1990 | Nutzloses Beweismaterial
Wie so oft, wurde Detective Andrew Foster durch ein lautes Klingeln aus seinem Schlaf gerissen. Bis seine Sinne sich einigermaßen geordnet hatten, verstummte das Handy auf seinem Nachttisch, weshalb er gequält aufstöhnte. Langsam tastete sich seine Hand auf dem schmalen Nachttisch voran, bis er seine Brille zu fassen bekam und sie sich auf die Nase setzte. Anschließend griff er nach seinem Smartphone und musste nach einem Blick auf die Uhrzeit feststellen, dass er verschlafen hatte: »Verdammt noch mal!«
Sein Kollege ließ des Öfteren kurz durchklingeln, um Andrew aus den Federn zu schmeißen, wenn er seinen Wecker überhört oder ihn gar nicht erst gestellt hatte. Hastig schob er seine Füße aus dem Bett und taumelte in Richtung Badezimmer. Keine zwanzig Minuten später saß Andrew in seinem Dienstwagen und drückte das Gaspedal durch.
Die Nacht zuvor, es waren kaum vier Stunden vergangen, hatte er an dem Schauplatz eines Mordes erscheinen müssen. Eines der Beweismittel lag auf seinem Beifahrersitz, in einer durchsichtigen Hülle verpackt. Die Spurensicherung befand diesen Gegenstand als nichtig, obwohl es in unmittelbarer Nähe des Schreibtischs, an dem der Tote mit seinem Oberkörper auf der Tischplatte gebettet war, lag.
Es handelte sich um eine Art Notizbuch, das jedoch dicker war, als die normalen Heftchen dieser Art. Der Ledereinband schimmerte in einer bräunlichen Farbe, dessen Oberflächenstruktur deutliche Abnutzungserscheinungen aufwies. Das geschätzt A5 große Buch machte den Eindruck, als sei es verschiedenen Witterungen zum Opfer gefallen. Neben den ein oder anderen welligen Blättern, hafteten verschiedenfarbige Flecken an dem Vorderschnitt des Buchblocks.
Andrew schüttelte den Kopf über den Neuling, der erst vor einigen Tagen seinen Dienst angetreten und seiner Meinung nach noch einiges zu lernen hatte. Das Buch schrie förmlich danach, untersucht und erkundet zu werden und deshalb hatte er es auch eigenmächtig in eine dieser Tüten der Spurensicherung gepackt und mitgenommen. Er hätte nächtelang wach gelegen und sich über dieses Buch den Kopf zerbrochen, hätte er es einfach liegen lassen. Seinem Bauchgefühl konnte der Detective zu achtzig Prozent vertrauen. Die restlichen zwanzig Prozent verbuchte er unter dem Motto »Irren ist menschlich«. Lieber hatte der Detective einmal zu viel nachgeforscht, als dass er einen wichtigen Hinweis übersehen würde.
Sein bester Freund Cameron arbeitete bei den Forensikern und durfte heute nicht zum ersten Mal ein selbst ernanntes Beweisstück von Andrew unter die Lupe nehmen. Nicht immer stieß er dabei auf pure Begeisterung oder positive Zustimmung, nein, an manchen Tagen wurde ihm sein Beweismaterial direkt gegen den Kopf geschmissen, wenn der Forensiker vor lauter Arbeit kein Land mehr sah und sein Freund ihn wieder einmal um einen Gefallen bat.
Kurz vor seinem Ziel besorgte der Detective zwei Coffee-to-go, bei einer kleinen Bäckerei nahe seinem Zielort, um seinen Freund bei seiner Ankunft etwas besänftigen zu können. Auch die Zuckerversorgung, die bekanntlich das Dopamin als inneren Antreiber in die Gänge bringt, wurde von Andrew durch eine klebrige Mohnschnecke und einem Schokocroissant gewährleistet.
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»Morgen!«, trällerte der Hilfesuchende gespielt fröhlich in das Büro, in dem sein bester Freund den gesprochenen Worten seines Diktiergerätes lauschte, um sie anschließend in schriftlicher Form auf Papier zu bringen.
Dieser hob seinen Blick und visierte sofort den Pappbehälter, in dem die beiden randvollen Kaffeebecher standen, an: »Morgen! Hast du mir wieder Arbeit mitgebracht oder zeigt sich heute ausnahmsweise deine soziale Ader, und du überbringst mir bedingungslos einen Muntermacher?«
»Beides, mein Freund! Außerdem habe ich deine Lieblingsschleckereien mitgebracht. Ich dachte, dass du nach deiner anstrengenden Schicht sicherlich deinen Zuckerhaushalt pushen musst!«
Cameron verdrehte die Augen, stoppte die Worte, die monoton dem Aufnahmegerät entwichen, und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Er fuhr sich erschöpft durch seine dicken blonden Haare und nahm anschließend den von Andrew gereichten Kaffee und die süßen Stücke entgegen.
Nachdem der Forensiker den ersten Schluck des braunen Goldes seine Kehle hinuntergeschickt hatte, schmiss der Detective sein selbst ernanntes Beweisstück auf den überfüllten Schreibtisch: »Kannst du das schnell unter die Lupe nehmen? Der Neue hat dieses Notizbuch als Nichtigkeit erklärt!«
»Richard?«, platze es sogleich abschätzig aus Camerons Mund heraus.
»Was? Wer ist Richard?« Andrew war sichtlich verwirrt, da er sich sicher war, namentlich niemanden erwähnt zu haben.
»Na, der Neue!«, stieß der Blondschopf belustigt hervor und ließ beidseitig seine tiefen Wangengrübchen zum Vorschein treten.
»Wenn du doch weißt, wie er heißt, brauchst du mich nicht nach seinem Namen zu fragen. Mein Namensgedächtnis ist nicht das beste. Solltest du doch wissen!«
An Andrews mürrische Art hatte sich schon jedermann gewöhnt und keiner nahm ihm sein Gemecker übel. Schmunzelnd erhob sich Cameron von seinem Stuhl, schnappte sich das eingetütete Büchlein und deutete Andrew, ihm zu folgen.
Auf dem kurzen Weg, den die beiden zu beschreiten hatten, brachte der Detective dem Forensiker die ausschlaggebenden Eckpunkte des Tatorts näher: »Das Opfer lag mit dem Oberkörper auf dem Schreibtisch. Der restliche Körper hing verdreht auf dem Stuhl. Er wurde von der Haushälterin aufgefunden. Ihrer Aussage nach, stand die Wohnungstüre offen. Es zeigten sich keinerlei Hinweise eines gewaltsamen Eindringens und es gab keine Anzeichen eines Gewaltverbrechens. Die Dame hat bei der Überprüfung der Wertgegenstände keinen Verlust bemerken können, obwohl das Zimmer, in dem sich das Opfer aufhielt, verwüstet war. Das Opfer selbst blutete aus der Nase und aus dem Mund. Näheres werde ich erst erfahren, wenn ich im Büro bin!«
In den Laborräumen angekommen, zog sich Cameron sofort ein paar Einmalhandschuhe über die Hände und befreite das abgegriffene Notizbuch aus der Tüte, um es auf der weißen Tischplatte abzulegen. Bevor er das Objekt genauer unter die Lupe nahm, schoss der Blondschopf einige Bilder mit seiner Kamera. Andrew schlürfte in dieser Zeit genüsslich an seinem Kaffee und erfreute sich an dem warmen Gefühl, dass das braune Gebräu in seinem Magen verursachte.
»Du sollst hier keinen Kaffee trinken! Warum muss ich mich immer wiederholen?«
Der Detective ignorierte das Gemeckere seines Freundes, denn mehr als zwei Ermahnungen hatte er nicht zu befürchten.
»Auf dem Ledereinband sind einige Blutspritzer zu sehen!« Während seiner Aussage nahm Cameron einige Proben und stellte diese, nach der Beschriftung, zur Seite.
Andrew war schon ganz nervös, denn es interessierte ihn ungemein, was er in diesen Notizen vorfinden würde. Das Opfer hätte schon seit Langem ein ungutes Gefühl gegenüber einer Person oder sogar eine Vorahnung haben können, das sein Leben sich bald dem Ende neigte. Der Name irgendeines Verdächtigen könnte von dem Opfer notiert worden sein oder vielleicht würden sie sogar die komplette Auflösung des rätselhaften Falles darin vorfinden.
Als der Forensiker die ersten beiden Seiten des Büchleins in Augenschein genommen hatte, zog er die Augenbrauen zusammen: »Handelte es sich bei dem Opfer um eine männliche oder weibliche Person?«
»Männlich. Wieso?« Direkt nach der Frage warf auch Andrew einen Blick auf die notierten Worte.
»Sieht eher nach einem weiblichen Verfasser aus. Eventuell hatte der Herr aber auch ein Faible für verschnörkelte Handschriften«, stellte der Forensiker fest und blätterte einige Seiten weiter nach hinten.
Dort fanden die zwei Männer einen gelben Notizzettel, auf dem einige Nummern und Buchstaben vermerkt wurden. Des Weiteren standen dort zwei Sätze, die in keiner gelesenen Form irgendeinen Sinn ergaben.
Andrew Foster atmete schwer auf, da er keinerlei Zeit für derartige Entschlüsselungsaktionen aufbringen konnte, obwohl er das Rätseln in dieser Form schon von Kindesbeinen an liebte. »Das ist doch der perfekte Start in den Tag. Willst du deine grauen Gehirnzellen auch aus ihrer Komfortzone locken und ihnen die Möglichkeit zur freien Entfaltung bieten?«
Cameron zog vorbeugend den Kopf ein und lachte leise vor sich hin. Er wusste, dass sein Freund so früh am Morgen solch Neckereien nur schlecht wegstecken konnte, erst recht, wenn er nicht genügend Schlaf abbekommen hatte. Außer einem abschätzigen Brummen des Morgenmuffels bekam Cameron jedoch keine Reaktion.
Als die nächsten Seiten freigelegt wurden, beugte sich der Detective näher zu dem Büchlein und gönnte sich dabei einen weiteren Schluck seiner Koffeinbrühe. Dabei landete unbeabsichtigt ein kleiner brauner Tropfen auf der fein säuberlichen Schrift, der das notierte Wort sofort auszulöschen drohte.
»Andrew! Wie oft muss ich es dir denn noch sagen? KEIN KAFFEE IN MEINEM LABOR! Du vernichtest hier Beweismaterial«, fluchend schnappte sich der Forensiker ein Papiertuch aus einer Schublade, die unter der Schreibtischplatte verborgen lag, und tupfte vorsichtig die Flüssigkeit auf. Cameron stieß anschließend lauthals die angestaute Luft aus seinen Lungen und visierte seinen Freund an: »Nimm es mir nicht übel, aber es wäre mir lieb, wenn du jetzt in dein Büro flüchtest. Ich werde alles weitere genau erforschen und dich bei interessanten Funden kontaktieren. Die DNA-Analyse dauert in etwa vierundzwanzig Stunden, da wir nur minimales Material zur Verwendung haben, aber das ist dir ja bekannt!«
Der Detective legte einen reumütigen Blick auf, säuselte eine Entschuldigung vor sich hin und zog sich schließlich zurück. Er wusste nur zu gut, dass er jetzt das Feld räumen musste, denn sonst würde seine Gegenwehr auf kurz oder lang einen Streit entfachen.
In seinem Büro angekommen, konnte Andrew an nichts anderes als an das Büchlein denken. Gerne hätte er die unzählig beschriebenen Seiten durchforstet und sich die darin enthaltenen Informationen selbst vor Augen geführt. Ihn ließ die Vermutung, dass es sich bei diesem Buch um ein Tagebuch handelte, nicht mehr los und er wusste genau, dass Menschen dort viele ihrer Geheimnisse offenbarten.
Interessantes, Geheimes, Verbotenes, Vernichtendes. Alles war möglich. Es lag in seiner Natur, neugierig zu sein und Geheimnisse lüften zu wollen, was in seinem Beruf als eine gewisse Voraussetzung galt. Die Ungewissheit, was sein Freund, anstatt ihm, zuerst zu Gesicht bekommen würde, brachte ihn fast um den Verstand. Bisher lagen leider auch keine neuen Ergebnisse seiner Kollegen, die den Fall bearbeiteten, vor und deshalb musste er sich mit etwas anderem beschäftigen, da er sonst verrückt werden würde.
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Achtundzwanzig Stunden später stürmte Andrew voller Ungeduld das Büro des befreundeten Forensikers: »Liegen die Ergebnisse vor? Hast du irgendwelche interessanten Einträge gefunden?«
»Hi, Andrew. Interessant sind einige der Einträge sicherlich, nur nicht von großer Bedeutung, was den Fall betrifft. Ich habe mich mit dem zuständigen Forensiker in Verbindung gesetzt und einen Abgleich gestartet. Das Blut auf dem Umschlag stimmt mit dem des Opfers überein. Die Kollegen haben keine Fremd-DNA gefunden, außer natürlich von der Haushälterin. Die ist tagtäglich in diesem Haus zugange und deshalb ist das auch nicht verwunderlich!«
Niedergeschlagen, da nichts Nützliches bei dieser Aktion herausgekommen war, griff Andrew nach dem Buch, das auf dem vollgeladenen Schreibtisch zum Abtransport bereitgelegt wurde: »Trotzdem danke! Wir sehen uns!«
»Hey, lass den Kopf nicht hängen. Zumindest musst du dich nicht mit dem Was-wär-wenn-Gedanken quälen, hättest du das Buch nicht mitgenommen!«, die tröstenden Worte wurden von dem Detective wahrgenommen, jedoch nicht kommentiert.
Noch bevor er das Labor verlassen konnte, nahm er ein gequältes Stöhnen wahr. Ein Blick über seine Schulter verriet ihm, dass diese Lautäußerung von seinem Freund stammen musste.
»Alles in Ordnung?«, Andrew legte einen sorgenvollen Blick auf, als er Camerons verzerrtes Gesicht sah.
»Ich weiß nicht. Seitdem ich in dem Buch lese, steigern sich meine Kopfschmerzen von Minute zu Minute!«, der Forensiker ließ Zeige- und Mittelfinger über seine Schläfen kreisen, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen.
»Hast du es schon mit einer Tablette versucht?«
»Sicher, aber die zeigt keine Wirkung! Mach dir keine Gedanken, das wird bestimmt von meinem verspannten Nacken kommen. Jetzt verzieh dich, ich habe zu tun!«, mit einem gekünstelten Lächeln und einer ausladenden Handbewegung verabschiedete der Forensiker den Detective.
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Andrew schmiss sich in seinen Dienstwagen und erhielt kurz darauf einen Anruf seines Kollegen. Dieser teilte ihm mit, dass das Opfer laut Obduktion an einer Hirnblutung starb. Es wurde vermutet, dass durch den aufkommenden Schwindel und durch die Benommenheit die Verwüstung zustande kam und das Opfer sich in letzter Sekunde auf seinen Bürostuhl rettete. Da die Einblutung stark ausgeprägt war, hatten die Symptome rasch zugenommen und den Herrn seines Bewusstseins beraubt. Dadurch knallte er frontal mit dem Gesicht auf die Schreibtischplatte, wodurch sich die Nasenblutung erklären ließ. Die Verletzung im Mundraum konnte durch einen Zungenbiss erklärt werden. Da dieser Vorfall direkt nach Feierabend der Haushälterin geschehen sein musste, kam jede Rettung zu spät.
Andrew schmiss sein Smartphone auf den Beifahrersitz und warf einen Blick auf das Buch, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Das aufkommende, schlechte Gefühl gegenüber diesem Schriftstück konnte er sich nicht erklären, doch ignorieren ließ es sich auch nicht. Der Gedanke an die plötzlich auftretende Hirnblutung des Toten und die Tatsache, dass sein Freund nun mit Kopfschmerzen zu kämpfen hatte, nachdem er sich die Nacht mit dem Buch um die Ohren geschlagen hatte, verschaffte Andrew Magenschmerzen. Hastig stieg der Detective aus seinen Dienstwagen und stürmte erneut das Labor, um den Forensiker mit einer Fahrt in das nahe gelegene Krankenhaus zu überraschen. Trotz dessen Widerwillens wurde Cameron von seinem Freund zu einem ärztlichen Check gebracht und musste aufgrund der enormen Intensität der Kopfschmerzen eine Nacht zur Überwachung dort verbringen. Ob ein Zusammenhang zwischen den beiden Männern und dem Buch bestand, konnte Andrew nicht nachvollziehen, denn manche Dinge blieben auch in seinem Job ein Rätsel, doch er war froh, Cameron nun in ärztlicher Obhut zu wissen.
Nachdem der Detective das Krankenhaus verlassen und sich wieder in seinen Dienstwagen bequemt hatte, startete er den Motor und steuerte den nächstbesten städtischen Mülleimer an. Sein Blick schweifte zu dem Sitzpolster seiner Rechten. Der Drang, wenigstens einen Blick auf den Inhalt des Büchleins zu werfen, war enorm. Cameron hatte ihm nicht verraten, welche Informationen sich darin befanden und alles als unbedeutend, auf den Fall bezogen, abgestempelt. Andrew ließ seine Finger über den Einband gleiten, wollte dem Drang, darin zu lesen, nachgeben und hob einige der Seiten an. Genau in diesem Moment durchbrach der Klingelton seines Handys, auf dessen Bildschirm Camerons Name aufleuchtete, sein Vorhaben. Ob es ein Wink des Schicksals oder nur reiner Zufall war, vermochte der Detective nicht zu beurteilen, jedoch konnte er das Geschehene auch nicht ignorieren.
Kurzerhand entsorgte er das nutzlose und Unheil bringende Buch, das seinem Freund wertvolle Zeit und womöglich fast das Leben geraubt hatte, und widmete sich anschließend dem unaufhörlichen Klingeln.
Rojo
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