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1989 | Blitze über Leipzig

Ostberlin.

Etwas lag in der Luft. 1989 neigte sich dem Ende zu, doch es schien, als würde das Jahr den Drehzahlmesser noch einmal richtig in die Höhe jagen wollen. Ein dunkler blau-grauer Theatervorhang zog sich seit Wochen, fast zeitgleich mit dem meteorologischen Herbstanfang, über das lustige Sommerblau des Himmels und versprach Gewitter und Hagelstürme über dem Osten Deutschlands.

»Freiheit!«

Der Montag war im Kalender rot eingekringelt und fest reserviert für die Straße. Schilder und Fäuste wurden in den stahlharten Herbsthimmel gereckt, die fordernden Stimmen rollten wie ein grollender Donner durch Leipzig. Zwar hatten die Demos schon Anfang September begonnen, doch Jennys knallrot gefärbter und kinnlang geschnittener Bob strömte erst ein paar Wochen durch die bunt gemischte Woge an Menschen. Genau seitdem final feststand, dass sie ihren Studienplatz zum dritten Semester verlieren würde. Das System brauchte qualifizierte Lehrkräfte, ja, aber nicht solche, die das falsche Gedankengut hatten.

Ihre beste Freundin aus Schulzeiten, Carla, hatte es sicher schon geschafft. Über Prag hatte sie Westdeutschland erreichen wollen. Bis zum letzten Tag war nicht klar gewesen, ob das mit den gefälschten Pässen klappen würde und dann ging doch alles Knall auf Fall. Jenny hatte gewusst, dass sie den messerscharfen Sarkasmus ihrer besten Freundin und den mysteriösen Hauch von bergfrischem Aftershave auf ihren bobonbunten Häkeltops vermissen würde, noch bevor Carla ein einziges Wort über ihre Pläne gesagt hatte.

Wer wusste schon, ob sie nicht gerade in Nürnberg bei ihrer Tante saß und sich die Demo im Fernseher ansah? Ob sie dort überhaupt ausgestrahlt werden würde? Ereignishungrige Kameralinsen blitzten hier und da durch die Menge wie neugierige Erdmännchen, aber ein Kamerateam hatte Jenny noch nicht bemerkt. Ihre Gedanken schweiften ab, denn immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie neiderfüllt an Carla dachte. Damit tat sie ihrer besten Freundin Unrecht, denn immerhin war es ein unendlicher Vertrauensbeweis gewesen, dass diese ihr überhaupt von den waghalsigen Plänen erzählt hatte. Über den Westen zu sprechen konnte gefährlich werden. Aber wie sollte man denn nicht gelb werden bei dem Gedanken an ein freieres Leben?

»Freiheit!«

Mit wutgeschwängertem Eifer stimmte Jenny in das Poltern der Gruppe ein. Ihr ganzer Zorn, das taube Gefühl der Handlungsohnmacht, das alles legte sie in ihre Stimme und brüllte die Worte in den verhangenen Oktoberhimmel. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde man endlich aufstehen, nachdem man stundenlang in einer unbequemen Position verharrt hatte. Es kribbelte, als das Gefühl wieder in die eingeschlafenen Beine kam und das Blut wieder normal zirkulieren konnte. Und es waren viele Menschen, die sich aus ihrer gelenkeverrenkenden Knebelposition erhoben. Hier war alles vertreten, von groß bis klein, von alt bis jung. Alle gingen auf die Straße für die Freiheit, der ein brillentragender Staatsratsvorsitzender ein Verfallsdatum aufgeklebt hatte.

Letzte Woche hatte die junge Frau einen in Beige- und Brauntönen gemusterten Strickpullover im rauschenden Strom des Demozugs erspäht. Es war ihr ehemaliger Erdkundelehrer, der unermüdlich »Weg mit der Mauer« gerufen und ein passend beschriftetes Schild von der Größe einer Tischplatte in die Höhe gestreckt hatte. Mit sorgenverklebter Ehrfurcht hatte sie daran gedacht, dass er eine Familie hatte. Einen Sohn im Grundschulalter, soweit sie wusste. Und ihre Gedanken waren weitergeflossen ... Wenn er ihr Vater wäre ... Ihr eigener hockte zu Hause, wenn er nicht gerade in seinem Büro unter dem Bildnis des selig lächelnden Brillenträgers mit dem sich zurückziehenden Haaransatz saß und Jenny konnte es ihm nicht verdenken.

Offen zu reden war schwierig, wenn man nicht wusste, wer alles ein Inoffizieller Mitarbeiter, ein heimlich lauschender IM, war. Das Gerücht hatte die Runde gemacht, dass Papas Cousine im Auftrag der Stasi die Familie ausgehorcht hatte. Sonntagsanrufe unter dem Vorwand, dass man sich nach dem Wohlergehen der Familie erkundigen wollte. Möglich wäre es, denn irgendwie musste die Info über Jennys unerwünschte Gesinnung ja durchgesickert sein. Bestätigt hatte niemand etwas, aber der Verdacht lag ziemlich nahe. Jedes Mal, wenn Jenny darüber nachdachte, kochte die Wut in ihr hoch. Es hing zwar der dicke Nebel des Vielleicht über der ganzen Sache, aber der Argwohn hatte die Seelen vergiftet.

Auf jeden Fall hatte die Cousine sich vor Kurzem - fast direkt nach Jennys Exmatrikulation - nach Ungarn abgesetzt, hatte ihren Mann und zweijährigen Sohn samt einiger fraglicher, aber nicht genauer benannten Akten in ihrer Pankower Wohnung zurückgelassen. Jenny hatte ihre Eltern belauscht, als diese darüber gesprochen hatten. Der feurige Rotschopf war ins Wohnzimmer geplatzt und hatte geschrien, dass die Schlange sich nun gehäutet habe. Dass Papas Cousine zu groß für ihr Lügenkostüm geworden war. Jennys Mutter hatte vor Schreck über die explosiven Worte geweint, doch es war nur die Wahrheit. Jenny hatte nicht vor, etwas davon zurücknehmen.

Wenn die junge Ex-Studentin daran dachte, dass jemand aus ihrer Familie in einem Loch wie Hohenschönhausen hätte landen können, einfach nur, weil er die falsche Meinung hatte, wurde ihr speiübel. Und doch ging sie auf die Straße, denn sie hatte keine Angst. Der jungen Frau war es mittlerweile egal geworden, ob die lauernden Schatten sie schnappten und was sie mit ihr tun würden. Sie wollte in diesem System nicht leben. Und wenn das hier die einzige Möglichkeit war, etwas dagegen zu tun, dann bitte, dann würde sie es tun. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, das hatten die da oben nicht mitbedacht. Sie hatten ihr alles genommen: ihren Studienplatz, ihre Hoffnung, ihre Zukunft. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten, konnten gefährlich werden, eben weil es nichts mehr gab, das sie davon abhalten konnte, alles auf eine Karte zu setzen.

Sippenhaft, schoss es ihr durch den Kopf. Der Wermutstropfen des schlechten Gewissens, der ihr Engagement bei den Demonstrationen ständig zu untergraben versuchte. Doch, klar hatte sie etwas zu verlieren. Wenn ein andersdenkender Kopf in die das Netz an haarkleinen Befragungen geriet, dann verhielt es sich so, als ob er radioaktiv verseucht wäre - es strahlte auf die ganze Familie über. Leute aus dem eigenen Umfeld wurden festgenommen, ausgequetscht, verurteilt. Aber, verdammt noch mal, für die alle kämpfte sie doch auch!

»Freiheit!«

Jennys eigene Stimme ging im allgemeinen Grollen unter. Wütende Gesichter mischten sich mit hoffnungsvollen, mischten sich mit resignierten. Die Masse flutete die Straßen, Menschen standen an den Balkonen ihrer Altbauwohnungen und feuerten die Demonstranten in ihrem Tun an oder beschimpften sie mal mehr, mal weniger vulgär. Manche knipsten Fotos und gaben einen Daumen hoch, andere zeigten abfällig den Mittelfinger. Ob diese Gesten an das Regime oder an den Demozug gerichtet waren, wusste Jenny nicht, aber sie nahm nichts persönlich - darüber war sie hinweg. Sie war hier, um für eine Zukunft in Freiheit zu kämpfen.

»Freiheit!«

Auf einmal stolperte die junge Frau. Gerade so fing sie sich an einem Poller auf, wobei sie sich den Ärmel ihres karamellfarbenen Wollmantels mit einem verhängnisvollen Ratsch ein Stück einriss. Verdammter Mist ... Erst ging sie davon aus, dass ihr jemand ein Bein gestellt oder eine Stolperfalle aufgebaut hatte. Vielleicht Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, die sich in ziviler Kleidung in die Demos einschleusten und ihren Frust an einer zufällig dafür auserkorenen Person auslassen wollten. Doch der Grund für ihr Fallen machte sie gleich ausfindig. Ein zerfleddertes dunkelbraunes Rechteck lag am Boden.

Eigentlich wollte Jenny weitergehen, denn das, was da lag, gehörte ihr nicht. Außerdem war dieses Ding für den Riss in ihrem Mantel verantwortlich und dafür, dass sie sich beinahe auch noch die Knie aufgeschlagen hätte. Doch irgendwie zog dieser Gegenstand sie geradezu magisch an. Es war ein kleines, aber recht dickes Buch und Literatur zog sie an. Jennys große Liebe, ihr Rückzugsort, wenn es ihr im Osten zu eng wurde. Ein Buch - wie sollte sie das einfach liegen lassen? Sie schaute sich unauffällig um und hob das Ding auf, während die Menschenmenge an ihr vorbeifloss. Der schmutzige Abdruck eines Schuhs hatte sich vorne auf den Einband gedrückt. Vor Jenny mussten doch dutzende andere Leute darauf herumgetrampelt sein, so zerlumpt wie das Büchlein aussah. Aus einer Gewohnheit heraus roch Jenny daran. Erst am Einband, dann schlug sie es auf und schnupperte an der ersten Seite.

Der abgegriffene Ledereinband verströmte einen schwachen Geruch nach Gerberei, unangenehm säuerlich im Abgang, von den vielen schwitzenden Händen, die es angefasst haben mussten. Die Blätter aber hatten den charakteristischen warm-würzigen Papiergeruch, den sie so sehr liebte. Sie sah sich noch einmal um, ob jemand Besitzansprüche nach dem Ding geltend machen würde und steckte das Büchlein schließlich in die Innentasche ihres Mantels. Später würde sie einen genaueren Blick hineinwerfen. Der Rotschopf wollte sich wieder den Fluss des Demozugs einfädeln, da wurde sie mit einem eisernen Griff am Oberarm gepackt und in eine Seitengasse gezerrt.

Eine Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, drückte Jenny die Sauerstoffzufuhr durch den Mund ab, die sie gerade dringend nötig hätte. Panisch schlug Jenny um sich und begann zu hyperventilieren. Durch die Nase wollte nicht so viel Luft kommen, wie ihre Lungen forderten. Das warme Leder lag so fest auf ihrem Mund und schmeckte unangenehm bitter. Schneller als Jenny reagieren konnte, wurde sie immer tiefer in eine dunkle und feuchte Gasse zwischen zwei Altbauten gezerrt, bis sie neben einem überfüllten Papiercontainer endlich zum Stehen kam.

»Wenn ich meine Hand wegnehme, dann will ich keinen Ton hören, kapiert?«, raunte eine kratzige Frauenstimme in ihr Ohr. Eifrig nickte Jenny, doch die Hand blieb auf ihrem Mund. Ihr wurde schummrig vor Augen.

»Wenn du mich verarschen willst, wirst du es bereuen«, drohte die Stimme, die sich jetzt anhörte, als würde sie aus einem tiefen Brunnen heraus zu Jenny sprechen. Eine glänzende Klinge tauchte wie aufs Stichwort am Rande ihres Gesichtsfelds auf. Oh, verdammt ... Jennys Atem beschleunigte sich und sie drohte in die sanften Arme der Ohnmacht abzugleiten. Eine IM? Plötzlich schrumpfte Jennys Heldenmut zu einer kleinen Erbse im Leipziger Allerlei zusammen, war nicht mehr als ein Häufchen leererer Versprechen. Jetzt, wo eine unversehrtheitsgefährdende Klinge wenige Zentimeter neben ihrem Kopf schwebte, war es ihr plötzlich nicht mehr egal, was man mit ihr anstellen würde.

»Ich lasse jetzt los. Du wirst nicht schreien, du wirst nicht weglaufen ...«, forderte die Stimme, die kein Nein akzeptieren würde. Jenny nickte langsam. Die Hand wurde weggenommen und die Rothaarige unsanft herumgewirbelt. Mit beiden Händen wurde sie an den Schultern an die Wand genagelt. Jetzt sah die junge Frau in das überraschend magere Gesicht einer etwa Dreißigjährigen mit hellblonden Haaren, die zu einem fahrigen Zopf gebunden waren. Wie hatte so eine knochige Gestalt die Kraft aufgebracht, Jenny zu überwältigen?

»Ich habe dich vorhin beobachtet. Verdammte Verräterin. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, fuhr sie ihr verdutztes Gegenüber an. Jenny stand wie vom Donner gerührt an die Hauswand gedrückt da und suchte im Dickicht der argwöhnischen waldgrünen Augen nach einer passenden Antwort.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie da reden, aber ...«

»Du hast das Leben von so vielen Menschen zerstört!«

»Ich weiß wirklich nicht ...«

»Halt dein Maul!«

Kalt und bedrohlich leckte die Klinge an Jennys Hals. Sie traute sich nicht einmal, zu schlucken. Das ausgemergelte Gesicht war so nah an ihrem, dass sie den Atem ihrer Angreiferin spüren konnte. Irgendwie erschien es ihr auf einmal als sehr unwahrscheinlich, dass diese Frau bei der Stasi arbeiten sollte. Jennys Blick fiel auf einen kleinen runden Button, der an der schwarzen Jeansjacke ihrer Angreiferin steckte. Freiheit. Die Frau bemerkte Jennys Blick und folgte ihm. Ein verächtliches Lächeln verunstaltete ihr ohnehin schon unansehnliches Gesicht.

»Das hättest du doch nicht als Hinweis gebraucht, stimmt's? Du hast ja bestimmt auch sonst wirklich stichhaltige Beweise gegen mich ...«

Ein sarkastisches Lächeln, wie Jenny es nur von Carla kannte, doch mit viel mehr Boshaftigkeit. Carla ...?

»Carla ...?«, murmelte Jenny, obwohl das Unsinn war. Ihre beste Freundin hatte braune Augen und lange, von Natur aus ziegelrote Haare, an die sie nie im Leben auch nur den leisesten Hauch von Wasserstoffperoxid lassen würde. Ein Moment des Zögerns ließ die Unbekannte innehalten.

»Wer ist das?«, zischte sie und drückte sie Klinge näher an Jennys Hals.

»Meine beste Freundin. Sie ...«

Eigentlich wollte Jenny dieser Irren gar nichts anvertrauen. Es war gefährlich, zu sprechen und Fremden, die einen mit einem Messer bedrohten, konnte man erst recht nicht über den Weg trauen. Doch es ging gerade um ihr Leben. Die kaltbrodelnde Angst nahm Jenny die Entscheidung schließlich ab. Es wäre von Vorteil, wenn sie das Vertrauen dieser Frau gewinnen könnte.

»Sie ist im Westen ...«, flüsterte Jenny schließlich. Das war wohl die Antwort gewesen, die die Fremde hatte hören wollen, denn der Druck der Klinge ließ sofort nach.

»Carla ... und weiter?«, hakte sie forsch nach. Mist. Aber ... Es würde doch nichts ausmachen, wenn Jenny es sagen würde, oder? Carla war doch sicher schon längst angekommen. Sie ... Nein! Was, wenn Carla es doch nicht in den Westen geschafft hatte? Was, wenn das hier eine Stasi-Mitarbeiterin war, die Carlas Umfeld unter die Lupe nehmen sollte? Was, wenn der Button mit Freiheit bloß als Tarnung diente? Das schlechte Gewissen nagte an Jenny. Carla hatte ihr vertraut. Sollte sie das Vertrauen verspielen und dieser wildfremden Frau auch noch den vollen Namen ihrer besten Freundin geben? Sie auf dem Silbertablett servieren? Nein.

»Carla von Wenger«, murmelte Jenny und räusperte sich leicht. Tatsächlich nahm die Frau endlich die Klinge weg. Sie ließ das Messer zuschnappen und steckte es sich in die Jackentasche.

»Kenn ich nicht. Ist aber auch egal. Schämst du dich eigentlich nicht? Deine beste Freundin haut in den Westen ab und du ... du gibst belastende Beweise an die Staatssicherheit weiter?«

Jenny schloss die Augen und atmete tief ein. War sie jetzt doch eine IM? Oder was genau meinte sie damit, dass Jenny Beweise habe? Was für Beweise? Noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, um nachzuhaken, was das für Indizien sein sollte, kam ihr die Frau zuvor.

»Das Notizbuch.«

»Bitte?«

Fordern streckte sie die Hand aus. Um das dazugehörige Handgelenk herum, genau an der freien Stelle zwischen Ärmel und Handschuh, zeichneten sich dünne rote Linien ab, die an manchen Stellen ins Bläuliche gingen. Jennys Herz fühlte sich an, als läge der eiserne Griff ihres Gegenübers darum. Was hatte man mit ihr gemacht? War sie einem der berüchtigten, umfangreichen Verhöre zum Opfer gefallen? Festgehalten, bedroht ... Aber was, wenn nicht?

»Gib mir das Buch!«, forderte die Blonde und trat einen Schritt auf Jenny zu. Aber sie hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, selbst in das kleine Schriftstück zu schauen. Was, das so wichtig war, konnte denn drinstehen?

»Nein«, erwiderte Jenny trocken.

»Das war keine Frage.«

»Da hinten sind sie!«

Der plötzliche Ruf ließ beide aufschrecken.

»Scheiße«, raunte die Frau. Einige Meter entfernt standen zwei Männer in dunkler Kleidung direkt im Eingang der Gasse. Die ehemalige Lehramtsstudentin konnte nur ihre Umrisse ausmachen, weil die müde Sonne hinter ihnen in die Gasse schien, aber eines konnte sie deutlich erkennen: Einer der beiden zielte mit einer Waffe auf die Frauen. Die Unbekannte packte Jenny am Arm und riss sie mit sich. Ein Schuss zerriss die Stille, die sich wie Gelee, um die Häusern zu schließen schien. Hier, wo der Lärm der Demo von den Betonwänden geschluckt wurde, schlug die Kugel in den Putz einer Hauswand ein. Jenny ließ sich mitziehen, wie durch ein Labyrinth rannten die beiden zwischen immer enger werdenden Gassen, durch einen Hinterhof, wo der Boden aufplatzte und stockfleckige Unterhosen auf den Wäscheleinen im lauen Wind trudelten, zwischen zwei Papiertonnen hindurch.

»Stehen bleiben!«, rief einer der Verfolger.

»Alles ... nur ... wegen ... dir ...«, presste die Frau zwischen den hastigen Atemzügen hervor.

»Was? Was ... habe ich ... denn getan?«, rief Jenny zurück, bekam aber keine Antwort. Stattdessen schlug ein weiteres Geschoss wenige Meter hinter ihr mit einem dumpfen Knall in eine Mülltonne ein. Die Frau schleuderte Jenny durch eine niedrige Tür und wollte selbst folgen, da krachte ein weiterer Schuss und die Blonde knickte sie ein. Auf ihrer Jeans breitete sich vom Knie her eine rote Rose aus. Entsetzt starrte Jenny darauf.

»Glotz nicht, renn! Das Treppenhaus hoch, klopf bei Fricke, du heißt Anja Kellermann. Mach schon!«

Jennys Augen suchten gehetzt die Gegend ab nach Eselsbrücken, um sich das alles zu merken. Aber sie konnte nicht länger warten! Stöhnend sank die Frau gegen die Wand, doch Jenny musste sie allein lassen. Trotz ihrer mageren Statur würde Jenny sie unmöglich die Treppen hochtragen können. Das Treppenhaus war dunkel und ungepflegt. Unter Jennys Stiefeln knirschten kleine Brocken Putz und niemals aufgefegter Streusplitt aus vergangenen Wintern. Die Kanten der nach oben führenden Steintreppen waren abgeschliffen von den abertausenden Schuhen, die sie schon betreten hatten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend flog Jenny nach oben, dem Licht entgegen, das da oben wartete. Das Fenster im Erdgeschoss war mit Pappkartons zugeklebt. Doch oben schien Licht, dort musste sie hin. Ganz nach oben? Wie viele Stockwerke hatte dieses Haus?

Jenny schaute hoch, doch unten hörte sie nun eine Tür zuschlagen und das Trappen von schweren Schuhen. Von vier Schuhen, da war sie sicher. Sie hatte keine Zeit zu verlieren! Weiter rannte sie, in die erste Etage, die zweite, die dritte ... und das Licht war weiter oben, es ging immer noch ein wenig höher. Mit dem Taillengürtel ihres hellbraunen Mantels blieb sie am Geländer hängen und zerrte daran. Der Gürtel löste sich aus den Schlaufen und blieb trotzig am Handlauf der Treppe hängen. Fluchend setzte Jenny ihren Weg fort. Weiter, weiter nach oben! Das fünfte Stockwerk und ... endlich oben! Zwei Wohnungen, eine davon mit schief in den Angeln hängender Tür. Dahinter Dunkelheit, obwohl es Tag war. An der zweiten hing ein verblasstes Schild, doch den Namen konnte sie noch lesen: H. Fricke. Hier war sie richtig. Eilig klopfte sie. Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet, viel zu langsam. Die Schritte von unten kamen immer näher.

»Anja Kellermann«, zischte sie. Ehe sie sich versah, wurde die Tür von einem stämmigen Mittvierziger aufgerissen, sie wurde hineingezogen und fand sich allem Anschein nach in einer staubigen Junggesellenbude wieder, die zu einem Fotolabor umgearbeitet worden war. Zahllose Bilder hingen an einer Wäscheleine, die durch den Flur gespannt war und lenkten die Aufmerksamkeit beinahe von den verknüllten Wäschestücken auf dem Boden ab. Aufnahmen von der Demo letzte und vorletzte Woche auf der einen Seite, händeschüttelnde Funktionäre auf der anderen. Der Teppich mit seinem ehemals bunten Muster aus roten und blauen Schnörkeln war abgetreten, an manchen Stellen löste sich die Strukturtapete, die neu einmal orange gewesen sein musste.

Der Kerl trug ein weißes Unterhemd und eine azurblaue Shorts mit gelben Blumen darauf. Obwohl seine Aufmachung nach Urlaub aussah, wirkte er selbst, als ob er lange nicht mehr das Tageslicht gesehen hätte. Seine Augen waren gerötet und ein dunkler mehr-als-drei-Tage-Bart wucherte auf seinem blassen Gesicht. Die langen Haare glänzten fettig und waren zu einem tiefen Zopf gebunden.

»Sind die hinter dir her?«, raunte er. Jenny nickte eilig.

»Scheiße ...«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und musterte Jenny aus warmen blauen Augen. Jetzt, wo sie diese Augen sah, fasste sie direkt Vertrauen zu ihm - ohne ihn überhaupt zu kennen. Von draußen wurde wild gegen die Tür gehämmert.

»Sofort aufmachen!«

Jenny fuhr zusammen, doch den Mann, der allem Anschein nach H. Fricke hieß, erschreckte das Gepolter nicht im Geringsten. Er war es wohl gewöhnt, dass wütende Männer hier auftauchten und seine Tür massakrierten. Jennys Blick wanderte im Raum umher, sie suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Stattdessen blieben ihre Augen an der Pinnwand neben der Tür hängen. Ein Presseausweis mit dem Bild des Mannes war mit einer Reißzwecke daran befestigt. Er sah anders aus, mit gewaschenen Haaren und rasiertem Gesicht, doch man konnte ihn erkennen.

»Was ist mit Cora?«, fragte er. Jenny nahm wie selbstverständlich an, dass es sich um die blonde Frau handelte. Sie wusste nicht, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. War es strategisch sinnvoll? Das Hämmern von draußen zwang sie zu einer schnellen Entscheidung.

»Angeschossen.«

Auch das schien ihn nicht in hohem Maß aus der Fassung zu bringen. Betrübt nickte er und rieb sich nachdenklich das stoppelige Kinn. Als hätte er schon damit gerechnet, dass so etwas eines Tages passieren würde. Wie standen sie zueinander? War die Frau mit der roten Rose auf ihren Jeans seine Freundin? Plötzlich war es Jenny, als würde sie durch seine Augen in einen ganz tiefen und finstern Keller schauen.

»Wir müssen dich hier wegbringen. Die werden die Tür eintreten«, meinte Fricke und deutete darauf. Dort, wo sich das Schloss befand, war das Holz abgesplittert; sie musste mindestens einmal gewaltsam geöffnet worden sein. Wie war Jenny überhaupt hier reingeraten? Das alles nur wegen dieses verdammten Büchleins, über das sie gestolpert war, und dass sie niemals hätte aufheben sollen.

»Wir werden gleich die Tür öffnen!«, wurde von draußen gedroht.

»Komm mit«, winkte Fricke sie ins Wohnzimmer. Er drückte gegen die Wand und sie schob sich am anderen Ende ein Stück auf. Eine Abtrennung aus Sperrholz, die in einigem Abstand vor der eigentlichen Wand aufgezogen worden war. Dazwischen befand sich ein Hohlraum von einem halben Meter, der zum Großteil mit Zeitungen und Dokumenten vollgestellt war. Das war verflixt clever, musste Jenny zugeben.

»Da rein«, raunte er und bugsierte die junge Frau in den Zwischenraum. Klebrige Spinnweben verfingen sich in ihren roten Haaren und ihrem Gesicht, doch alles war ihr lieber, als in die Fänge von zwei schießwütigen Verfolgern zu geraten. Fricke öffnete die Wohnungstür und die Schritte der beiden Männer ließen die Holzdielen nicht nur knarren, sondern regelrecht erbeben.

»Der Herr Fricke schon wieder ...«, tönte einer davon betont lässig. Er sprach sehr deutlich mit einem klaren und dunklen Timbre.

»Wie kann ich den Herren helfen?«, fragte der Angesprochene ruhig. Jenny bewunderte ihn für diese Gelassenheit und fragte sich gleichzeitig, woher er die Ruhe nahm.

»Wir würden uns gerne ein bisschen umschauen ...«, verkündete der andere in geschäftsmäßigem Ton. Seine Stimme klang etwas undeutlich, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund. Die Schritte kamen immer näher. Ins Wohnzimmer. Jenny konnte nichts sehen, nur hören, was außen vor sich ging. Die Schritte kamen näher, näher ... Es war wie das Gefühl beim Versteckspielen, wenn der Suchende immer näher kam und die Nerven flatterten. Nur ging es diesmal um viel, viel mehr.

Die Schritte waren so nah, dass Jenny damit rechnete, jeden Moment entdeckt zu werden. Dem Mann musste doch nur auffallen, dass die Wand keine Wand war, sondern bloß eine dünne, mit Tapete verkleidete Holzplatte - eine verletzliche Membran - und schon wäre es aus für Jenny. Einen knisternden Moment lang hielt sie in ihrem Versteck den Atem an und bereitete sich innerlich darauf vor, entdeckt zu werden. Doch dann entfernten sich die Schritte wieder und sie atmete leise auf. Mit fahrigen Fingern tastete nach dem Buch. Hier war es dunkel, aber nicht stockdunkel. Sie musste endlich wissen, was in dem verdammten Buch stand, dass es der Frau so wichtig gewesen war.

Viel Platz war nicht zwischen Wand und Wand. Umständlich nestelte sie das Teil aus ihrem Mantel heraus und hielt es sich vors Gesicht. Die ersten Seiten waren tintenfleckig, das Papier gewellt, als habe man Wasser darauf verschüttet. Selbst bei Tageslicht hätte man nichts mehr entziffern können. Ab dem ersten Drittel des dicken Buches schien das Papier jedoch von Wasserschäden weitgehend verschont geblieben zu sein. Jenny konnte handschriftliche Notizen erkennen, die sie bei den schummrigen Lichtverhältnissen nur ganz schlecht lesen konnte. Die Schrift war geschwungen und schön, aber so schön, dass sie fast schon wieder unleserlich war.

»Tja, Herr Fricke, wie sieht's denn mit der Nachrichtenlage aus? Berichten Sie immer noch von den unerlaubten Zusammenkünften?«, hörte sie das düstere Timbre fragen.

»Von den Demonstrationen für Freiheit? Ja, von denen berichte ich immer noch.«

Gefährliches Schweigen. Jenny nahm ihre Aufmerksamkeit von dem Büchlein weg. Angespannt hielt sie den Atem an.

»Wir müssen Sie leider mitnehmen.«

»Sie beide? Und dann auch noch ohne einen Haftbefehl oder sonst was? Ich glaube nicht, dass ...«

Ein dumpfes Poltern ließ Jenny aufschrecken. Scharrende Geräusche, dann fiel die Tür ins Schloss. Jenny biss sich in die Faust. Sie wusste nicht, ob sie schreien, weinen oder in Ohnmacht fallen sollte. Wobei ihr letztere Option gerade am gnädigsten vorkam. Absolute Stille. Waren sie weg? Sie hatten Fricke mitgenommen und die Frau, die Cora sein könnte, sicher auch. Aber wer waren sie überhaupt? Die Stasi? Jenny bemerkte in diesem Moment, dass sie zwar aus Berichten von anderen über solche Dinge Bescheid wusste, es aber nie selbst erlebt hatte. Wer waren diese Männer? Sie würde es nie herausfinden.

Und helfen würde sie Cora und Fricke auch nicht können. Jenny steckte schließlich hier in der Wand fest! Das, was sich gerade abgespielt hatte, ließ die junge Frau schaudern und wirbelte einen wilden Orkan aus widerstreitenden Gefühlen durch ihr Herz. Neben der Schrecklichkeit, die sich zugetragen hatte, verspürte Jenny Hochachtung vor dem Mann, von dem sie nur den Nachnamen wusste. Er hatte seine Meinung nicht verhehlt, hatte sie bis zuletzt verteidigt. Und sie? Hätte sie dasselbe getan?

Endlich nahm die junge Frau all ihren Mut zusammen und entschloss sich dazu, den Weg nach draußen anzutreten. Vorsichtig drückte sie gegen die Wand, die sich mit leisem Scharren über die Dielen nach vorne schob. Niemand da. Der Teppich im Flur lag schiefer da, als er das vorhin getan hatte. In ihrer lebendigen Vorstellung wurde Fricke wie ein Sandsack über den Flur gezerrt. Und Cora saß womöglich bereits auf der Rückbank eines zigarettenverrauchten Wagens. Und jetzt? Was würde mit den beiden passieren? Im Tageslicht nahm Jenny sich das Buch erneut zur Hand. Diesmal konnte sie die Schrift besser lesen. Es waren Namen, darunter Notizen.

Kessler, Gerhard: Stammtisch, einmal pro Woche. Kritische Äußerungen?

Ditzer, Mandy: Verteilt Flyer in der Uni. Unter Beobachtung.

Jenny sah auf. Das hatte Cora also gemeint ... Es handelte sich um die Notizen eines Spitzels, das stand fest. Jemand hatte andere Menschen gut genug ausgekundschaftet, um sich ein Bild über deren Aktivitäten und Gesinnung zu machen. Doch nicht Jenny war es, die diese Beobachtungen in das Buch geschrieben hatte. Es war ihr doch auch nur durch einen Zufall in die Hände gefallen. Ihre Augen flogen über die aufgelisteten Namen. Hier waren sicher auch Menschen dabei, mit denen sie bei der Demonstration mitgelaufen war. Vielleicht stand sogar ihr eigener darin ...? Sie blätterte weiter durch das Buch und fand einen Namen wieder.

Kreutzer, Carla.

Carla ...?

Kreutzer, Carla: Republikflucht möglich.

Dahinter ein Häkchen. Ein Häkchen ...? Was hatte das zu bedeuten? Hatte man Carlas Fall wortwörtlich abgehakt? In welchem Sinn war das zu verstehen? Wo war Jennys beste Freundin und was war mit ihr passiert? War sie je im Westen gelandet oder der Staatssicherheit ins Netz gegangen? Nachdenklich ließ Jenny das Buch sinken und schaute aus dem Fenster. Suchscheinwerfer leuchteten das Innere ihres Verstands mit gleißend hellem Licht aus, auf der Suche nach einer rettenden Idee. Das Gewicht dieses müffelnden Lederbüchleins wog so schwer in ihren Händen, dass sie es am liebsten an der tiefsten Stelle auf dem Meeresgrund versenken würde.

Eines war ihr klar: Dieses Buch durfte nicht in falsche Hände gelangen. Jenny hätte der stürmischen Blonden vertrauen können, doch das hatte sie selbst nicht zugelassen. Die Angst davor, den Falschen zu vertrauen, führte in diesem System nur allzu oft dazu, dass man den Richtigen misstraute. Hätte Jenny das Buch direkt herausgerückt, wäre Cora wahrscheinlich nicht angeschossen worden. Und dann wäre auch Fricke bestimmt nicht einkassiert worden. Hätte, wäre ...

Die Verzweiflung presste heiße Tränen aus Jenny heraus, die ihr über die Wangen hinab zum Kinn flossen und von dort, statt auf ihren Mantel zu tropfen, ihren Hals entlang flossen. So verloren wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt, musste Jenny feststellen. Nicht einmal, als ihre Exmatrikulation per Post ins Haus geflattert war. Schniefend wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Mantels über die Augen. Zwei Menschen waren verhaftet worden und das war ihre Schuld ... Und das alles nur wegen dieses dämlichen Buchs mit dem abgefressenen Einband. Wütend schaute sie auf das Ding, das sie immer noch in ihrer Hand hielt. Sie musste es vernichten! Es hatte schon genug Schaden angerichtet.

Entschlossen griff sie es mit beiden Händen, um es an den Buchdeckeln in zwei zu reißen, doch der Einband war zäh. Sie würde es anzünden! Ja, dieses brandgefährliche Schriftstück sollte in Flammen aufgehen! Ja ... Doch sie hatte kein Feuerzeug dabei. Jenny schaute zur doppelten Wand. Der Trick würde früher oder später entdeckt werden, da war sie sich sicher. Es wäre kein gutes Versteck. Und die Zeit, jede Seite einzeln zu verreißen, wollte sie sich nicht nehmen.

Sie ging in die Hocke und fuhr mit ihren Fingern über die Holzdielen. Manche wölbten sich etwas nach oben. Altes Holz, das seinem Zweck längst überdrüssig geworden war. Vorsichtig lockerte Jenny eine Diele und quetschte das Buch darunter. Einen letzten Blick warf sie noch auf den Einband aus dunklem Leder, dann rückte sie die Diele wieder an ihren Platz und schloss mit der Holzplatte das Geheimversteck. Unbemerkt verließ sie das Haus und lief die regennasse Straße entlang.

Von der Straße her schallte es: »Freiheit!«

Stilusstory

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