Dreckige Katzenöhrchen
Harris ignorierte Lena und fuhr fort: »Also gut. Wir beide, oder besser: wir drei, waren nie im Fake-Bunker gefangen. Zumindest nicht so, wie du denkst. Wir sind Schauspieler. Das waren wir schon immer. Du willst Beweise? Dann denk mal nach. Erinnerst du dich noch, wann du Lena kennengelernt hast?«
Das konnte er nicht glauben. Aber war das möglich? Melvins Gedanken rasten in die Vergangenheit. Lena hatte er beim Tanzcafé in der Mensa zum ersten Mal getroffen. Drei Jahr bevor er den Bunker verlassen musste. Sie waren praktisch sofort zusammengekommen und Kim kam neun Monate später zur Welt.
»Und?«, hakte Harris nach. »Genau. In der Mensa. Vorher hast du sie nie gesehen. Trotz der Enge und der gemeinschaftlichen Kindergarten- und Schulklassen. Ist dir das nie aufgefallen?«
Da war was dran. »Doch. Aber im Bunker lebten fast zweitausend Menschen. Da kann man nicht alle kennen«, antwortete er trotzig.
»Zweitausend? Quatsch«, Harris machte eine wegwerfende Geste. »Es waren nur zweihundert. Mehr hast du garantiert nie kennengelernt. Und davon waren maximal fünfzig gleichzeitig tagsüber zur Aufzeichnung anwesend. Während du zwölf Stunden am Tag mit Wartungsarbeiten und Militärtraining beschäftigt warst, konnte Lena ein normales Leben führen. Nur morgens, abends – und natürlich nachts – musste sie ran. Aber dafür wurde der Job fürstlich bezahlt.«
Das konnte er nicht glauben und es war nicht logisch. »Ich soll der Einzige gewesen sein, der davon nichts wusste? Das macht keinen Sinn. Da hätte man doch ebenfalls einen Schauspieler nehmen können.«
»Nein. Natürlich warst du nicht der Einzige. Es gab rund zwanzig unwissende Personen, die in diesen Mix aus sozialem Experiment und Realityshow sprichwörtlich hineingeboren wurden. Die nicht ahnten, nur Teil einer Show zu sein. Außerdem brauchte es immer wieder Nachwuchs. Die Sendung lief fast hundert Jahre, wie du weißt. Das machte ja den Reiz für die Zuschauer aus. Ansonsten hätte es nicht echt gewirkt.«
»Nur zwanzig ...« Das wollte nicht in seinen Kopf. Zwei Dutzend Ahnungslose, die von zweihundert an der Nase herumgeführt wurden. Von Harris, aber auch von Lena, die ihm ihre Liebe, ihre gemeinsame Zeit und ihr Leben nur vorgespielt hatte. Die ihm einen Sohn geboren hatte, nur damit die Illusion perfekt war. War das wirklich möglich?
»Ja, genau«, bestätigte Harris, »Du, Mel, Cathrine, Jorge, ...«
»Cathrine?«, unterbrach er ihn. »Sie wusste auch nichts davon? War keine Schauspielerin?«
»Nee. Dank ihres Temperaments und losen Mundwerks hat sie sich ständig in Schwierigkeiten gebracht. Ich habe in meiner Rolle verhindert, dass sie zum Militär musste. Für entsprechende Gegenleistungen versteht sich ...« Er grinste dreckig. »Ich habe das Hassobjekt gemimt – für die Zuschauer. Genau wie sich Lena für eure nächtlichen Schläferstündchen geopfert hat.«
Hätte Melvin noch eine, stiege ihm spätestens jetzt die Galle hoch. Harris war exakt das Arschloch, für das er ihn immer gehalten hatte. Schauspieler hin oder her. Langsam kapierte er, warum Cathrine im Hubschrauber den Abzug gedrückt hatte.
»Und Konrad?«, wollte Melvin schließlich wissen.
Der alte Mann war damals sein Mentor und Vorbild gewesen. Einer der wenigen, die es geschafft hatten, im Bunker zu bleiben und nicht zum Militärdienst einberufen zu werden. Konrad war es, der ihm nach der Durchsage des Kriegsberichterstatters, dass alles nur eine Lüge sei, zuerst gezeigt hatte, dass es draußen keinen Krieg gab. Und, dass die Ansagen der Bunkerführung nur Fake waren. Diese Erkenntnis war der Stein des Anstoßes für ihre Flucht gewesen.
»Ha! Der alte Knacker hat am meisten Kohle mit der ganzen Show verdient. Er war der Produzent, der einfach gerne selbst mal auftrat.« Das schien den Verräter tatsächlich zu amüsieren. »Nach dem Fauxpas mit dem Kriegsberichterstatter wollte er die Serie mit einem großen Finale beenden. Mit euerer Flucht, die Live rund um den Globus übertragen wurde. Und das ist ihm gelungen – dank dir und Cathrine.«
Seine Gedanken rasten. Aber ihm fehlte die Zeit, das Gesagte genauer zu hinterfragen und seine Erinnerungen zu durchforsten, ob er Belege fand, die es bestätigten oder widerlegten. Alles war denkbar und vertrauen konnte er niemandem. Nur eines war klar: Lena und Harris wollten ihn so schnell wie möglich loswerden.
Nur zwanzig, ging immer wieder durch seinen Kopf.
»Was ist mit den anderen?«, hakte er nach. »Und mit denen, die den Bunker verlassen haben? Mit meinen Eltern?«
»Das müsstest du doch am besten wissen. Ihre Erinnerungen wurden gelöscht. Genau wie deine. Sie führen irgendwo hier in Emerald in braves, bürgerliches Leben. Und deine Eltern«, das hämische Grinsen von Harris wuchs in die Breite, denn er wusste, dass er gewonnen hatte, »sind Nachbarn.«
»Nein!« Melvin wollte in den Raum stürmen und ihn schütteln – mit ausgefahrenen Krallen. Nur der Anblick des weinenden und vor Angst zitternden Kims, der sich an die Beine des Verräters presste, hielt ihn davon ab. Wobei ... war es wirklich sein Sohn?
»Doch, doch«, fuhr Harris gelassen fort. »Wir haben uns erst gestern zum Barbecue getroffen. Aber glaub mir, die sind nicht so dumm die Tür ihres Schutzraums zu öffnen. Wusstest du übrigens, dass ...«
»Melvin!« Es war Cathrines Stimme, die leise knisternd aus dem Helm drang, der drei Schritte hinter ihm am Boden lag. »Hörst du mich? Es ist wichtig!«
Unschlüssig warf er einen Blick zurück. Auch der ehemalige Inspektor schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte und verstummte. Sobald er einen Schritt aus der Tür trat, würden sie diese garantiert schließen. Waren Harris Worte wahr? Hatte Lena ihn jahrelang belogen? War sie während seiner Arbeitszeit im Bunker, hier in Emerald mit Kim shoppen gewesen? Schwer vorstellbar. Aber auch nicht undenkbar. Immer wieder gab es damals Phasen, in denen er die beiden ein oder zwei Wochen nicht gesehen hatte. Mal wegen einer ansteckenden Infektion, mal wegen eines Spezialtrainings des Militärs oder wegen seines Schichtdienstes an Versorgungssystemen. Im Nachgang betrachtet, waren das schon seltsame Anlässe gewesen.
»Melvin! Sag was. Dir bleiben nur noch zehn Minuten! Du musst verschwinden«, erscholl erneut die kaum hörbare Stimme.
Auch die Lautsprecherdurchsagen von draußen wurden drängender. Vermutlich wusste die Truppe, dass der Schutzraum offen war und er potenzielle Geiseln hatte. Sobald sich die Tür verschloss, würden sie stürmen. Das war klar.
Aber wieso zehn Minuten? Was hatte Cathrine gemacht oder entdeckt?
Innerlich fluchend sprang er weg von der Tür und zum Helm. Griff ihn sich und hetzte zur Schutzraumtür zurück. Zu spät. Noch bevor er erneut seine Finger in den Spalt stecken konnte, schloss sie sich mit einem endgültigen Klacken. Surrend verriegelten massive Stahlbolzen den Zugang.
Er stülpte sich den Helm über und antwortete: »Cath. Was ist?«
»Du hast neun Minuten, dann bekommen Konrad, Harris und all die anderen Arschlöcher, was sie verdienen. Sieh zu, dass du verschwindest.« Ihre Stimme klang abgehackt, als ob sie gerade rannte.
»Cath. Was hast du getan? Wieso ...?« Noch immer kapierte er nicht, was das sollte, und bewegte sich keinen Millimeter.
»Dort gibt es niemanden zu retten. Das sind alles Schauspieler, die sich eine goldene Nase damit verdient haben, uns auszunutzen und zu quälen und mich zu ... egal. Sie bekommen, was sie schon lange verdient haben. Gleich geht bei dir nebenan eine Bombe hoch und bläst das gesamte Areal in die Hölle, wo es hingehört. Sieh zu, dass du verschwindest. Viel Glück, Melvin.« Mit einem Knacken riss die Funkverbindung ab.
Scheiße. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Deswegen wollte sie sich schon damals einen Weg in den Fake-Bunker sprengen. Und das war der Grund, weshalb sie im Hubschrauber den Abzug gedrückt hatte. Sie wollte sich dafür rächen, was sie unter Harris hatte erdulden müssen. Spätestens, als sie irgendwann erfahren hatte, dass sie zusätzlich lebenslang von eine Gruppe Schauspieler ausgenutzt worden war, musste sie den Plan gefasst haben sich zu rächen. Und als er, Melvin, als scheinbar unbezwingbarer Kampfroboter bei ihr mit der Idee aufschlug, Lena zu retten, war das die perfekte Gelegenheit für sie. Er lenkte die Wachtruppen hier ab und sie platzierte ihre Bombe. Ob er dann Lena und Kim mitbrachte oder nicht, war ihr gleichgültig. Harris hatte die Wahrheit erzählt, Cathrine ging es nur um eines: Ihre Rache.
»Es sind jetzt noch acht Minuten«, schaltete sich nach längerem Schweigen seine KI wieder ein. »Ich vermute, die Bombe befand sich im Rucksack von Aiko. Je nach verwendetem Sprengstoff könnte die Explosion verheerend sein. Sie hat recht, noch hast du genug Zeit, dich in Sicherheit zu bringen.«
Auch er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die ganze verlogene Bande in die Hölle zu blasen. Aber da war Kim. Und seine Eltern, die sich immer liebevoll um ihn gekümmert hatten, bevor sie angeblich zum Militärdienst einberufen worden waren. Egal ob sie Schauspieler waren oder nicht. Und Dutzende andere Kinder und Angehörige hier in der Siedlung, die nichts für die Umtriebe ihrer Eltern und Lebenspartner konnten. Es ging hier nicht darum, sich an den Schauspielern zu rächen. Das war Massenmord an Unschuldigen – und an seinem Sohn. Das konnte und wollte er nicht zulassen – und zu verlieren hatte er schon lange nichts mehr.
Wo könnte also der Rucksack sein? Bei Konrads Haus, um sicherzugehen, dass es ihn auf jeden Fall erwischt?
»Lena! Harris!«, rief er. »Bei Konrad wurde eine Bombe platziert! Wo finde ich sein Haus? Schnell!«
Ein paar Herzschläge erschien es, als würde er keine Antwort erhalten. Dann kam Lenas Stimme aus dem Lautsprecher: »Was?! Direkt nebenan. Das Haus links von uns, Nummer fünfunddreißig. Melvin, was ist los?«
Vorhin war er über das Grundstück gelaufen. Blieb die Frage, wie er an den Wachleuten vorbeikam und wie er die Sprengladung finden sollte.
»Und vor allem, was machst du mit ihr, sobald du sie gefunden hast?«, ergänzte die KI.
Ein Schritt nach dem anderen. Er ging zu einem Fenster und späte durch den Vorhang. Vor dem Haus standen zwei schwarze, gepanzerte Fahrzeuge sowie zwei Dutzend Uniformierte, die ihre Waffen auf das Gebäude gerichtet hatten. Ohne Ablenkung käme er nicht an ihnen vorbei. Ein Schuss würde garantiert seinen Helm durchschlagen. Aber das war eine einfache Übung.
Mit der Hand riss er die Vorhänge runter und zerschlug das Glas. Draußen wurden Rufe laut. Ohne zu zögern, schickte er zwei seiner Mini-Raketen auf die Reise. Eine Sekunde später gingen die Truppentransporter zeitgleich in heftigen Detonationen in Feuerbällen auf. Er selbst sprintete in die entgegengesetzte Richtung durch das Stockwerk. Rannte durch ein Arbeitszimmer auf der abgewendeten Seite des Hauses und sprang krachend durch das Fenster im ersten Stock. Noch im Flug sah er weitere Uniformierte, die, abgelenkt von der Explosion auf der Vorderseite, von seiner Aktion überrascht wurden. Er deckte sie mit hämmernden Salven seiner Sturmgewehre ein, bevor er auf dem Boden aufschlug. Mit einer Schulterrolle nahm er dem Aufschlag die Wucht, federte hoch und schoss weiter, um die Wachen in Deckung zu zwingen.
Die ganze Aktion hatte keine fünf Sekunden gedauert, als er bereits zwischen den Büschen abtauchte, die im hinteren Bereich des Gartens einen Sichtschutz bildeten. Konrads Haus war keine zweihundert Meter entfernt und er hatte einen kleinen Vorsprung gewonnen. Geduckt rannte er in die entsprechende Richtung.
Los, du Scheiß-KI, jetzt sag mir, wo die Bombe sein könnte. Ansonsten erwischt es mich garantiert und es gibt nicht mehr viel, was du dem Militär zurückbringen kannst.
»Anstelle der Terroristen hätte ich sie in einem der Büsche nahe am Haus vergraben. Das würde sicherstellen, dass die Explosion es voll erfasste und gleichzeitig einer versehentlichen Entdeckung vorbeugen«, antwortete sie.
Das klang logisch. Rennend näherte er sich bereits der fraglichen Villa. Noch waren keine Verfolger in der Finsternis zu sehen. Zügig tauchte er in den ersten Busch ab, der nahe der Rückseite stand. Mist. In der Dunkelheit würde er nichts finden und schaltete seine integrierten Taschenlampen ein. Außer dornigem Gestrüpp und braunem Laub war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Mit den Händen wischte er es zur Seite, aber der Boden war unberührt. Also zum Nächsten. Das gleiche Bild. Und weiter. Verflucht. Die Villa war ähnlich ausladend wie die von Lena und Harris. Drumherum standen locker drei Dutzend finstere Gewächse und die Bombe könnte sich genauso gut fünfzig Meter entfernt befinden. Einen Busch nach dem nächsten beleuchtete er ohne Erfolg. Wie viel Zeit war vergangen?
»Du hast noch sechs Minuten«, kam ihm seine innere Stimme zur Hilfe. »Sieh zu, dass du wegrennst und dir Deckung suchst.«
Oh, Mann. Wieder nichts. Auch nicht beim nachfolgenden Busch. Inzwischen hatte er bereits die Hälfte an der Rückseite durch.
Bang! Etwas knallte heftig an seinen Kopf und ließ ihn zu Seite taumeln. Weitere funkenstäubende Einschläge folgten. Die Wachen hatten ihn eingeholt und mit seinen Taschenlampen war er ein leichtes Ziel. Die Kugel war vom Helm abgeprallt, ein direkter Treffer würde ihn vermutlich durchschlagen. Egal. Falls er die Bombe nicht fand, war es eh zu spät. Da konnten sie ihn auch gleich abknallen. Also weiter. Nächster Busch.
Ha, erwischt! Frisch aufgewühlte Erde. Mit der Hand legte er ein Katzenöhrchen frei und zog den Rucksack heraus.
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