Fehlerhafte Einschätzungen
Gelborangenes Glühen erfüllte den Himmel über dem Viertel, dem er sich näherte. Er wusste von seinem letzten Besuch, dass es keine brodelnde Lava am Fuß des Höllenschlunds war, wie man vermuten könnte. Es war schlicht das Licht greller Scheinwerfer, die den kraterartigen Trichter des Holes umgaben, das der diesige Nachthimmel reflektierte. Sein heutiges Ziel war jedoch nicht das große Loch. Inzwischen war vier Uhr morgens durch und ihm blieben noch maximal zehn Stunden, um Red und ihre Gang zu erledigen und zu Violette zurückzukehren. Wie beim letzten Besuch wanderte er durch regennasse Straßen, die halb und ganz zerstörte Einfamilienhäuser säumten. Früher mochten hier Jungs mit Bällen auf der Fahrbahn gespielt und die Nachbarn ihre Hecken mit der Nagelschere geschnitten haben. Robotaxen waren damals sicherlich wie emsige Bienen durch die Viertel geschwirrt, um die Anwohner zum Einkaufen, zur Arbeit oder in die Kirche zu bringen. Heute zeigten die Gerippe abgebrannter Dachstühle, schwarze Fensteröffnungen und wucherndes Gestrüpp, dass dieser Stadtteil in einem immerwährenden Todeskampf lag. Die heutigen Bewohner waren wie Maden im vergammelten Leichenfleisch, die versuchten, in den kläglichen Resten des Viertels ihr Dasein zu fristen. Sie zogen mit eingezogenen Schultern vereinzelt über die Straßen und wechselten die Seite oder duckten sich hinter halbherausgerissene Haustüren, sobald sie seine großgewachsene Erscheinung erkannten. Menschen in Stadtteilen wie diesem hatten einen Instinkt für aufkommenden Ärger. Und dass er diesen brachte, war unzweifelhaft. Heute war er hier nicht als Bittsteller unterwegs, sondern als Henker.
»Ganz schön morbide Gedanken. Und ziemlich arrogant«, kommentierte die KI seine Interpretation des Anblicks. »In diesen Slums soll die Gang wohnen? Schwer vorstellbar. Können die sich nichts Besseres leisten?«
Warte ab. Das Wummern dröhnender Bässe hallte bereits durch das Viertel, als würde um die nächste Ecke ein Open-Air-Konzert stattfinden. Ganz abwegig war der Vergleich nicht. Das kannte er schon von Violettes Revier: Dort hatten die Gangster es sich gemütlich eingerichtet, fuhren mit dicken Karren durch die Straßen und machten sich einen lauen Lenz. Aus Häusern dröhnte Musik von ausgelassenen Partys und auf dem Gehweg zeigte man sich besser nur, wenn man dazu gehörte. Der Handel mit Waffen, Drogen, Prostituierten jeglichen Geschlechts und illegalem Cybertech fand in den Shadows statt. Das hier war nur ihre Homebase. Daher gab es hier auch keine Revierkämpfe. Die kriminellen Banden lebten in gelassener Koexistenz nebeneinander. Es waren die Wohnzimmer der Gangs, in die sich keine Polizei traute – oder sie wurde bezahlt, um sie zu ignorieren. All das hatte er gemeinsam mit Cathrine in Erfahrung gebracht, während sie sich damals auf ihren Besuch bei Violette vorbereitet hatten. Geholfen hatte es ihnen nichts. Aber er plante nicht, wie beim letzten Mal, offen in das Revier einer Gang zu spazieren.
Umso erstaunlicher war es, dass die Gangbossin ihn genau in eines dieser gut bewachten Wohnzimmer schickte und damit ungeschriebene Gesetzte verletzte. Aber vermutlich hatte sie damit kein Problem, solange man die Aktion nicht mit ihr in Verbindung brachte.
Inzwischen hatte er die East Tomorrow Street erreicht. Die äußerste Grenze, an der laut Violette die Einflusssphäre von Red begann. Als einen Moment keine Passanten zu sehen waren, bog er in die verwilderte Einfahrt einer abgebrannten Hausruine ab. Gebückt drückte er sich durch eine überwuchernde Hecke neben der Wand und folgte einem matschigen Pfad bis zum Garten des Grundstücks. Kleine Äste kratzten unangenehm über seine Kopfhaut und erinnerten ihn an seine verwundbarste Stelle. Vor ihm materialisierten sich die Umrisse eines ehemaligen Swimmingpools im schwefelgelben Dämmerlicht, das den Himmel ausfüllte. Ein süßlich-fauliger Gestank stieg in seine Nase und ließ ihn durch den Mund atmen. Bah. Er wollte sich nicht damit beschäftigen, was dort in dem Pool vor sich hin faulte. Hauptsache es war tot und kam nicht auf die Idee, ihn anzuspringen. Zügig schlich er über die kurze Rasenfläche daran vorbei, kletterte über die Überreste eines Lattenzauns und überquerte die nächsten Grundstücke. Hin und wieder meinte er Bewegungen in der Finsternis auszumachen. Er zählte darauf, dass die Maden, die hier vor sich hinvegetierten, nicht auf die Idee kamen, einem Hünen wie ihn direkt in den Kopf zu schießen.
Inzwischen legte er sich seine Strategie zurecht. Einfach das Gegenfeuer zu ignorieren und durchzumarschieren, war ohne Helm keine Option mehr. Seine taktischen Stärken beschränkten sich auf Überraschung, Feuerkraft und Geschwindigkeit. Ohne Schalldämpfer würde er diese Operation weder heimlich noch kampflos über die Bühne bringen.
»Operation? Das hier ist kein Militäreinsatz. Du verdingst dich als Attentäter für niedere Motive. Mit jedem Schritt, den du tust, versinkst du tiefer in deiner Psychose. Warum lässt du dir nicht endlich helfen?«
Was daran, seine Familie zu befreien, sollte ein niederes Motiv sein? Er schüttete den Kopf. Nein, man ließ ihm keine Wahl und seine Ziele waren ehrenhaft und uneigennützig. Er bildete sich nicht ein, nach der Befreiung von Kim und Lena mit ihnen ein normales Leben zu führen. Dieser Zug war abgefahren. Aber zumindest den beiden – und allen anderen ehemaligen Bunkerbewohnern – wollte er ein menschenwürdiges Dasein und eine hoffnungsvolle Zukunft ermöglichen. Was mit ihm selbst passierte, das war ihm inzwischen fast egal.
»Violette hat dir Geld angeboten und du hast es angenommen. Mehr nicht.«
Na super, jetzt litt seine KI schon an Gedächtnisverlust. Hatte er nicht vorhin in der Werkstatt mit ihr über die Situation der beiden diskutiert?
»Nein, Melvin. Das meine ich ernst. Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, dass Violette dir bei der Befreiung deiner eingebildeten Familie helfen wird. Davon hat sie kein Wort gesagt. Sie hat dir einfach nur Geld angeboten und du hast es angenommen. Du musst dringend zurück zu einer Militärbasis und dir helfen lassen.«
NEIN!, schrie er in Gedanken, um die Stimme zum Verstummen zu bringen. Einen Moment hielt er inne und presste die Augenlider zusammen. Nein. Das war Blödsinn. Von Geld war nie die Rede gewesen. Natürlich existierten Kim und Lena. Ihr gemeinsames Leben im Bunker lag glasklar vor ihm ausgebreitet. Die verräterische KI versuchte einfach nur, ihn zu verunsichern. Sie belog ihn, um ihn dazu zu bewegen, zum Militär zurückzukehren. Das Scheißding hatte nur ein Ziel: Das militärische Gerät zu schützen, für das sie ihn hielt. Dafür hatte sie auch früher schon gelogen. Aber spätestens, sobald er die beiden in seine Arme schloss, wäre klar, dass das alles andere als eine Einbildung war.
»Das wird nicht passieren. Sie existieren nicht. Wie oft ...«
Er ignorierte die weiteren Worte, hörte nicht hin und ließ sie wie einen Ölfilm auf Teflon von sich abgleiten. Sinnloses, verlogenes Geblubber, das zu einem Hintergrundrauschen in seinem Kopf abklang. Wie das Piepen eines Tinnitus, das nervte, aber das man problemlos ignorieren konnte, solange man sich mit anderen Dingen beschäftigte.
Inzwischen wurden die Bässe deutlich lauter. Er trat in den Garten eines einstöckigen Hauses mit flachabfallendem Dach und leerem Pool. Über die intakten, verschmierten Fensterscheiben flackerten bunte Lichter. Hier war er richtig. Als Erstes musste er herausfinden, wo genau sich Red aufhielt. Er hatte kein Bild, aber eine Personenbeschreibung von Violette erhalten: eine Frau Mitte zwanzig, schlank, lange schwarze Haare, rötlicher Hautton, Tribaltattoos ihrer Gang an Hals und auf den Händen. Dazu ein nahezu vollständig vernarbtes Gesicht, das sie alles andere als attraktiv erscheinen ließ. Kaum zu verfehlen, sobald er ihr gegenüberstand.
In der Hauswand zeichnete sich eine Hintertür ab. Außen befand sich ein Fliegengitter, dahinter ein geschlossenes Türblatt. Mit einem Gedanken ließ Gewehre, Raketenwerfer und Krallen herausspringen. Dann folgte er seinem Geruchssinn. Erwartungsgemäß existierte hier keine funktionierende Kanalisation. Ihm war zwischendurch klar geworden, wozu die Pools hier genutzt wurden und welcher Gestank ihm schon mehrfach auf dem Weg in die Nase gestiegen war. Vorsichtig hockte er sich hinter einen der wuchernden Büsche, der ihn mit der Dunkelheit verschmelzen ließ. Perfekt. Jetzt musste er nur noch darauf warten, dass einer der Bewohner, sein Geschäft an diesem improvisierten Plumpsklo verrichten wollte.
Keine zehn Minuten später war es so weit. Quietschend wurde die Tür aufgestoßen und ein kräftiger Kerl in Gangkluft trat heraus. Für einen Augenblick erhaschte Melvin einen Blick in das Innere des Hauses. Im bunten Geflacker lagen dort mehrere Gestalten auf Sofas herum. Um diese Uhrzeit waren sie sicherlich komplett zugedröhnt oder schliefen bereits. Umso besser. Der Typ ging zum Pool und öffnete stöhnend seinen Hosenstall. Plätschern war zu hören.
Diesen Moment nutzte Melvin. Leise trat er hinter den Kerl, umklammerte mit einer Hand das Gesicht, sodass dieser nicht schreien konnte, und legte klingengewährte Finger vorne zwischen seine Beine.
»Psst. Kein Mucks«, warnte er den Mann flüsternd, dessen Körper sich vor Angst sofort versteifte, »oder dein bestes Stück gesellt sich zu den ekligen Resten dort im Pool. Kapiert?«
»Hmpf ...«
»Du kannst nicken, ich pass schon auf, dass ich dir nicht versehentlich ein Ohr abschneide.«
Er spürte ein minimales Kopfnicken an seiner Hand.
»Okay. Ich brauche von dir nur eine kleine Info: Wo befindet sich Red? Weißt du das?«
Erneutes Nicken. Seine KI brabbelte etwas im Hintergrund, das er weiterhin geflissentlich ignorierte. Verlogenes Mistvieh.
»Sehr schön, dann nehm ich jetzt meine Hand weg und du darfst mir antworten. Ich will keine Ausreden hören. Sag mir einfach, wo ich Red finde.«
Langsam löste er seine Handfläche ein paar Zentimeter von dem Gesicht, jederzeit bereit mit seinen Krallen zuzupacken und einen Schrei zu ersticken.
»Im ... im Haus auf der anderen Straßenseite. Du ...«
Erneut umfasste er das Gesicht. Hielt dem Mann Mund und Nase zu. Der Körper zappelte ein paar Sekunden, dann erschlaffte er. Achtlos ließ er ihn nach vorne fallen, wo er mit einem Klatschen in der Stinkepampe landete. Er würde es überleben. Aber war es die Wahrheit gewesen? Leider vertraute er nicht mehr seiner KI, die dazu bestimmt eine Meinung hatte und es ihm hätte genauer sagen können. Allerdings ging ihm jetzt die Zeit aus. Früher oder später würde jemand den Kerl vermissen und anfangen zu suchen.
Ein spitzer Schrei durchbrach die Nacht.
Als er herumwirbelte, stand im Flackerlicht des Hauseingangs eine Frau in schwarzer Unterwäsche mit rotem Irokesenhaarschnitt und hielt ihre Hände vor den Mund. Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und trat langsam zurück. Verflucht. So viel zu seinem Plan.
Mit drei Schritten war er bei ihr und schubste sie mit der Handfläche ins Innere, wo sie kreischend auf ihrem Hintern landete. Dann schloss er die Tür. Mit seinen Krallen griff er an die Dachkante, sprang aus der Hocke ab. So katapultierte er sich auf das Dach, wo er erneut in die Knie ging. Im Haus wurde die Musik abgeschaltet, Rufe erklangen. Auf allen vieren krabbelte er möglichst geräuschlos vorwärts über die flache Schräge zur anderen Seite. Dumpf hörte er, wie die Hintertür aufgerissen wurde und männliche Stimmen in die Nacht riefen. Sie schienen ihren Kumpel zu suchen. Gut so.
Inzwischen war er vorne angekommen und sondierte die Lage. Zu beiden Seiten verlief eine der typischen Einwohnerstraßen. An den Straßenrändern standen aufgemotzte Karren: Pick-ups mit überdimensionalen Reifen, flache Oldtimer mit Flammenlackierung, Chrom und herausragenden Motoren, ein Trike mit silbernem Totenkopfemblem am Tank. Tank? Seines Wissens existierten keine benzingetriebenen Fahrzeuge mehr und manuelles Steuern war ebenfalls verboten. Die einzige, funktionierende Straßenlaterne war hundert Schritte entfernt. Was ihn interessierte, war das Haus gegenüber. Hoffentlich Reds Haus. Die erkennbaren Umrisse zeigten es wie einen Zwilling des Gebäudes, auf dem er gerade hockte. Vermutlich sahen hier alle Bauten gleich aus. Eine ehemalige Retortenvorstadt.
Das Licht hinter den zwei sichtbaren Fenstern auf der anderen Straßenseite wurde eingeschaltet und erhellte senffarbene Vorhänge. Kurz darauf trat ein muskelbepackter Kerl mit freiem Oberkörper heraus, der sich gerade die Lederhose zuknöpfte. Am Gürtel hing eine fette Pistole im Holster. Melvin musste handeln. Falls der Typ einen Blick nach oben warf, würde sein Körper sich wie ein Gargoyle auf dem Dachfirst vor dem schwefligen Himmel abzeichnen.
»Hey, Ed!«, rief der Mann in die Dunkelheit. »Was'n los bei euch drüben?«
Dabei warf er lange Blicke nach rechts und links in die Straßenflucht und legte seine Hand auf die Waffe. Offenbar traute er der Sache nicht. Zeit zu handeln.
Mit einem weiten Satz sprang Melvin mit ausgefahrenen Krallen vom Dach, um sie dem Kerl in seinen nackten Oberkörper zu rammen. Bereits im Flug erkannte er seinen Fehler: Metallische Schläuche zogen sich an den Muskelsträngen seines Gegners entlang. So schnell, dass es nur schemenhaft erkennbar war, trat dieser zur Seite aus der Flugbahn. Zog den Revolver aus dem Holster und hatte drei großkalibrige Kugeln in Melvins Brust versenkt, noch bevor dieser auf dem Boden aufschlug.
ca. 20.000 Wörter - ONC Meilenstein geschafft (aber keine Sorge, die Geschichte nimmt jetzt erst richtig Fahrt auf ... 😉)
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