Kraftvoller Strom
»Was ist mit Roger?«, fragte Melvin und erhob sich.
»Hat was abbekommen, aber wird's überstehn«, kam ihre knappe Antwort, während sich Sue ebenfalls aufrappelte. »Und danke nochmals.«
Zügig zog die Betonwand am offenen Ausgang vorbei. In der Decke der kreisrunden Kabine verbreitete eine einzelne Leuchtstoffröhre fahles Licht. Lange konnte die Fahrt nicht dauern, wenn er daran dachte, wie schnell der Lift nach den Schüssen von Roger und Sue heruntergekommen war.
»Eine Idee, was uns oben erwartet?«, wollte er wissen und ging in seine angehockte Kampfposition, um auf alles vorbereitet zu sein.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu, als versuche sie, ihn einzuschätzen. »Die Schleusen öffnen, was 'n sonst? Wir brauchn Wasser.« Sue zuckte mit den Achseln und hatte ihr Gewehr locker über die Schulter gehängt.
»Sie sagt dir nicht die volle Wahrheit«, kommentierte seine KI den Dialog.
So weit war er auch schon. Aber er wollte keine weiteren Unschuldigen töten, falls es sich vermeiden ließ. Daran hatte sich nichts geändert.
»Vorsicht«, warnte er Sue und schloss seine Augen.
Mit einem kurzen Sprung aus der Hocke zerschlug er mit der Faust die Leuchtstoffröhre. Krachend zerbarst das Glas und vermischte sich mit dem überraschten Aufschrei seiner Begleiterin. Splitter und Funken regneten herab. Dann standen sie in pechschwarzer Finsternis, in der er sprichwörtlich nicht mehr die Hand vor Augen sah.
»Boah. Du bist ja echt durchgeknallt«, kommentierte Sue seine Aktion.
»Wo sie recht hat ...«
In diesem Augenblick zeigte sich an der oberen Kante der Türöffnung ein heller Spalt. Sie waren angekommen. Zügig sprang er nach vorne zur Tür, duckte sich und wartete. So würde man ihn erst im letzten Moment entdecken, während die Kabine sich hochschob. Sue, die seine Strategie kapierte, trat mit zwei Schritten neben ihn. Nach oben durch die Lücke spähend, sah er nicht mehr als eine hellgrau gestrichene Decke. Als die halbrunde Öffnung groß genug war, sodass sein Körper hindurchpasste, griff er mit den Händen zu. Aus der Hocke sprang er mit maximaler Kraft schwungvoll hoch. Dabei hielt er sein Haupt gesenkt, damit sein ungeschütztes Gesicht zum Fußboden zeigte und keinen Angriffspunkt bot. Den Schwung nutzend zog er den Kopf zwischen die Beine, kugelte sich ein und machte eine Rolle nach draußen auf den Boden. Am Ende der Bewegung hob er seine Unterarme schützend vor sein Haupt. Jeden Moment erwartete er einschlagende Geschosse, die ihm die grobe Position seiner Gegner verrieten.
Nichts passierte.
»Alles gut, Chummer«, meinte Sue von der Seite und klopfte ihm auf die Schulter. »Kannst aufstehn.«
Als er seine Arme herunternahm und sich langsam aufrichtete, erwartete ihn ein leerer Korridor, der sich links und rechts vom Lift erstreckte. Kein Beton, sondern hellgrau getünchte Wände, die von drei geschlossenen weißen Feuerschutztüren durchbrochen wurden. In jeweils zehn Schritten Entfernung verschlossen weitere, doppelflügelige Eisentüren den Gang. Der Geruch von säuerlichen Putzmitteln hing in der Luft.
»Das scheint ja einfacher zu sein, als erwartet«, kommentierte er den Anblick.
»Stimmt«, bestätigte ihm seine Begleiterin.
»MELVIN! Achtung!«, kam der gedankliche Aufschrei seiner KI.
Zu spät. Sue drückte ihm ein hellblau flackerndes, elektronisches Gerät ins Gesicht. Dessen Metallkontakte gruben sich mit einem Brutzeln in seine rechte Wange. Ein schmerzhafter, elektrischer Schlag durchzuckte seinen Körper. Augenblicklich verlor er die Kontrolle über seine Gliedmaßen und klappte zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden. Auf dem Boden liegend war er bei vollem Bewusstsein, konnte sich aber nicht rühren.
»Hamm dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man Fremdn nich trauen soll?«, meinte Sue. Ihre dreckigen, zerkratzten Militärstiefel füllten sein Gesichtsfeld. »Das kommt davon, wenn man Menschenreste in nen Roboterkörper stopft.«
In Hintergrund hörte er, wie aufgestoßene Türen metallisch gegen die Wände krachten und trappelnde Schritte mehrere Personen sich näherten.
»Wie versprochen«, sagte Sue zu jemandem in der Nähe. »Nen fettes Stück Militärtechnik vom Feinsten.«
»Hättet ihr das Ding nicht direkt unten ausschalten können?«, antwortete eine andere Frau, deren Stimme befehlsgewohnt klang. »Ich habe einen Mann verloren und zwei Verletzte.«
»Sorry, das Teil is ganz schön misstrauisch.«
Melvin fluchte innerlich. Kaum hatte er für einen Moment Vertrauen gefasst und sich nicht den Rücken freigehalten, hatte sie ihn direkt verraten. Am Ende hatte seine KI doch noch bekommen, was sie wollte.
»Ich befürchte nicht. Das hier sind definitiv keine regulären Truppen.«
»Und wie schaltet man es komplett ab?«, wollte die Befehlshaberin wissen. »Lange wird die Betäubung vom Taser nicht anhalten.«
»Keine Ahnung. Aber er hat uns erzählt, dassa ne Batterie im Bauch hat.«
Mist. Er war ein Vollidiot. Hatte seinem Feind nicht nur eine, sondern gleich zwei seiner Schwachstellen offengelegt.
»Du wolltest ja nicht hören. Hättest du sie direkt unten erledigt, wärst du längst zurück bei der Truppe und könntest dich neuprogrammieren lassen. Das nächste Mal hörst du einfach auf meine Anweisungen, dann passiert dir so etwas nicht.«
Falls es noch ein nächstes Mal gab. Aber im Grunde war das keine Alternative. Er war hier um Kim, Lena und die anderen zu retten. Sobald die Betäubung nachließ, würde er ...
»Hier. Gefunden!«, rief ein Mann und drehte ihn scheppernd auf den Rücken.
In seinem auf die Decke gerichteten Sichtfeld sah er endlich die Umstehenden. Neben Sue stand eine Frau Mitte vierzig, in der dunkelblauen Uniform eines Sicherheitsdienstes. Sie trug eine Schirmmütze und hatte ihre schwarzen Haare zu einem engen Zopf nach hinten gebunden. Drei Männer umringten sie. Ähnlich gekleidet und mit gezückten Taserpistolen, die auf sein Gesicht zielten. Aber sie konnten nicht ahnen, wann seine Betäubung nachließ. Wenn er sie in dem Glauben ließ, dass er noch bewegungsunfähig wäre, könnte er ...
Klack. Seine Welt versank in Finsternis.
↼⇁
»... hmmm ... hm ... hmmm ... tralla la la ...«
Das unmelodische Brummen und Gesinge einer männlichen Stimme waren die ersten Eindrücke, die die wattige Dunkelheit durchbrachen, die Melvin einhüllte wie ein Kokon. Das Surren eines elektrischen Schraubendrehers und das Ablegen von metallischen Kleinteilen gesellten sich hinzu. Der Geruch von Schmieröl und verschmortem Gummi komplettierten seine Wahrnehmung. Er wollte seine Augen öffnen, doch es funktionierte nicht. Rot-orangene Helligkeit durchdrang seine Lider. Sie reagierten nicht und blieben geschlossen. Auch seine Finger und die restlichen Glieder waren unbeweglich. Streng genommen war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt spürte. Panik durchzuckte seine Gedanken. Wäre er noch komplett menschlich, würden sich in diesem Moment vermutlich seine Gedärme zu einem engen Knoten zusammenziehen. Denn es war nicht unwahrscheinlich, dass man tatsächlich seinen Kopf vom Körper gelöst hatte und er mit ihm nicht mehr verbunden war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er auch nicht mehr atmete! Nein! Die hatten ihn doch wohl nicht ...
»Kein Grund zur Panik, Melvin«, hallte die vertraute Stimme seiner KI durch die Strudel seiner aufgewirbelten Gedanken. »Bleib ruhig.«
Zum ersten Mal seit Langem war er froh um ihre Präsenz.
»Deine Zweitatmung über den Rücken ist aktiv. Dein Körper und Gehirn existieren und wurden nach der Entnahme der Batterie von der Notversorgung mit ausreichend Sauerstoff beliefert. Nach meiner ersten Analyse hat dein Gehirn keinen Schaden genommen. Zumindest keinen, der nicht schon vorher dort war.«
Der vertraute Klang half ihm, die aufkeimende Verzweiflung zurückzudrängen. Dass die KI existierte, bedeutete allerdings nicht unbedingt, dass er in einem Stück zusammenhing.
»Nein, aber Körper und Gehirn sind verbunden. Mehr weiß ich leider auch nicht. Die primäre Stromversorgung wurde erst vor wenigen Sekunden wiederhergestellt.«
Oh, Mann. Was zum Teufel, war passiert? Ah, ja. Der Fahrstuhl und Sue, diese Verräterin, die ihn in einem Augenblick der Unachtsamkeit getasert hatte. Sie hatte ihn an einen Sicherheitsdienst verschachert. Vermutlich um sich Wasser, einen Gefallen oder sonst was zu erkaufen. Die Menschen, die dort unten in den Tunneln und in der Wüste wohnten, hatten ihn genauso belogen und am Ende verraten, wie alle anderen.
»... hmmm ... ta ta tamm ... hmmm ...«
Der Singsang ging ihm auf dem Keks. Und die metallischen Geräusche waren nicht beruhigend. Konnte er denn gar nichts tun?
»Du könntest mir die aktive Steuerung deines Körpers übergeben«, schlug ihm seine KI in ihrem üblichen gelassenen Tonfall vor.
Hä? Davon hatte er noch nie etwas gehört. Das ginge? Er sollte seiner irren Psycho-KI seinen Körper überlassen? Aber warum hatte sie mehr Möglichkeiten als er selbst? Vermutlich würde gar nichts passieren, außer, dass er, sobald er irgendwann die Kontrolle wieder zurückbekam, endgültig ein Gefangener in seinem eigenen Körper wäre. Nein, auf keinen Fall. Und wer weiß, vielleicht hatte damals im Keller auch seine KI die Steuerung während des Flashbacks übernommen und den Vater sowie Bloodhound getötet und nicht er.
»Ich befinde mich auf diversen Quantenchips in deinem zerebralen Kortex. Vereinfacht gesagt, ein Hochleistungscomputer mitten in deinem Gehirn. Von dort habe ich deutlich mehr Steuerungsmöglichkeiten als dein aktives Bewusstsein. Falls die aktuelle Blockade deiner Steuerung nicht physisch ist, könnte ich versuchen, sie zu hacken.«
Hm ...
»Du kannst die Kontrolle jederzeit per gedanklichem Befehl zurückholen.«
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Habe ich dich je belogen? Außerdem befürchte ich, dass du den Geräuschen nach zu urteilen gerade in deine Einzelteile zerlegt wirst. Das ist weder in deinem noch in meinem Sinne.«
Da hatte sie leider recht. Das machte es nicht besser. Pest oder Cholera. Am liebsten hätte in diesem Moment fest die Augen geschlossen und tief durchgeatmet. Oder sehr laut geschrien. Nochmals wartete er ein paar Sekunden, ohne dass er seinen Atem oder Herzschläge vernahm. Eine weitere Schraube wurde gelöst und von dem schräg trällernden Mann abgelegt. Seine Zeit lief ab.
Also gut. Ähnlich wie bei der Waffensteuerung konzentrierte er sich aktiv darauf, seine Körperfunktionen an die KI zu übergeben.
»Vielen Dank.«
Das war ihr einziger Kommentar. Weiter passierte nichts. War ja klar. Sie war nur die Nächste, die ihn an der Nase herumführte und genauso wie alle anderen ausnutzen wollte. Gerade bereitete er sich darauf vor, die Steuerung zurückzuholen, da öffneten sich seine Augen – ohne, dass das eine bewusste Handlung gewesen wäre.
Blendendes Licht stach ihm in die Augäpfel. Zunächst schwammig, dann immer klarer erkannte er einen menschlichen Kopf, der über ihm schwebte. Das Gesicht unter einem wirren roten Haarschopf verbarg sich hinter einer irren Maske. Ein suppentopfförmiges Gestell mit einem Dutzend Lupen in verschiedenen Formaten, goldenen, mikroskopartigen Auswüchsen, sich fokussierenden Kameralinsen und bunten Kabelbündeln, die das verrückte Konstrukt zusammenhielten.
»Wow! Hey! Oh, Scheiße!« Mit diesem Ausruf sprang die Person, einen dampfenden Lötkolben in der linken und einen surrenden Schraubendreher in der rechten Hand haltend, zurück. Die irre Maske pendelte an einem separaten Gestell zur Seite. Das sommersprossige Gesicht, das zum Vorschein kam, gehörte einem Mann in den Zwanzigern, der ihn aus aufgerissenen grünen Augen anstarrte.
Jetzt reagierte auch der Rest seines Körpers, bäumte sich auf und versuchte, sich mit aufheulenden Servomotoren aufzurichten. Vergeblich. Arme, Brust, Hüfte und Beine waren jeweils mit armdicken Stahlklammern fixiert.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, sagte der Kerl zu sich selbst, ließ die Werkzeuge fallen und fuhr mit den Händen durch seine Haare. »Der verfickte Blocker hält nicht. War ja klar. Wo ist denn ...?« Suchend sah er sich um.
Seitlich standen Werkbänke an gemauerten Wänden. Türme aus abgetrennten Roboterarmen, Kabelbündeln, zersprungenen Tablets und anderem Elektroschrott ließen kaum einen Quadratzentimeter frei.
»Ah ... hier.« Damit trat er neben ihn und hob einen handbreiten Kasten mit einem leuchtendroten Knopf.
»Nein!«, entfuhr es Melvin, wobei nicht er es war, der sprach. »Bitte warten Sie! Ich bin Eigentum des Militärs.«
Fuck! So durchtrieben die KI in seinem Kopf auch agierte, im realen Leben hatte sie keine Ahnung von zwischenmenschlicher Kommunikation. Mit einem erneuten bewussten Gedanken versuchte er, sich die Kontrolle zurückzuholen. Hoffentlich funktionierte es. Mit den Verhandlungskünsten seiner KI wäre er am Arsch.
»Jo. Is klar. Dann mal gute Nacht, Robbi«, kam die wenig überraschende Antwort des Rothaarigen und sein Daumen senkte sich auf den Knopf.
»Melvin!«, schrie er laut – diesmal wirklich er selbst und nicht seine KI. »Ich bin ...«
Klack.
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