Ausnahmezustand in Goose Green
Im Verlauf des Tages bestätigten sich die Informationen über die Lage und den tatsächlichen Ort der Ladung von britischen Kampfverbänden auf der Ost- Falkland- Insel.
Offenbar handelte es sich bei den Kampfhandlungen nahe Darwin um einen sehr geschickt geführten Scheinangriff britischer Spezialkräfte. Der Lärm, das Schießen, die Explosionen- alles Teil einer gelungenen Ablenkung.
Eine Ablenkung, die nicht nur die Argentinier in Goose Green verwirrte und auch für Irritationen der argentinischen Militärleitung in Port Stanley sorgte.
Alle Internierten im Gemeinschaftshaus von Goose Green sahen sich ein Mal mehr als Geiseln des Krieges. Angst um das eigene Leben war in den Räumen spürbar. Kaum ein Gespräch, welches nicht von den Gefahren handelte und den Ereignissen der Nacht.
Diese wortgewaltige Unruhe war es auch, die Meinungen und Forderungen hervorbrachte.
Nunmehr war es für Jedermann offensichtlich- die Vermittlungsbemühungen der UNO in diesem Konflikt waren gescheitert. Die britischen Truppen waren bei San Carlos an Land gekommen und fest entschlossen, diesen Brückenkopf mit ihrem Aufgebot zu halten. Großbritannien würde sich, wie ein Raubtier an der Beute, dort festbeißen. Sollte der Widerstand der argentinischen Truppen dort nachlassen oder gebrochen sein, wird die britische Armee den Brückenkopf erst einmal entfalten und weiter ausbauen. Doch danach- und dies könnte schon bald sein- würde sich das Raubtier von dort erheben und die Kämpfe auf Ost- Falkland richtig entbrennen. Doch wohin wird die britische Armee dann gehen? Direkt auf Port Stanley, um in das Herz der argentinischen Inselverteidigung zu treffen? Oder würden die Briten aus taktischem Grund die eigene Flanke schützen und auf der südlichen Route nach Darwin und Goose Green vorstoßen? Oder beide Richtungen wählen?
Die Landenge hier bei Darwin und das hier geschaffene zweitgrößte Flugfeld in Goose Green waren in jedem Fall ein wichtiges Ziel, wollte man nach Port Stanley vordringen. Dies konnten sicherlich die Militärs auf beiden Seiten auch schnell erkennen.
Dieser 21. Mai 1982 war ein Tag der Entscheidungen.
Im stetigen Betrieb am Flugfeld wurden Flugzeuge betankt, durchgecheckt, aufmunitioniert und wieder in die Luft gebracht.
Gerüchte gingen um. Über die Landung der Briten bei San Carlos, über weitere kleinere Anlandeversuche in der Fox- Bay auf West- Falkland und auch am Grantham Sund auf der Lafonia- Halbinsel, also direkt im Nordwesten von Goose Green.
Den Vorgeschmack des Krieges aus der letzten Nacht - wohl eine britische Aufklärungs- Unternehmung oder ein Ablenkungsmanöver - war bei Jedermann, egal ob Internierter oder argentinischer Soldat noch allgegenwärtig.
Die Internierten im Dorfgemeinschaftshaus hatten Angst. Und sie hatten die Absicht, ihre Bedenken und Ängste auch vorzubringen.
Fünf der über 100 Internierten wurden ausgewählt, das Begehren der Zivilisten und die Befürchtungen an den Kommandanten Del Valle Vazalla vorzutragen. Leutnant Del Valle Vazalla war der Einzige, der sich um die Internierten zu bemühen schien. Und nur er hatte die Entscheidungsgewalt, Anordnungen zu treffen.
Doktor Miller war unter diesen fünf gewählten Personen, ebenso der ältere und besonnene Mister Barlow und eine einheimische Kelper- Frau. Charlotta Obirham und ein vierundzwanzig jähriger Arbeiter einer Woll- Kämmerei aus Port Stanley. Durch Zuruf waren Vorschläge unterbreitet und diskutiert worden in der Versammlung der Internierten im Unterkunftsraum "Zwei" der Männer.
Einmal mehr war Samantha Miller über Charlotta Obirham erstaunt, die Tochter des britischen Soldaten. Noch vor wenigen Monaten hätte Samantha eingeschätzt, das Charlotta niemals in der Lage war, Partei für andere Menschen zu ergreifen und lieber schnell nach England zurück wollte. Nun erlebte Samantha, das Charlotta sich tagsüber für die Frauen und Kinder der Internierten verwendete, nebenbei putzte und in der Küche half. Mehr noch- in diesem Moment brach Charlotta auf, um die Interessen und Sorgen aller armen Seelen hier den argentinischen Militärs vorzutragen.
Sehr nachdrücklich - und durch die Blicke vieler auf dem Flur des Obergeschosses im Nacken unterstützt - bat Dr. Miller den Wachhabenden der Flurwache um eine sofortige Unterredung mit dem Orts- Kommandanten, Herrn Leutnant Del Valle Vazalla.
Eingeschüchtert gab der Argentinier murrend nach und ging in das Untergeschoss hinab. Kurz darauf wurde die Abordnung der Internierten in das Dienstzimmer von Leutnant Del Valle Vazalla gebeten.
"Herr Leutnant. Sie sehen uns als Abordnung der Internierten hier im Gemeinschaftshaus. Die Leute haben Angst. Solang auch dieses Haus hier vom argentinischen Militär genutzt wird- solange bestehen in einem militärischen Konflikt gefahren für das Leib und Leben aller Zivilisten hier im Haus.", erklärte George Miller sachlich.
"Worauf wollen sie hinaus, Doktor?"
"Wir brauchen ein sicheres Quartier!", beantwortete Mister Barlow die Frage, noch bevor George Miller Antwort geben konnte. Mister Barlow brachte es auf den Punkt. "Ein Quartier, was nicht zum Gegenstand britischer Angriffe werden könnte."
"Denken sie nur einmal an den Luftangriff vor einer Woche, Herr Leutnant. Nicht auszudenken, wenn unsere Unterkunft getroffen werden würde. Eine Vielzahl von Zivilisten verwundet- gar getötet. Nicht auszudenken. Selbst wenn es ein Unglücksfall wäre, so wäre dies eine Tragödie.", fügte Charlotta Obirham hinzu, wobei fast alle zustimmend murrten oder nickten.
"Ich verstehe Sie alle- und ihre Sorgen. Auch ich habe darüber schon gegrübelt. Doch die Alternativen hier am Ort sind begrenzt, wie sie alle wissen. Ich kann in Goose bestenfalls die Scheune anbieten, jedoch- dort wird es keine Heizung geben, kein Trinkwasser im Haus, Wind pfeift dort an mehreren Ecken durch die alte Scheune."
Die Kelperin meldete sich zu Wort. "Verzeihen sie den Einwand- aber ich denke, wir alle im Obergeschoss würden lieber dort aus einem Tankzug- Wasser trinken und aufs Behelfs- Closet gehen, als hier vielleicht eine Kugel abzubekommen. Lieber frieren wir dort, als hier vielleicht eine Kugel oder ein Schrapnell abzubekommen."
"Ist dies die Meinung aller?", Leutnant Del Valle Vazalla machte ein fragendes, bedenkliches Gesicht. "Meine Leute könnten Ihnen beim Transport der Feldbetten und ihrer habe dieses Mal nicht helfen. Ich brauche momentan jeden Soldaten! Und sie müssten dort unbewacht bleiben- niemand weiß, wie lange dieser Krieg hier noch andauert!"
"Ja. Alle Internierten hier im Ort denken so.", George Miller brachte es nochmals auf den Punkt. Er versuchte seine Stimme entschlossen klingen zu lassen, um jeden Zweifel hinweg zu wischen.
Leutnant Del Valle Vazalla ging zum Fenster. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte, die Anwesenden ignorierend, hinaus auf die wenigen Häuser von Goose Green, die östlich vom Gemeindehaus an den Sund geschmiegt waren. Keine leichte Entscheidung war hier zu treffen. Dies zeigte der Leutnant auch durch reibende Bewegungen der Daumen an den Zeigefingern seiner Hände.
"Dann machen Sie dies so. Ausnahmslos alle ziehen mit in die Scheune. Und dies sofort. Auch Sie Herr Doktor Miller und ihre Tochter ziehen mit in die Scheune. Die Zeit in Boca House endet heute für Sie. Ich lasse ihre Sachen von dort holen und gleich direkt zur Scheune bringen, sobald sich heute dazu Gelegenheit gibt. Zudem, da dort keine Heizungsmöglichkeiten vorhanden sind, werde ich zusätzliche Wolldecken für Sie im Treppenhaus bereitlegen lassen. Bitte regeln sie diesen Gebäudewechsel so schnell als möglich in eigener Verantwortung. Sollte jemand nicht in der Lage sein, verlegt zu werden, so teilen sie mir dies mit. Dann finden wir auch dafür eine Lösung. Nahe der Scheune sind drei Wohnhäuser. Bitte nutzen sie die Toiletten dann dort mit. Die Küche kann Ihnen zwei Mal pro Tag in Thermophoren Essen und warmen Tee bringen. Mehr kann ich dazu aktuell nicht zusagen."
Mit diesem Statement drehte sich Leutnant Del Valle Vazalla wieder mit Angesicht den fünf Vertretern der Internierten zu. Er nickte dann wortlos.
Obwohl jeder die Worte des argentinischen Kommandanten gehört hatte, so hoffte jeder der Fünf, damit den Wünschen der Leute genüge getan zu haben. Mit diesen Angeboten konnte man auskommen, mehr war sicherlich unter den gegebenen Bedingungen und den Hoffnungen und Absichten der Internierten nicht zu verlangen.
Mister Barlow, als der Älteste in der Runde, nahm sich die Freiheit heraus, ein letztes Wort zu geben. "Mit Verlaub, Herr Leutnant, ich möchte mich auch persönlich bei Ihnen bedanken. Und bitte, vergessen sie uns dort in der Scheune nicht." Ein Lächeln unterstützte seine letzte Aussage.
So wie man sich in den kleinen Raum herein gedrängt hatte, löste sich nun die Gesellschaft zur Tür heraus wieder auf.
George Miller dachte im Moment jedoch auch daran, dass seine wissenschaftlichen Ergebnisse und Messprotokolle noch in dem Versteck in Boca House lagen. An diese Unterlagen würde er nun vorerst nicht persönlich gelangen können. Doch dies war angesichts der Gefahren für Samantha, für ihn selbst und auch die vielen anderen Internierten wohl etwas, was er in Kauf nehmen konnte.
So geschah es, dass binnen weniger Stunden die Internierten selbst all ihr Hab und Gut in die große Feldscheune am Ort brachten und dort das Notwendige für die folgende Zeit vorbereiteten. Es war kalt und sehr beengt, aber es war besser als mit Zielscheiben auf dem Rücken im Gemeinschaftshaus auszuharren.
Am Abend waren auch die zwei Koffer und einige Decken vom Boca House den Millers übergeben worden.
All dies geschah an diesem Tag im Mai unter dem stetigen Donnergrollen in der Ferne und dem Motorengeheul der landenden und startenden Flugzeuge vom Flugfeld in Goose Green.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro