Das Mädchen von der U-Bahn
Wenn ich meine Augen schließe und die Stimmen der Menge um mich herum zum Schweigen bringe, kann ich sie immer noch sehen. Dort, auf der anderen Seite der gelblich verblichenen Fensterscheiben der U-Bahn. Direkt vor mir steht ein blondes, ungefähr sieben Jahre altes Mädchen. Ihr zartes Gesicht leuchtet hell über die verwelkten Gestalten der Bettler die sie umgeben. Es scheint als wäre sie sowohl fehl am Platz als auch gerade an der richtigen Stelle; eine Sonnenblume die hoch und üppig in der Mitte des Misthaufens blüht. Sie sieht so ähnlich wie meine liebe Johanna aus.
Ich bin dutzende Male zum Bahnhof zurückgekehrt in der Hoffnung sie wieder zu finden. Verängstigt sie wieder zu finden. Sie könnte ja nur einen verkrüppelten Greis mit schiefgewachsenen Zähnen in mir sehen, der nicht mehr in der Lage ist ohne seinen Stock daher zu humpeln. Ich habe in diesen Tagen viele andere Kinder, viele andere Bettler gesehen. Aber mein blondes Mädchen ist in dem Köpfestrom verschwunden der durch diese Tunnel fließt, bis er sich irgendwann wieder traut das Sonnenlicht zu erblicken oder sich im fettigen Maul des 8-Uhr-Express verliert. Genau so wie meine Johanna vor so vielen Jahren.
Man hört den Schrei eines Kindes. Ich schlag ängstlich meine Augen auf. Neben einem blinden Bettler in einer alten selbstgeflickten Jacke, der seine leere Bohnendose schüttelt in der nur wenige Münzen klimpern; sehe ich zwei Männer in aseptischem Weiß die versuchen einen kleinen Jungen Still zu halten. Des Burschen wilde grüne Augen blitzen zwischen rebellischen braunen Haarlocken kurz auf. Er wirbelt sich in den Armen eines der Männer, die ihn immer noch festhalten, und gräbt seine Zähne in dessen Hand. Ein ohrenbetäubender Schrei reisst durch das vage Gemurmel der restlichen Anwesenden und wiederschalt zwischen den Tunnelwänden der Haltestelle. Für einen Moment blicken alle von ihren Bildschirmen auf und sehen dem Kampf genauso zu wie ich. Aber die Show ist kurzlebig. Der vorher wilde Blick des Jungen erlischt und sein Kopf fällt schlaf auf den Unterarm des Mannes, der ihn jetzt fast zart hält, als ob er ein verlorenes Lamm wäre, das man davor schützen muss unter den Schuhen der Menschenmenge zerdrückt zu werden. Die schlendern ja hin und her ohne darauf zu achten was hinter ihnen passiert. Das Beruhigungsmittel hat begonnen zu wirken. Ich weiß ja das er nicht tot ist. Sieht nur so aus. Trotzdem sorgt sich irgendetwas in mir. Ich stehe von meinem Sitzplatz auf, ignoriere den Schmerz, der durch mein Knie zieht, und hetze zum Ausgang. Jetzt weiß ich wo ich mein Mädchen finden kann. Die Zeit drängt.
"Willkommen, Herr Bäcker. Bitte setzen sie sich für eine Weile in den Warteraum. Sie werden sofort betreut."
Ich gehorche ungern. Die Gummispitze meines Stocks quietscht auf dem weißen Marmor des Flurs. "Die Zuflucht der Verlassenen" ist in großen schwarzen Buchstaben auf der weißen Wand zu lesen. "Kinderschutzheim". Warum haben all diese Anstalten immer ganz ähnliche Namen?
Vor mir stehen eine alte Frau und mehrere junge Männer in der Schlange. Ich spüre wie der kalte Schweiß an meinem Nacken kondensiert und langsam über meinen Rücken fließt. Was ist, wenn einer von ihnen auf sie aufmerksam wird und mitnimmt, bevor ich sie hier rausholen kann? Ich knirsche mit den Zähnen. Nein, nein. Das Mädchen ist und wird mir gehören! Ich werde jeden umbringen der es wagt zwischen uns zu kommen.
"Herr Bäcker?"
Wenn mann die Ohren spitzt und lauscht, sind die aufgeregten Schreie der Kinder zu hören, die durch den Hof rennen. Sogar die dicken Mauern, die mich noch umgeben, können denn Laut nicht ertränken. Und dort, irgendwo in der Mitte dieser Horde, wird mein Mädchen sein. Ich weiß es, ich kann es fühlen.
"Herr Bäcker?"
"Was?"
"Kommen sie, bitte."
Mich erwartet ein Mann mit strohfarbenen Haaren, die nach vorne gekämmt sind um seine beginnende Glatze zu verbergen. Er sieht aus als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen, oder vielleicht sind es diese großen runden Gläser der Brille, die seine Augenringe betonen. Er sieht ja nicht so aus wie ich es mir vorgestellt hatte. Wenn man bedenkt, dass er eine der grössten Institutionen der Stadt leitet. Er steckt in einem viel zu engen Hemd bei dem alle Nähte kurz vor dem platzen sind. Umgeben von einer Wolke, die nach Kiefernlufterfrischer stinkt.
"Willkommen in unserer bescheidenen Unterkunft, Herr ... Bäcker", begrüßt er mich mit erstickter Stimme, ohne mich dabei anzusehen. "Setzen sie sich, setzen sie sich. Wie kann ich ihnen helfen?"
"Ich würde gern ein Mädchen adoptieren."
Der Mann schaut von den Papieren vor ihm auf und sieht mir direkt in die Augen.
"Ich verstehe."
"Ich suche ein kaukasisches Mädchen, blaue Augen, ungefähr..."
"Gut, gut. Sie sollten wissen, dass für die Wahl des Geschlechts und der Rasse des Kindes, das man adoptieren will, eine zusätzliche Gebühr erhoben wird."
"Was?"
"Oh, machen sie sich keine Sorgen, Herr Bäcker. Wenn sie wenig Geld haben, schlage ich ihnen vor ein chinesisches oder schwarzes Kind zu adoptieren. So eines das schon älter als zehn Jahre ist. Oder natürlich eines mit Down-Syndrom oder einer körperlichen Behinderung. Letztere sind kostenlos. Die nimmt sonst niemand. Und seit dem Gesetz 27/2031, über die würdige Behandlung verlassener Säuglinge und ausgesetze Kinder, können wir sie nicht zum Schlachthof schicken. Wenn sie einmal hier sind, können wir außerdem auch nicht zulassen, dass die Verwandten, die sie verlassen haben, oder jemand der sie vorher gekannt hat, sie wieder adoptieren."
"Nein, nein. Ich möchte ein blondes Mädchen mit blauen Augen. Ich kann es mir leisten."
"Wenn es sie nicht stört", zischt der Mann, "lassen sie mich bitte ihre zugelassene Kreditgrenze überprüfen."
"Nein, nein. Machen sie das ruhig."
Ich nähere mich mit meinem Smartphone dem Sensor auf dem Tisch, bis ich den typischen Piepton des Verbindungsaufbaus höre. Der Mann beginnt fieberhaft mit den Fingern auf den Tasten seines Computers einzuhämmern, während ich mit meinen eigenen ungeduldig auf der Tischkante trommle, ohne eine alte schwarzweiße Analoguhr aus dem Jahr 2000 aus den Augen zu verlieren, die die Rückwand ziert und den Rhythmus mit ihrem monotonen Ticken markiert.
"Nun, es scheint, als ob sie sich in einer beneidenswerten Kreditlage befinden." Plötzlich wirkt der Ton des Mannes viel freundlicher. "Sie werden verstehen, dass wir sicherstellen müssen, dass diejenigen, die sich für die Adoption eines unserer Schützlinge interessieren, über ausreichende wirtschaftliche Mittel verfügen um sich ja auch um sie sorgen zu können. Mehr als einmal ist es uns schon passiert, dass wir junge Menschen wieder auf der Gasse aufgetroffen haben, die wir bereits zur Adoption abgegeben hatten."
"Ja, ja, machen sie sich keine Sorgen."
"In diesem Fall gehen sie durch die weiße Tür rechts. Einer unserer Freiwilligen wird auf dem Hof auf sie warten."
Der Flur, den ich entlang humpele, ist genau so düster wie der Rest des Gebäudes. Der einzige Unterschied ist, dass man im Hintergrund das Sonnenlicht wahrnemen kann. Vor ihr zeichnet sich die geschnittene Silhouette einer auch in aseptischem weiß gekleideten Jugendlichen aus, die gelangweilt auf mich warten zu scheint. In der Luft hängt der Gestank nach fermentiertem Kot. Es ist ein dichter, durchdringender Geruch, der sich in die Nasenlöcher rein schleicht, bis man fast bewusstlos umfällt.
"Hallo! Ich heiße Rebecca ", begrüßt sie mich.
"Hallo", murmle ich als Antwort. Während ich meine Nase mit dem Schal bedecke, um zu versuchen das mir nicht schwindelig wird und ich das Frühstück nicht wieder übergebe.
"Oh! Du bist zum ersten Mal hier", bemerkt Rebecca. "Mach dir keine Sorgen, nach einer Weile gewöhnt man sich dran. Komm. Zu laufen wird dir helfen wieder im Kopf klar zu werden. Und es ist ein Stück Weg bis zum Gebäude der jungen Kaukasier."
"Okay. "
Rebecca geht zügig einen Feldweg entlang und ignoriert die Schreie der Kinder, die uns mit neugierigen und ängstlich gehobenen Augenbrauen von hinter den Zäunen ansehen.
"Es tut mir ja so leid, dass wir nicht mehr für sie tun können. Aber es gibt nur zwei Ärzte, vier Krankenschwestern und wir sind nur etwa zwanzig Freiwillige, die regelmäßig hier erscheinen. Und stattdessen gibt es Tausende von Kindern", platzt meine Begleiterin verzweifelt aus, als wollte sie sich für ihr schlechtes Gewissen entschuldigen. "Wir schaffen es kaum, ein Minimum an Ordnung beizubehalten, und sicher zu stellen, dass auch die kleinen Kinder etwas zum fressen erhaschen, und dass die Windeln der Babys gewechselt werden. Und so weiter. Es ist total anstrengend und ich kann es mir außerdem nicht leisten, dass meine Uni-Noten in den Keller fallen, oder mein Vater wird mir komplett verbieten überhaupt zu kommen. Und ich wünschte, ich könnte viel mehr helfen und ich fühle mich schuldig es nicht zu tun, aber ich kann halt nicht."
"Ich verstehe", keuche ich. Es fällt mir schwer dem Schritt der jungen Dame mitzuhalten. Endlich scheint sie es zu bemerken, denn sie bleibt vor einer Kurve stehen und wartet auf mich.
"Meine Klassenkameraden verstehen mich natürlich nicht. Die Wichser! Die kommen nie vorbei. Wir leben in einer seltenen Gesellschaft, meinst du nicht auch? Alle Leute handeln ohne nachzudenken. Sie haben Kinder ohne zu wissen was sie tun oder weil sie denken, dass sie bezaubernd sein werden, wie in diesem einen Spiel, Babygotchi." Sie sieht mich kurz an und schaut dann auf eine Gruppe Kinder zurück. "Wenn sie erkennen, dass ein echtes Kind Zeit und Hingabe braucht, schreit, sauer wird und sich in die Windeln kackt; lassen sie es einfach irgendwo im Straßengraben liegen. Und die Armen kleinen müssen dann zuschauen, wie sich die Scheißeltern, die einst schworen sie immer zu lieben und zu verehren, langsam im Regen verlieren."
"Ja, es ist wirklich traurig."
"Gell?" Zumindest gibt es noch solche Plätze wie hier.
"Ja."
"Oh, versteh mich nicht falsch, dieser Ort macht mich auch krank. Aber hier haben die Armen wenigstens ein Dach überm Kopf um sich vor dem Regen zu schützen, und dreimal am Tag zu essen. Das ist besser als auf der Straße zu streunen."
"Das stimmt."
"Schau, wir sind angekommen." Plötzlich ist ein Geräusch zu hören. Ich wende mich um und sehe einen jungen Blonden, dessen Barthaare immer noch mit den Fingern einer Hand gezählt werden können. Er sieht uns mit düsterem Blick an, und ballt seine Fäuste um die Metallstangen des Zauns, der ungefähr dreißig Kinder im Alter zwischen fünf und fünfzehn Jahren einsperrt. Ich bin enttäuscht, das Mädchen der U-Bahn ist nicht unter ihnen. "Komm rein, komm rein", sagt Rebecca. "Kümmere dich nicht um den da. Er mag es, Besucher zu erschrecken. Die kaukasischen Babys sind in den Räumen dahinter."
"Babys? "
"Ja. Die sind hinten. "
"Nein, nein! Ich will doch gar kein Baby, es muss hier ein Missverständnis geben."
"Ach nein? Entschuldigung, ich dachte... Die meisten die kommen suchen immer Babys von zwei bis drei Jahren. Die gerade schon gelernt haben ohne Windeln auszukommen, aber noch jung genug sind, dass man sie einfach erziehen kann und sie auf dich hören. Normalerweise suchen die Leute das. Du weißt schon." Plötzlich scheint ein Schatten Rebecas Gesicht zu durchdringen. "Oder sie sind auf der Suche nach Mädchen zwischen zwölf und siebzehn Jahren, die gut aussehen. Du bist doch nicht etwa so einer, oder?"
"Nein, nein, ich suche ein Kind ... ich suche so ein sieben oder acht Jahre altes. Ich bin schon zu alt. Meine Zeit Windeln zu wechseln ist längst vorbei. Außerdem möchte ich dass es Erwachsen wird und für sich selbst sorgen kann, bevor ich den Geist aufgebe. "
"Nun, dann schau dir doch einfach diese hübschen hier einmal an und mal sehen ob du den Funken spürst." Wenn Rebecca etwas vermutet, versteckt sie es sehr gut.
Ich lasse meinen Blick zwischen den Anwesenden schweifen und tu so als ob ich wirklich interessiert wäre.
"Na ja, ich weiß nicht, dieser Bursche da hinten spricht mich irgendwie an, aber ich bin nicht wirklich sicher."
"Nehme dir Zeit. Es ist besser das du da ganz sicher bist als dass du ihn uns in zwei Wochen wieder zurückbringst", bemerkt Rebeca.
"Ich weiß nicht, sind das die einzigen Kaukasier, die ihr habt?"
"Ja." Ich fühle wie mir mein Herz in die Schuhe rutscht. "Na ja, nicht wirklich. Es gibt einige Neuankömmlinge, aber die sind immer noch in Quarantäne, bis sie geimpft, entwurmt und so weiter werden. Das Risiko, dass sie eine Krankheit hier rein führen ist halt hoch. Komm, wir können sie uns ja mal anschauen, sie sind im anderen Gebäude gegenüber."
Sobald ich durch die Türschwelle trete, bemerke ich die blonden Locken eines Mädchens, das mit dem Rücken zu uns aus dem Fenster schaut. Mein Herz beginnt wild in meiner Brust zu galoppieren. Es muss sie sein. Johanna! Ich atme ein paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen, damit Rebecca meine Erregung nicht war nimmt. Das kleine Mädchen ist nicht allein. Es gibt noch ein paar andere junge Rotznasen. Einer von ihnen ist an einen Stuhl gefesselt und starrt uns böse an. Ich erkenne ihn als den Jungen, den ich heute Morgen in der U-Bahn gesehen habe. Sie müssen ihn gebracht haben als ich im Empfangsgebäude wartete. Das Mädchen am Fenster dreht sich um sobald es den Klang unserer Schritte war nimmt. Sie ist es! Johanna! Meine kleine Maus, das Licht meines lebens. Mein Schatz! Nein, es ist doch nicht Johanna. Johanna hatte etwas klarere Augen. Blau, aber kalt, klar wie frisches Eis. Die Augen dieses Mädchens sind wie das Meer. Intensiv blau-grün und bodenlos tief. Man könnte in ihnen ertrinken.
Nun, das Mädel gefällt mir auch," räuspere ich mich. "Kann ich ein paar Minuten Zeit haben, um mich zu entscheiden?"
"Ja, ja, natürlich", antwortet Rebecca. "Sie ist doch total süß, oder? Wir haben sie vor einer Woche aus der U-Bahn gerettet. Die Arme hat noch mit niemandem gesprochen."
"Ja."
Sie ist unglaublich schön, ein zartblättriges Schneeglöckchen, das die Kälte durchbricht, eine Frühlingsfee. Unter der Schmutzschicht, die ihr hübsches Gesicht und ihre schlanke Figur trübt, sieht es vielleicht nicht so aus, aber ich kann es schon erkennen. Eines Tages, wenn sie erwachsen wird, werden es auch alle anderen bemerken und versuchen sie mir wegzunehmen. So wie sie mir damals Johanna weggenommen haben. Aber diesmal werden sie es nicht schaffen. Sie wird niemals so heimlich einen scheiß Boyfriend hinter meinem Rücken verstecken; wie damals Johanna. Ich werde dieses Mal schon dafür sorgen.
Es ertönt ein Piepton.
"Hey, tut mir leid, ich weiß, dass ich dir gesagt habe, dass du Zeit hast, aber ich habe gerade ein Whatsapp von meiner Oberseherin bekommen. Wir müssen uns beeilen. Hast du dich schon entschieden?"
"Ja, nein. Ich weiß es nicht. Na ja. Ich glaube ich nehme doch lieber die da."
"Wirklich?"
Ich weiß nicht, ob Rebeca aufgeregt oder besorgt klang.
"Ja."
"Großartig! In diesem Fall können wir sie direkt mitnehmen. Komm, kleine, du hast Glück gehabt. Nicht viele schaffen es in so kurzer Zeit, ein neues Zuhause zu finden."
Das Mädchen durchquert gehorsam den Raum und mustert mich misstrauisch. Wird sie sich erinnern, mich in der U-Bahn gesehen zu haben? Nein, ich kann es ihren Augen sehen, es gibt keinen Schein der Anerkennung. Ich bin sowohl genervt als auch erleichtert. Erleichtert, weil die Worte des Managers dieser Anstalt zum Gesetz 27/2031 immer noch in meinem Kopf schwingen; ärgerlich, weil ich dieses Mädchen wochenlang beobachtet habe und ich nicht glauben kann, dass das völlig unbemerkt geblieben ist. Ich schau zu wie Rebecca die Kleine bei der Hand nimmt und uns beide zurück zum Eingangsgebäude führt. Sie lassen mich fast wieder mit ihrem energischen Schritt zurück.
"Wohin gehen wir?" Fragt das Mädchen plötzlich. Rebecca bleibt überrascht stehen und schaut die kleine an.
"Also du hast dir doch nicht auf die Zunge gebissen, du Schlawinerin! Schau, der Herr Bäcker hat beschlossen dich zu adoptieren. Du wirst in einem richtigen Haus wohnen, Spielzeug haben und zur Schule gehen."
"Lass mich nicht allein", flüstert das Mädchen. Ihre Finger klammern sich um den Arm der Jugendlichen. "Ich möchte hierbleiben."
Nein, nein, Mist! Sie hat mich doch erkannt! Ich muss vor ihren Augen wie einer dieser obsessiven Stalker aussehen, die man Heutzutage überall findet. Nein! Sie darf sich doch nicht vor mir fürchten!
"Hab keine Angst, ich melde mich freiwillig, um dich in deinem neuen Zuhause zu besuchen und zu sehen, dass alles gut läuft", versucht Rebecca sie zu beruhigen. Irgendwo schrillt eine Alarmglocke. Wir setzen den Marsch fort. Aus irgendeinem Grund sagt Rebecca auf dem ganzen Weg zum Büro des Direktors kein einziges Wort mehr.
Ich sitz schon eine Weile am kahlen Tisch und unterschreibe ein Blatt nach dem anderen. Mein neues Mädel hat sich in einer Ecke zusammengerollt und schaut auf die Tür, durch die Rebecca verschwunden ist. Immer noch umhüllt sie ein Schein aus Angst und Resignation, der irgendwas in mir zum splittern bringt. Ich hoffe, dass sie mit der Zeit lernt mir zu vertrauen und mich lieb zu haben, aber jetzt muss ich es erst mal schaffen sie hier raus zu kriegen, bevor noch etwas schiefläuft.
"Sie wissen wohl, dass wir ein Jahr lang regelmäßig bei ihnen vorbeikommen werden, um sicherzustellen, dass das Kind, das wir ihnen zur Adoption übergeben, die Pflege erhält, die sie rechtlich gemäß verdient, und keine Symptome von Ernährungsdefiziten oder Anzeichen von Missbrauch aufweist", bemerkt der Glatzkopf. "Machen sie sich keine Sorgen, reines Protokoll. Wir machen das ja nur, weil das Gesetz uns zwingt. Das ist so wegen dem Skandal mit dieser Mafia, die jugendliche Mädchen adoptierte, um sie später in ihren Clubs auszubeuten. Haben sie bestimmt was von gehört. Kam ja auch in den Nachrichten, die wurden nie erwischt."
"Ja", murmle ich kaum hörbar.
"Sie müssen es auch alle drei Monate hierherbringen, damit unser Arzt es überprüfen und später sterilisieren kann."
"Was? Ist das wirklich nötig?"
"Nun ja, wir müssen halt sicherstellen, dass sie nicht verrückt sind."
"Nein, nein, das mit der Sterilisierung."
"Nun, man könnte eine Ausnahme machen, aber in der Regel sterilisieren wir alle Kinder, weiblichen Geschlechtes, die zu uns kommen. Viele von ihnen landen halt irgendwann wieder auf der Straße und schließen sich anderen streunenden Schafen an. Und sie werden halt mir auch zugeben müssen. Die achten da halt nicht auf was das Gesetz 34/2029 über demografische Kontrolle und Reproduktion bestimmt. Stattdessen brüten diese Weiber wie Kaninchen. Wenn Sie das Mädchen nicht sterilisieren und es aus irgendeinem Grund trächtig wird, müssen sie darauf die Verantwortung übernehmen.
"Ich nehme sie an, ich nehme sie an."
"Nun, in diesem Fall unterschreiben sie bitte auch das hier noch."
Wir sind schon eine Weile in meinem alten schäbigen Audi nach Zuhause unterwegs. Draußen ist ein leichter Herbstnieselregen wie ein Schleier über die eintönigen Gebäude gefallen. Ich schalte die Heizung ein, damit die stickige Feuchtigkeit das Glas nicht beschlägt. Ich weiß nicht richtig was ich sagen soll. Ich bin froh, begeistert, aber gleichzeitig beißt sich die Angst in meine Glieder. Jahre lang habe ich sie gesucht und jetzt, wo ich sie endlich wieder habe, stecken mir die Worte wie ein Kloss im Hals.
"Ich habe dich in der U-Bahn gesehen" flüstert das Mädchen plötzlich in einem kaum merkbaren Hauch. Trotzdem bin ich so erschrocken das ich von Reflex aus Vollgas gebe. Die Reifen quietschen. Ich schaffe es gerade noch wieder zu bremsen und nicht in den Graben rutschen. Hinter uns hupt jemand wütend.
"Ja", murmle ich als ich die Fassung endlich wiedergefunden habe. "Ich bin dir gefolgt, weil du so wie meine Johanna aussiehst. Johanna, die Liebe meines Lebens."
"Bitte tu mir nicht weh."
"Weh? Nein, nein. Beruhige dich, du verstehst mich falsch." Ich schaue auf das Mädchen, das die graue Leere betrachtet, die die Straße vor unseren Nasen auszuspucken scheint während wir uns vorwärtsbewegen, ohne ihren Kopf nur einen einzigen Grad zu drehen. "Ich hatte mal eine Tochter, die hieß Johanna." Ich schalte den Blinker ein, um von der Autobahn in den Außenbezirk, in dem meine Nachbarschaft liegt zu gelangen. Diesmal kommen die Worte allein zu mir. "Wir waren glücklich. Weißt du? Wir waren glücklich... Bis so ein elender junger Scheißkerl in unserem Leben auftauchte und sie mir stahl. Er hat sie geschwängert, der Mistkerl. Weißt du? Nun ja, ich gebe zu das ich total ausgerastet bin." Wir halten vor einer Ampel. Die Stille ist wieder wie ein Grabstein über uns gefallen. "Ich wollte doch gar nicht, dass es so passiert. Ich habe versucht mich zu entschuldigen. Aber sie hörten nicht mehr auf mich. Das letzte Mal, dass ich Johanna gesehen habe, war vor etwas mehr als sieben Jahren an dieser U-Bahn Haltestelle wo du auch immer rumstands. Und, und ich denke du bist meine Enkeltochter." Das Mädchen gibt keine Antwort von sich, nur noch mehr Stille. "Du wirst in Johannas altem Zimmer wohnen. Dass von deiner Mutter. Ist das nicht toll? Darfst auch ruhig mit all ihren Puppen spielen. Und dir wird nie wieder kalt sein. Und du wirst nie wieder Hunger haben."
"Ja, ich ... ich verstehe. Meine letzten Eltern meinten fast dasselbe. Aber ich finde Puppen seit Jahren schon bescheuert."
Es ist wieder still zwischen uns, als gäbe es eine Glaswand, die uns trennt. Ich weiß, dass es irgendwo etwas geben muss, um diese Scheibe zu zerschmettern, ich kann es fast vor meinen Augen sehen, aber ich fühle mich, als wäre dieses etwas außerhalb meiner Reichweite. Wie diese U-Bahn-Sicherheitshämmer, die in ihren Vitrinen ausgestellt sind und uns daran erinnern, dass wir uns manchmal unser Leben selber verkomplizieren. Glasbrechersicherheitshammer, brechen Sie das Glas, um auf den Hammer zuzugreifen.
Vielleicht bin ich ja zum Teil doch selber schuld daran, dass es zu dieser Situation gekommen ist, auch wenn ich nicht wirklich verstehe warum genau. Zumindest würde meine Frau so etwas sagen. Aber die liegt ja schon lange im Grab.
"Und, was ist mit deinen letzten Eltern passiert?" Vielleicht ist fragen der beste Weg, um die Spannung abzubauen. "Haben sie dich etwa verlassen?"
"Nein", murmelt das Mädchen und schaut dabei wieder in die Leere, als würde sie mit niemand und gleichzeitig mit jedem reden. "Ich bin selber abgehauen."
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