dazu lebendige goldene Augen, die den ihren nicht unähnlich waren. Aber sein moderner Schutzanzug und das Shuttle dürften ihnen verdeutlichen, dass er eher ein – aus ihrer Sicht – kleinwüchsiger »Gott« als ein simpler Waldbewohner war.
In zwanzig Schritten Entfernung verteilten die drei sich nebeneinander auf den Stufen und hielten inne. Der Mittlere nahm seine Hand an die Brust und verbeugte sich. Auf seiner schlanken Figur zeichneten sich deutlich Muskeln und diverse hellweiße Narben ab. War er ein Krieger? Dafür sprach sein steter, Selbstsicherheit verbreitender Blick sowie seine gerade Haltung. Seine Worte blieben für den Moment jedoch unverständlich. Die Schiffsintelligenz kannte bisher nur die Aufzeichnungen aus dem Buch, keine Töne. Sie würde mehr Material benötigen, um die Laute in seine Sprache umzuwandeln.
Aus Höflichkeit imitierte er die Begrüßungsgeste und antwortete: »Seid gegrüßt, ich weiß natürlich, dass ihr das noch nicht verstehen könnt. Sobald die dämliche Intelligenz endlich mal ihren Job macht, ändert sich das hoffentlich.«
Auch die anderen beiden, jeweils etwa einen halben Kopf kleiner, wie der Mittlere, weniger muskelbepackt sowie mit längerem Kopffell, das ihnen bis auf die Schultern reichte, imitierten die Begrüßung. Am Ende trat der mutmaßliche Häuptling, weiter vor. Mit einer ehrerbietenden Geste beugte er ein Knie und sein Haupt. In einer flüssigen Bewegung griff er seinen Speer, legte ihn quer und bot ihn auf offenen Handflächen an. Ein Gastgeschenk, wie es schien. Da wollte Elrik nicht unhöflich sein, trat vor und nahm unter den aufmerksamen Blicken der anderen beiden das lange Holz entgegen.
»Ähm ... vielen Dank.« Er schritt wieder zurück zu seinem Shuttle. Blöd. Seinen Plasmastrahler oder einen technischen Gegenstand zu übergeben, wäre nicht clever. Und jetzt?
Das schwere Buch! Wer weiß, vielleicht war es ja tatsächlich ein heiliges Artefakt für die Einheimischen. Und selbst falls nicht, sicherlich würden sie seinen grundsätzlichen Nutzen erkennen. Langsam legte er den Speer ab und bedeutet mit Gesten, dass er etwas holen müsste.
Zurück im Shuttle, löste er die Spanngurte von dem in Leder eingebundenen Buch und fragte währenddessen Questa: »Siehst du, die sind alle ganz harmlos. Kannst du die Sprache schon übersetzen?«
Erneut kam keine Antwort. Langsam wurde ihm das zu bunt. Was war mit dieser Intelligenz los? Sie konnte ja wohl kaum eingeschnappt sein, schließlich war sie nur tote Technik.
»Questa. Technischer Test. Kannst du mich hören?«
Schweigen.
»Ich hör dich nicht«, fuhr er fort. »Eventuell ein Defekt im Schutzanzug. Falls du mich verstehen kannst, gib mir ein Zeichen.«
Nichts. Keine Projektion, Flackern des Lichts oder irgendwas.
Sein Magen zog sich zusammen. Sollte die Verbindung zur Schiffsintelligenz abgerissen sein, wäre das ein echtes Problem. Zwar könnte er das Shuttle immer noch manuell steuern, aber das letzte Mal, dass er das probiert hatte, war während seiner Ausbildung an der Akademie. Und wie sollte er sein Hauptschiff im Orbit finden? Die Funkreichweite des kleinen Schiffs war begrenzt. Nicht zuletzt befand er sich weit abseits jeglicher, gängiger Transferroute.
Ruhig, Elrik, sagte er sich. Eventuell war es auch nur ein Defekt des Schutzanzugs. Ein Schritt nach dem anderen. Draußen warteten ein paar Einheimische auf ihn und Questa würde schon einen Weg finden, das Problem zu beheben. Bis dahin müsste er sich mit den Fremden eben mit Händen und Gesten verständigen.
Mit Mühe schleppte er den schweren Ledereinband nach draußen. Die drei Standen weiterhin an ihren Plätzen und sahen ihm aufmerksam zu. Das Buch platzierte er auf dem rauen Steinboden vor dem Anführer, trat einen Schritt zurück und spiegelte dessen Geste.
»Hier. Bitteschön. Das ist mein Geschenk an euch. Keine Ahnung, ob ihr damit was anfangen könnt. Aber besser als nichts, denke ich.«
Mit langsamen Bewegungen und geweiteten Augen, die sowohl Erstaunen als auch Furcht ausdrücken konnten, beugte der Häuptling sich herab. Mit der Handfläche strich er über den ledernen Einband, als wollte er jede Unebenheit erspüren. Schließlich hob er es mit beiden Händen an und richtete sich auf. Bei ihm wirkte es eher wie ein kleines, handliches Buch. Etwas, dass er problemlos mit einer Hand tragen konnte.
»Bitte«, setzte Elrik mit einer auffordernden Geste nach, »du darfst es gerne öffnen, obwohl du vermutlich ebenfalls nichts davon lesen kannst.«
Der Anführer löste die Lederschnur, die die Blätter zusammenhielt und schlug das Buch in der Mitte auf. Sein fragender Blick war eindeutig. Auch die beiden anderen beugten sich zu ihm herüber, um hineinschauen zu können. Mit Bedacht blätterte er weiter. Die rechte Frau rief laut etwas aus, deutete mit dem Zeigefinger auf die Seite und hielt sich eine Hand vor dem Mund. Offenbar, um ein Lachen zu verdecken, so wie sich ihr Körper schüttelte. Die andere schmunzelte. Sie waren belustigt. Diese Geste war ebenfalls sehr universal. Zumindest für Spezies mit flexibler Gesichtshaut. Bei ihm selbst wäre das eher ein bedrohliches Zähnefletschen.
Kopfschüttelnd blätterte der Anführer weiter. Auch die folgenden Seiten schienen Interessantes zu beinhalten. Sie deuteten in das Buch, lachten, unterhielten sich und machten fragende Gesten. Immerhin gefiel sein Geschenk.
»Ähem ... Entschuldigung?«, wendete er sich an die drei, damit sie hier endlich mal vorankamen. »Könnt ihr mir zeigen, wo ihr wohnt?« Er verdeutlichte seine Worte mit universalen Schlaf- und Essensgesten.
Die Linke machte die anderen darauf aufmerksam, dass Elrik etwas wollte. Sie blickten auf und bekamen große Augen.
»Was ist los?«, fragte er alarmiert.
Doch die Ursache für ihre Überraschung lag offenbar hinter ihm. Was zum ...? Schnell wirbelte er herum. Verflucht! Sein Shuttle verschwand in diesem Moment über den Bäumen!
»Questa!«, schrie er und lief hilflos ein paar Schritte zu der Stelle, an der bis vor wenigen Sekunden das Fluggerät angedockt war. »Was soll das! Questa! Antworte mir verdammt!«
Fassungslos starrte er in den Himmel und erntete Schweigen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie war das möglich? Ein technischer Defekt? War die Intelligenz durchgeknallt? Hatte sie wirklich Gefühle entwickelt?
Erst langsam sickerte die Erkenntnis in seinen Geist, dass das Wie und Warum keine Rolle spielte. Er war hier gestrandet. Ohne Schiff im Orbit würde sein Notsignal, dessen Radiowellen sich nur in Lichtgeschwindigkeit ausbreiteten, mehrere tausend Zeiteinheiten benötigen, um von jemandem empfangen zu werden. Falls es überhaupt die dichte Atmosphäre dieses Planeten durchdringen konnte.
Verflucht.
Kraftlos ließ er sich auf den Boden plumpsen und starrte weiterhin in den leeren Himmel, als könnte das Shuttle jederzeit wieder auftauchen. Aber den Gefallen tat ihm das Schicksal nicht. Was sollte er jetzt tun?
Ein Schatten fiel über seinen Platz. Irritiert drehte er sich im Sitzen um. Die drei Ureinwohner hatte er komplett vergessen. Der Anführer, dessen Namen er aufgrund der fehlenden Übersetzung immer noch nicht kannte, hatte sich hinter ihn gehockt und bot seine Hand an, um ihm aufzuhelfen. Der Ausdruck auf seinem Antlitz war schwer zu deuten. Aber sicherlich hatte er kapiert, dass Elrik kein göttliches Wesen, sondern ein gestrandeter, am Boden zerstörter Sternenreisender war.
Nochmals atmete er tief durch, griff die überdimensionalen Finger des Fremden und ließ sich in die Höhe ziehen. Einer der beiden anderen trug das Buch ehrfürchtig mit den Händen und lief – vermutlich aus Rücksicht auf seine kurzen Beine – mit gemächlichen Schritten voran.
Mit einem letzten Blick in den leeren Himmel verabschiedete er sich endgültig von der Hoffnung, diese Welt in aller nächster Zeit wieder verlassen zu können.
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»Elrik, fang!«, rief Waranda und warf ihm eine Himmelsfrucht zu, wie sie die kleinen roten, unglaublich süßen Früchte hier nannten.
Das Mädchen lief lachend davon und verschwand um die Ecke einer der kantigen Steinbauten, die den Ureinwohnern, die sich selbst als Menschen bezeichneten, als Behausungen dienten. In der ausladenden Stadt, die sich zwischen die Stämme der Baumriesen schmiegte, lebten deutlich über zehntausend Individuen. Dass seine Schiffsintelligenz das damals nicht erkannt hatte, war trotz des dichten Blätterdachs auszuschließen. Inzwischen war er zur Überzeugung gelangt, dass sie ihn und das Buch absichtlich hier ausgesetzt hatte. Warum auch immer.
Er war bereits seit fast einer Sonnenumrundung auf der Erde, hatte sich an das Leben bei den Ureinwohnern gewöhnt und ihre Sprache gelernt. Sie wussten sein Know-how zu schätzen und akzeptierten ihn trotz seines ungewöhnlichen Raubtierkörpers als einen der Ihren.
Das Himmelsbuch, wie sie es nannten, hatte inzwischen einen Ehrenplatz im pyramidenartigen Tempel erhalten, auch wenn sie die Inhalte nicht entziffern konnten. Und nicht nur das: Das Konzept von Papierseiten war ihnen bis zum damaligen Zeitpunkt fremd gewesen. Daher hatte Elrik dabei geholfen, eine primitive Papiermühle zu konstruieren und grobe, beschreibbare Blätter zu walzen. Inzwischen hatten sie selbst ein erstes Buch gebunden und dort die wichtigsten Sagen und Legenden ihres Volkes aufgeschrieben.
Aber die Erzählung seiner Landung, die hatten sie nicht in ihr neues Buch eingetragen. Nein. Diese wurde in einer feierlichen Zeremonie auf der letzten – und einzigen – noch freien Seite des Himmelsbuchs geschrieben.
Und wer weiß ... falls ihn eines Tages jemand hier aufspürte und er erneut zu den Sternen fliegen durfte, würde er es vielleicht mit auf seine Reise nehmen.
Allan Rexword
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